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BEA
Endlich war es so weit: Der ältere Mann hielt inne, zumindest für einen Augenblick. Kurz zuvor hatte er sich von dem Eichenpult erhoben – die ausgeblichene schwarze Robe spannte dabei nicht sehr würdevoll an seinem Oberkörper –, um zu verkünden: „Im Namen des Volkes ergeht folgendes Urteil: Die Angeklagte wird für schuldig befunden und zu einer Geldstrafe von 30 Tagessätzen à 20 Euro verurteilt.“
Tabea unterdrückte den Drang, sich eine Haarsträhne aus der feuchten Stirn zu streichen. Jetzt war ihr Einsatz. Auch wenn sie jedes Mal Panik überkam, liebte sie den Augenblick. Die Stille, die nur einen Herzschlag lang andauerte, kurz bevor man das erste Mal zu seinem Publikum sprach. Es war der gleiche vertraute Adrenalinrausch, der sie immer dann durchströmte, wenn sie hinter dem Vorhang hervortrat, auf die Bretter trat, die die Welt bedeuteten. Dabei dachte sie immer nur an den ersten Satz oder das erste Wort. Wenn man einmal angefangen hatte, lief es von allein. Auch wenn das hier eigentlich keine Bühne war.
Sie sah dem Richter in die Augen. Er hatte schon den kleinen Hammer erhoben und der hölzerne Kopf zitterte in der Luft, als sie den Mund öffnete, um zu sprechen. „Ich beantrage, eine Ersatzfreiheitsstrafe anzutreten.“
Aus dem Augenwinkel sah Tabea, dass eine blonde Frau im Publikum zusammenzuckte: ihre Mitbewohnerin Doro. Trotzdem fuhr sie fort: „Auch wenn ich gegen das Gesetz verstoßen habe, bereue ich nichts. Die letzte Wiese auf dem Campus zuzupflastern, war eine Fehlentscheidung. Die Ausbetonierung der begrünten Fläche hat dafür gesorgt, dass die Temperatur in der Innenstadt um circa zwei Grad angestiegen ist und noch weiter ansteigen wird. Aber noch bedenklicher ist die Tatsache, dass die freigelegten Grundmauern der alten Synagoge einfach wieder zugeschüttet werden sollen. Dabei wäre es ein wichtiges Zeichen der Solidarität, dieses Mahnmal der Reichskristallnacht zu würdigen, indem man beispielsweise –“
An diesem Punkt wurde sie von dem weißhaarigen Mann unterbrochen. Er hatte die buschigen Augenbrauen zornig zusammengezogen. „Frau Bach, eine Ersatzfreiheitsstrafe kommt nur bei Zahlungsunfähigkeit infrage. Ihr Anwalt wird Sie dazu beraten. Und die Beweggründe für Ihre … Aktion haben Sie bereits zur Genüge erläutert. Das Urteil ist hiermit verkündet.“ Er schlug seinen Hammer jetzt umso kräftiger auf das Pult. „Ich erkläre die Verhandlung für geschlossen.“
Es hätte schlimmer kommen können. Tabea hatte erwartet, deutlich mehr Spott aus den Worten des Richters herauszuhören. Immerhin hatte sie nicht einfach friedlich mit einem Plakat demonstriert, sondern sich an einen Bagger gekettet, um die Arbeiten auf der Baustelle zu behindern. Insgeheim hoffte sie immer noch, dass ihr Fall vielleicht genügend mediale Aufmerksamkeit bekommen würde, um die Umgestaltung des Campus in letzter Sekunde zu verhindern. Auch wenn ihre Aktion manchen Mitbürgern etwas übertrieben vorkommen musste, ging es für sie um mehr als ein paar hundert Quadratmeter Granit. Sie wollte, dass die Gräueltaten der Nationalsozialisten niemals in Vergessenheit gerieten – und somit auch nicht die Erinnerung an ihren Großvater, den sie nur aus Erzählungen kannte.
Tabea starrte dem Richter trotzig in die Augen und blieb stehen, bis ihr Verteidiger Platz genommen hatte und beharrlich am Ärmel ihres Blazers zupfte. Widerwillig gab sie nach und setzte sich wieder. Ihr Anwalt schob seine Unterlagen zusammen. „Das Urteil war zu erwarten, Frau Bach. Wir besprechen alles Weitere nachher in meinem Büro. Gehen Sie doch erst mal etwas essen.“
Tabea nickte, schüttelte kurz seine Hand und beeilte sich, nach draußen zu kommen. An ein Mittagessen war allerdings nicht zu denken, denn in zwanzig Minuten musste sie im Sprechzimmer von Professor Kohlmeis sein und sie wusste nur zu gut, wie sehr er Unpünktlichkeit verabscheute.
Aber bevor sie durch das Eingangsportal des Amtsgerichts eilen konnte, legte ihr jemand eine Hand auf die Schulter. „Bea!“, zischte eine vertraute Frauenstimme. Im nächsten Moment wurde Tabea in eine ruhige Ecke des Flurs gezogen. „Bist du eigentlich völlig verrückt geworden?“ Doro sah sie eindringlich an. Ihre blauen Augen funkelten wütend. „Du willst wegen ein paar alter Steine in den Knast gehen? Das kann doch nicht dein Ernst sein!“
Tabea versuