- -
- 100%
- +
„Ist alles in Ordnung?“, fragte seine Assistentin.
„Es geht schon.“ Johnny seufzte. Kaum hörbar setzte er noch einmal an: „Babsi?“
„Ja?“
„Danke.“ Etwas lauter fügte er hinzu: „Und versuchen Sie erst gar nicht, mir zu folgen. Ich höre Sie kommen!“
Johnny zog vorsichtig die Tür hinter sich zu – um sich auf dem Rückweg nicht wieder zu stoßen und nicht weil ihn Babsis Blicke gestört hätten. Er torkelte zum Waschbecken, drehte den Hahn auf und schöpfte sich das angenehm kühle Wasser ins Gesicht. Nachdem er einen großen Schluck getrunken hatte, machte er eine eilige Katzenwäsche und versuchte, mit den feuchten Fingern seine Frisur in Ordnung zu bringen. Er zog sich die Kleidung über und stellte dabei fest, dass auch sein Outfit von Freitag noch auf dem Fliesenboden lag. Erleichtert zog er sein Portemonnaie aus der Hosentasche der Jeans: Die Chipkarte der Krankenkasse würde er brauchen. Er steckte die Geldbörse ein, aber plötzlich ließ ihn etwas innehalten. Er konnte sich nicht erinnern, wann er das letzte Mal das Haus verlassen hatte, ohne einen gründlichen Blick in den Spiegel zu werfen. Bei diesem Gedanken stieg ein beklemmendes Gefühl in Johnny auf. Er ließ die Finger in sein Gesicht wandern, um die vertrauten Konturen zu betasten. Er war immer noch der Alte. Die hellbraunen, mit ein paar Silberfäden durchsetzten Haare fielen ihm in die Stirn, weil er sie nicht geföhnt hatte, aber sie waren auch nicht lichter als gestern, da war er sicher. Er konnte die stoppelige Haut ertasten, die sich über seine Wangenknochen und sein Kinn spannte – die Rasur musste warten. Probeweise verzog er die Lippen zu einem Lächeln, obwohl ihm überhaupt nicht danach zumute war. Die Grübchen saßen an derselben Stelle wie immer. Erleichtert atmete er auf und schüttelte den Kopf über sich selbst. Er war noch genau derselbe Mann. Derselbe gut aussehende Mann, auch wenn er nicht in den Spiegel gucken konnte, um das zu überprüfen.
Was Babsi anging, hatte er ohnehin schon länger den Verdacht, dass sie mehr als nur kollegiale Gefühle für ihn hegte. So wie beinahe alle Frauen, die diese Stelle in der Personalabteilung vorher bekleidet hatten. Im Gegensatz zu Babsi war keine von ihnen lang geblieben. Diese Anziehungskraft musste wohl von der Aura der Autorität ausgehen, die ihn umgab. Trotzdem würde er niemals etwas mit Babsi anfangen: Er pflegte Berufliches und Privates zu trennen. Kein Techtelmechtel im Job. Geschäftsreisen waren die Ausnahme, denn da konnte er sicher sein, seine Begleitung der vergangenen Nacht niemals im Büro wiederzutreffen. Oder überhaupt bei Tageslicht. Die Stadt bot schließlich genügend Möglichkeiten, seine Einsamkeit zu vergessen, wenn sie ihn doch einmal überkam, was selten genug passierte.
Aber von all dem brauchte Babsi nichts zu wissen. Schließlich war er jetzt auf sie angewiesen, wenn er nicht seine Mutter – Gott behüte! – oder seinen Kumpel Dirk anrufen wollte, der irgendwie nicht mehr derselbe war, seit er in den Ehehafen geschippert war.
Johnny hörte, wie Babsi sich räusperte. „Können wir jetzt bitte los? Ich habe heute noch etwas vor.“
Johnny seufzte und schwankte ein paar Schritte durch den Flur, um ihr seine Hand entgegenzustrecken. Aber anstatt sich bei ihm einzuhaken, schloss Babsi die Finger um seinen Unterarm und führte ihn zur Wohnungstür.
„Ein bisschen sanfter bitte“, säuselte Johnny mit gespielter Entrüstung. Den langen Haarsträhnen nach, die seine Wange kitzelten, schüttelte Babsi jetzt gerade den Kopf. „Ich brauche dringend einen neuen Job“, sagte sie halb laut zu sich selbst.
„Wie war das?“ Johnny blieb stehen. „Sagen Sie so etwas nicht! Hinterher landen Sie bei irgendeinem Ekel, das es nur auf Ihren hübschen Hintern abgesehen hat und nicht auf Ihre anderen Qua–“
Johnny spürte ihren wütenden Blick. Er hatte zwar nie sonderlich feine Antennen für zwischenmenschliche Stimmungen besessen, aber hier knisterte die Luft.
„Sie können von Glück reden, dass ich so geduldig bin“, zischte Babsi. „Ich hätte nicht wenig Lust, Sie hier sitzen zu lassen, und was machen Sie dann? Es ist Sonntagabend und zu Hause wartet mein Verlobter mit dem inzwischen kalten Essen, also lassen Sie einfach die blöden Sprüche.“
Johnny erstarrte. Er konnte nicht sagen, was ihn mehr schockierte: dass es schon Abend war und er über vierundzwanzig Stunden geschlafen hatte oder dass Babsi verlobt war. Zwar war ihm nicht entgangen, dass sie in letzter Zeit irgendwie aufgeblüht war, aber ... ein Verlobter? Und er hatte nichts davon gewusst? Nicht zu fassen.
„Sie sind verlobt?“, fragte er, ohne sich Mühe zu geben, die Neugier in seiner Stimme zu verhehlen.
Babsi stieß einen langen Seufzer aus und womöglich verdrehte sie auch die Augen. „Ach, hören Sie bitte auf, sich für mein Privatleben zu interessieren, das kaufe ich Ihnen nicht ab. Wenn Sie nicht so ein –“
Johnny zog erwartungsvoll die Augenbrauen hoch. Vielleicht hatte er es mit seinen Provokationen diesmal doch zu weit getrieben. Keine von Babsis Vorgängerinnen hatte ihn je beleidigt.
„Wenn Sie nicht so mit sich selbst beschäftigt wären, hätten Sie das vielleicht auch mitbekommen.“
Johnny zuckte nonchalant mit den Schultern. „Spätestens wenn sich der ganze Papierkram wegen der Namensänderung auf meinem Schreibtisch gestapelt hätte, wäre es mir schon aufgefallen.“
Babsi öffnete stumm die Wohnungstür und schob ihn umständlich hindurch. Johnny schaffte es gerade noch, in einem Anflug geistiger Gegenwärtigkeit seinen Wohnungsschlüssel vom Haken neben der Tür zu nehmen und einzustecken, dann zog Babsi die Tür hinter ihnen wieder zu. „Das sind bezahlte Überstunden“, sagte sie, bevor sie auf die Ruftaste für den Aufzug drückte, die einen leisen Piepton von sich gab. Johnny überlegte kurz, was er erwidern könnte; aber hier, an der Schwelle, die von seiner gewohnten Umgebung in die ihm neuerdings fremde Welt hinausführte, verging ihm plötzlich die Lust, zu streiten.
Vor dem Aufnahmetresen des Krankenhauses ließ Babsi ihn einfach stehen. „Es tut mir leid, Herr Baumann. Ich wünsche Ihnen alles Gute, aber ich muss jetzt wirklich wieder nach Hause.“
In ihrer gereizten Stimme schwang noch ein anderes Gefühl mit, das dafür sorgte, dass Johnny sich plötzlich wieder wie ein Schuljunge fühlte, der ins Büro des Direktors gerufen worden war. Wieder und wieder huschte ihm derselbe Gedanke durch den Kopf: Scheiße. Diesmal hast du wirklich großen Mist gebaut. Verdammte Scheiße …
„Bitte?“, fragte im nächsten Moment eine kratzige Frauenstimme mittleren Alters. „Wie kann ich Ihnen weiterhelfen?“
Johnny stammelte drauflos und schaffte es irgendwie, der Dame am Tresen zu erklären, weshalb er dort war. Er berichtete von bunten Blitzen, die durch sein Sichtfeld zuckten, von stechenden Kopfschmerzen und dem Wunsch, das Patienten-WC aufzusuchen. Gern in Begleitung, weil er es allein leider nicht finden würde.
Die Rezeptionistin schien etwas überfordert zu sein. Sie gab ein paar undefinierbare, genuschelte Wörter von sich und tippte dann wild auf den Tasten eines Telefons herum, bevor sie mit eindringlicher Stimme eine Stationsschwester herbeirief. Dann ging auf einmal alles ganz schnell: Menschen kamen, fragten Johnny aus, zerrten an ihm herum und ließen ihn wieder allein. „Guten Tag, ich bin Herr Doktor Soundso.“ „Hallo, ziehen Sie sich bitte aus und legen Sie sich hin.“ „Wir machen noch eine Computertomografie, könnten Sie die Uhr ablegen?“ …
Johnnys Kopf schwirrte und er wusste nicht, ob es am Kater lag oder an den Eindrücken, die er kaum zu fassen bekam, weil er in der riesigen Klinik und dem Gewirr aus fremden Stimmen inzwischen jegliche Orientierung verloren hatte. Gut zwei Stunden und etliche Untersuchungen später – er lag in einem Krankenbett und man hatte ihm inzwischen eine Infusion gelegt – fragte ihn jemand, der sich noch nicht einmal richtig vorgestellt hatte, schlicht: „Was haben Sie in den letzten achtundvierzig Stunden gemacht?“
Johnny klopfte mit zitternden Fingern auf die Tischplatte in dem Einzelzimmer, das man ihm kurzerhand zugewiesen hatte. „Wie ich bereits Ihrem Kollegen und dessen Kollegin gesagt habe, bin ich von einer Geschäftsreise zurückgekommen.“
„Wo arbeiten Sie?“
„Im Personalmanagement. Bei Sanacur, einem Pharmaunternehmen.“
„Die Reise war innerhalb Europas?“
„Spanien.“
Sein Gegenüber schien zu überlegen. „Und haben Sie am letzten Abend etwas getrunken?“
Johnny nickte beiläufig.
„Was genau?“
Er seufzte ungeduldig. „Meine Güte, ein paar Drinks eben. Als ob ich mich an jeden einzeln erinnern würde. Wir waren in einer Bar, also … erst Bier, dann ein paar Mojitos oder Caipirinhas und so weiter …“
„Vielleicht auch etwas Selbstgebranntes?“
Johnny schüttelte den Kopf. „Bestimmt nicht, nur das Bier und die Cocktails.“ Angestrengt versuchte er, den letzten Abend noch einmal in Gedanken Revue passieren zu lassen. „Außer –“ Er hielt inne und spürte, wie Wirbel für Wirbel ein eiskalter Schauer seinen Rücken hinunterlief. „Ich war später noch mit einer Frau auf meinem Hotelzimmer, die hatte eine Flasche dabei. Aber fragen Sie mich nicht, was das für ein Zeug war. Korn oder so was.“
Es folgte eine schwere, unheilvolle Stille, die nur von dem Geräusch durchbrochen wurde, das Johnnys nervös trippelnde Finger auf der billigen Pressspanplatte des Tisches verursachten. Es machte ihn wahnsinnig, dass der Arzt schwieg und er ihm nicht einmal ins Gesicht sehen konnte. „Jetzt sagen Sie doch was: Ist das irgendwie wichtig? Und wann bekomme ich endlich die Kopfschmerztablette, die mir die Schwester schon vor einer halben Stunde bringen wollte? Sonst lassen Sie mich wenigstens wieder nach Hause.“
Statt einer Antwort hörte Johnny leise Pieptöne, dann sprach der gesichtslose Arzt eilige Worte – größtenteils unverständlichen Fachjargon – in ein Telefon. „Herr Baumann“, begann er kurz darauf. „Bleiben Sie jetzt bitte ruhig und hören Sie mir gut zu.“
Schlagartig war Johnny hellwach. Er ballte die Finger zur Faust und versuchte sich ganz auf die Worte des anderen Mannes zu konzentrieren. Die Zeit schien für einen kurzen Augenblick stillzustehen. Er konnte seinen eigenen Herzschlag hören und spürte, wie das Blut durch seine Adern rauschte.
„Es ist denkbar, dass Sie eine Methanolvergiftung haben. Wir müssen noch auf einige Testergebnisse warten, aber ich will Ihnen keine falschen Hoffnungen machen.“
Johnny begann, unmerklich zu zittern. Er konnte nicht sagen, ob es an den Kopfschmerzen, an der Erschöpfung oder am Schock lag. Und bevor er eine Gelegenheit hatte, etwas zu erwidern, fuhr der Arzt erbarmungslos fort.
„Wenn Sie vor über achtundvierzig Stunden gepanschten Schnaps getrunken haben, sind die Schäden eventuell nicht mehr reversibel. Ihr Sehnerv ist womöglich geschädigt und es kann sein, dass Sie Ihr Augenlicht selbst bei sofortigem Therapiebeginn nicht zurückgewinnen. Mit Glück haben Ihre Nieren keinen Schaden davongetragen, das werden die Blutwerte zeigen. Wir verlegen Sie gleich in die Klinik für innere Medizin IV, die auf Nierenleiden spezialisiert ist. Dort kann der zuständige Nephrologe über das weitere Vorgehen entscheiden, aber wahrscheinlich ist eine Blutwäsche nötig, um weitere Spätfolgen zu vermeiden.“
Das Zittern wurde stärker und Johnny verbarg sein Gesicht in einer Handfläche. Er spürte, dass der Mann ihm sacht seine Finger auf die Schulter legte, aber die Berührung war so kalt wie das nach Sterilium und Linoleum stinkende Zimmer. „Ein Glas mehr von dem Schnaps und Sie wären jetzt vielleicht nicht mehr hier.“
Johnnys Brustkorb schnürte sich zu. Gleichzeitig schoss das Adrenalin schwindelerregend durch seinen Körper. Er schnappte nach Luft und schüttelte fassungslos den Kopf. Sein bisheriges Leben war zu Ende. Alles rauschte in einem irrsinnigen Kopfkino an ihm vorbei: der Erfolg, das Geld, die Frauen. Ja, er konnte sogar bildhaft vor sich sehen, wie seine Mutter entsetzt die Hände vor das Gesicht schlug und ihre effektvollen Krokodilstränen schluchzte. Ihr Junge, ihr einziges Kind, war ein Krüppel.
In diesem Augenblick wurde die Tür aufgeworfen, Jemand kam eilig herein, vermutlich eine Schwester, und nestelte an seinem Infusionsständer herum.
„Herr Baumann, ich bringe Sie zur Hämodialyse auf die nephrologische Station“, sagte sie.
Johnny setzte sich halb auf. „Kann ich danach wieder nach Hause?“
Die Schwester drückte ihn sanft zurück ins Kissen.
„Vorerst müssen wir Sie stationär aufnehmen“, entgegnete der Arzt. „Es kann einige Tage dauern, bis alle Behandlungen abgeschlossen sind.“
Johnny schnaubte spöttisch und spürte, wie ihm gleichzeitig Tränen in die Augen stiegen. Es dauerte einen Moment, bis er sich gefasst hatte. „Machen Sie von mir aus diese Dialyse oder was auch immer. Und dann will ich einfach nur noch schlafen.“
Die Verlegung und alle folgenden Prozeduren ließ Johnny mit stoischer Ruhe über sich ergehen. Er spürte den kalten Nebel auf seiner Haut und eine übelkeiterregende Alkoholwolke stieg ihm in die Nase, als die Schwester ihm Hals und Brustkorb desinfizierte. Der Nephrologe erklärte ihm, dass man eine örtliche Betäubung für einen zentralen Venenkatheter setzen müsste, um sein Blut möglichst schnell von den schädlichen Stoffen zu reinigen. Johnny nickte stumm. Er fragte nichts mehr und widersprach auch nicht. Er wollte endlich allein sein, um irgendwie zu begreifen, was geschehen war. Einen Schritt nach dem anderen, sagte er sich, obwohl dieser Gedanke ihn kaum beruhigen konnte. Du musst die Zwischenziele im Blick haben – wie beim Projektmanagement. Stell dir vor, es ginge um Geld und nicht etwa um dein eigenes Leben. Er stieß ein höhnisches Lachen aus.
Die Stunden zogen an ihm vorbei, ohne dass er genau verstand, was passierte. Johnny konzentrierte sich nur darauf, ein- und wieder auszuatmen und dabei möglichst nicht nachzudenken.
Nach der Blutwäsche fühlte er sich unendlich müde. Der Arzt fragte ihn, ob er irgendjemanden für ihn anrufen sollte, und Johnny verneinte vehement. Als der Arzt gegangen war, kam der Schlaf endlich tief und erlösend über ihn.
Am nächsten Morgen fragte eine Schwester wieder, ob er jemanden anrufen wolle. Johnny rieb sich stöhnend die Schläfen, ohne die Augen zu öffnen. „In meinem Portemonnaie – ich glaube, es liegt auf dem Nachttisch – sind Visitenkarten. Können Sie bitte meinen Arbeitgeber, Sanacur, benachrichtigen und ihm mitteilen, wie lange ich hier noch bleiben muss?“
„Natürlich.“ Er hörte, wie die Schwester an seiner Geldbörse herumnestelte. „Gibt es … keine Angehörigen, die ich informieren soll?“, fragte sie.
Johnny schüttelte den Kopf. Dann kam ihm ein anderer Gedanke. „Doch: Rufen Sie meine Mutter an. Sie muss den Kater füttern. Die Katze ist alleine in meiner Wohnung.“
„Haben Sie die Nummer für mich?“
Johnny überlegte. „0 … 7 … 61 … “ Er schluckte schwer. Verdammter Mist! Konnte es sein, dass er sich nicht einmal an die Nummer seiner Mutter erinnerte, die sich seit Jahrzehnten nicht geändert hatte und nur aus vier Ziffern bestand? „Sehen Sie in meinem Handy nach. Der Code ist mein Geburtsdatum.“ Zumindest das wusste er noch, auch wenn ihm die genaue Zahlenfolge nicht einfallen wollte.
Keine halbe Stunde später stand seine Mutter im Zimmer. Sie trug schon seit über dreißig Jahren das gleiche Parfum – Opium von Yves Saint Laurent –, sodass er instinktiv aus seinem Dämmerschlaf hochschreckte, sobald sie durch die Tür trat. Sie stellte etwas auf dem Boden ab, vermutlich hatte sie ihm Kleidung mitgebracht, dann umfasste sie sein Gesicht mit beiden Händen und sagte mit leiser, zitternder Stimme: „Oh, mein Junge. Du siehst schrecklich aus. Was hast du nur angestellt?“
Eine Weile saß sie stumm neben seinem Bett und er erkannte nur an ihrem verhaltenen Schluchzen und der aufdringlichen Duftwolke, dass sie noch da war. Seine Zunge fühlte sich plötzlich klebrig und trocken an und der aufdringlich-süße Duft verstärkte das Gefühl noch. Johnny wusste, dass auf dem Nachtschrank ein Wasserglas stand, aber er wollte sich nicht die Blöße geben, sich vor seiner Mutter zu bekleckern. Es war schon demütigend genug, dass sie jetzt hier war und ihn bemitleidete wie ein kleines Kind. Außerdem hatte man ihn wieder an eine Infusion gehängt, sodass sein Körper so oder so mit der nötigen Flüssigkeit versorgt wurde.
„Ich werde jetzt deinen Vater anrufen“, durchbrach Violetta plötzlich das Schweigen, dann hörte er, wie sie in ihrer Handtasche kramte.
Johnny erstarrte. Er hatte fast genauso lange nicht mit seinem Vater gesprochen wie sie. Waren es fünf Jahre oder schon zehn? Ganz sicher wollte er nicht, dass er ihn so sehen konnte. „Das wirst du nicht“, erwiderte er kühl.
Sie schnalzte mit der Zunge. „Junge, sei nicht albern! Er muss doch Bescheid wissen. Bis er von München hier ist, dauert es eine Weile.“
„Ich will ihn nicht sehen.“ Johnny sprach die Worte so hart und entschlossen aus, wie er konnte. Falls sie widersprach, müsste er sich die Infusionsnadel aus dem Arm reißen, aufstehen und sie persönlich aus dem Zimmer begleiten.
Violetta schluchzte leise. „Aber Junge …“
Er schloss die Augen. „Wenn du das nicht akzeptieren kannst, dann geh bitte.“
Seine Mutter erwiderte nichts, aber er hörte, dass sie den Reißverschluss ihrer Tasche wieder zuzog. Dann breitete sich die Stille erdrückend zwischen ihnen aus.
Nach einer Weile räusperte er sich. „Hast du den Kater gefüttert?“
Seine Mutter brauchte einen Moment, bis sie sich gefangen hatte. „Ja, ja … das mache ich nachher gleich. Das mache ich gleich als Erstes.“
Johnny biss die Zähne zusammen. Auf einmal drohte all die Wut, die sich in den letzten Stunden in ihm aufgestaut hatte, über ihm zusammenzubrechen. Wut über die Ungerechtigkeit, dass ausgerechnet ihm so etwas Schreckliches zugestoßen war, Wut über die Ärzte, in deren fremde Hände er sein Leben legen musste, ob er wollte oder nicht. Wut über seine ganze, sinnlose Existenz. Und jetzt auch noch darüber, dass sein Kater, dieses unschuldige Tier, das nichts für Johnnys Dummheit konnte, darunter leiden musste. Er wollte all das am liebsten herausschreien, aber derbe Flüche und zornige Vorwürfe hatten Violetta noch nie beeindruckt. Also tat er, was er schon früher, als Kind, stets getan hatte, wenn sie nicht seiner Meinung gewesen war: Er schluckte die Wut herunter, ignorierte das Gefühl, als sich schmerzhaft sein Magen verkrampfte, und atmete tief ein und wieder aus. Dann sagte er so gefasst wie möglich: „Du musst ihn mit zu dir nehmen. Er frisst nur sein gewohntes Futter, aber im Vorratsschrank in der Küche sollten genügend Dosen sein.“ Es würde mehr als nur ein Bad brauchen, um den Gestank nach Nikotin und teurem Parfum wieder aus dem Fell seines geliebten Tieres zu bekommen – dabei war der Kater wasserscheu.
Violetta seufzte schwer. „Ach, Junge. Die ganzen Katzenhaare überall … du weißt doch, dass ich da manchmal ein bisschen allergisch reagiere.“
„Bitte“, fügte Johnny in flehendem Ton hinzu und deutete ihr Schweigen als Zustimmung. Zu seiner Erleichterung stellte seine Mutter auch keine Fragen mehr. Er war sicher, dass die Ärzte ihr bereits alles gesagt hatten, was es zu wissen gab. Nach einer Weile stand Violetta auf, nahm den Wohnungsschlüssel vom Nachttisch – Johnny konnte hören, wie das Metall auf dem Plastik klirrte – und verabschiedete sich, indem sie unerwartet sanft über seine Wange strich.
Obwohl die Kopfschmerzen allmählich besser wurden und auch die Übelkeit nachließ, verbrachte Johnny den Rest des Morgens wie im Delirium und auch den Nachmittag und den Abend.
Aus den Stunden wurden Tage, in denen seine Gedanken immer wieder um dieselben Dinge kreisten: Er dachte an die Papierberge auf seinem Schreibtisch, die sich inzwischen wohl kaum noch bewältigen ließen, und an die Stellen im Außendienst, die erst einmal unbesetzt bleiben würden. Er dachte an seine Kollegen, die mit einer sonderbaren Mischung aus Sensationslust und Entsetzen über ihn sprechen und für Blumen samt Genesungskarte sammeln würden. Vielleicht waren sie sogar so geistesgegenwärtig, einen duftenden Strauß zu nehmen. Und er dachte an den Kater, der jetzt ein ebenso trostloses Dasein in einer Wohnung im achten Stock eines heruntergekommenen Plattenbaus in Haslach-Weingarten fristete.
Nur selten erlaubte sich Johnny, sich seine Zukunft auszumalen; sich vorzustellen, wie sein Alltag als Blinder überhaupt aussehen würde. Diese Überlegungen drohten ihn jedes Mal zu überwältigen und endeten nicht selten damit, dass er um Luft ringend, panisch und völlig aufgelöst nach der Schwester klingelte. Die gab ihm meist eine Beruhigungsspritze, mit der sich die quälenden Gedanken in einem weißen Nebel auflösten. Manchmal dachte Johnny auch an die dunkelhaarige Frau, die an diesem verhängnisvollen Abend vor zwei – oder drei? – Wochen sein schreckliches Schicksal geteilt hatte, ohne es zu wissen. Dann fragte er sich, ob Chiara, oder Camila, jetzt auch blind war. Aber er glaubte, sich dunkel daran zu erinnern, dass sie im Gegensatz zu ihm selbst nur wenig von dem Schnaps getrunken hatte.
Einmal, als die Sonne durch das geschlossene Fenster in sein Krankenzimmer fiel und kribbelnd seine Haut wärmte, ertappte sich Johnny sogar dabei, an Franzi zu denken und sich zu fragen, was sie sagen würde, wenn sie ihn jetzt so sehen könnte. Je klarer sein Verstand wurde und je besser es ihm nach Meinung der Ärzte ging, desto pathetischer fühlte er sich. Dann endlich, nach schier endlosen Wochen, war der Tag seiner Entlassung gekommen.
„Ich hatte Ihnen ja schon angeboten, dass Sie ein Sozialarbeiter aus unserer Klinik besuchen kann, um die weiteren Anträge zu stellen“, begann der Oberarzt. „Wollen Sie sich das vielleicht noch einmal überlegen?“
Johnny schüttelte den Kopf. Er erinnerte sich vage an das Gespräch. „Danke, aber meine Sekretärin wird sich um den ganzen Papierkram kümmern.“
Der Arzt schwieg einen Moment lang. „Gut. Aber bitte melden Sie sich noch diese Woche bei Ihrem Hausarzt. Die Nachsorgetermine sollten Sie ernst nehmen. Und er wird Sie auch zu den Angeboten beraten, die Sie in Anspruch nehmen können: spezielle Rehabilitationsangebote bei Späterblindung zum Beispiel und natürlich auch psychologische Betreuung.“
Johnny machte eine abweisende Handbewegung. „Ich brauche keinen Psychologen.“ Er stand mit wackeligen Schritten auf. In den letzten Wochen hatte er sein Bett nur für ein paar kurze Spaziergänge im Park des Klinikums verlassen, stets in Begleitung einer Schwester natürlich.
„Die Entlassungspapiere schicken wir direkt an Ihren Hausarzt. Sollen wir jemandem Bescheid geben, der Sie abholen kann?“
„Ich kann meine Mutter selbst anrufen, danke.“
„Möchten Sie, dass eine Schwester Sie ins Foyer bringt?“
Johnny wollte widersprechen. Aber der Wunsch, wieder nach Hause zu kommen, war größer als das bisschen Stolz, das ihm noch geblieben war – und allein würde er sich zweifellos im Irrgarten der Klinikflure verlaufen. Er nickte stumm. Der Arzt drückte auf den Rufknopf und verabschiedete sich.
Als er wieder allein war, zog Johnny sein Handy aus der Hosentasche. „Siri, ruft Violetta an.“ Am Telefon fasste er sich so kurz wie möglich und legte auf, bevor seine Mutter ihn mit neuen Fragen überhäufen konnte. Gleich darauf kam die Schwester herein und begrüßte Johnny freundlich. Für einen Moment atmete er auf.
Schließlich stand er mit der Sporttasche in der Hand im Krankenhausfoyer. Er überlegte, ob er nicht lieber ein Taxi hätte rufen sollen, aber das wäre nur wieder ein Fremder gewesen, der ihn angestarrt hätte; selbst wenn er die brennenden Blicke nicht sehen, sondern nur spüren konnte.
Johnny lauschte auf die automatische Eingangstür, die bei jedem Öffnen und Schließen ein disharmonisches Surren von sich gab. Vermutlich standen hier auch die Aschenbecher, denn eine Nikotinwolke drang zu ihm herüber und er konnte hören, dass sich in ein paar Metern Entfernung jemand unterhielt. Am liebsten wäre er hingegangen, um nach einer Zigarette zu fragen. Das hätte sein miserables Leben wenigstens für einen Moment erträglicher gemacht. „Verdammte Scheiße“, fluchte er leise, aber mit jeder Sekunde wuchs die Gleichgültigkeit, die ihn betäubend umhüllte. Er war Ende dreißig und wartete wie ein Schuljunge, der etwas ausgeheckt hatte, darauf, dass seine Mutter ihn abholte. Es war entwürdigend – und es machte ihm nicht einmal etwas aus.


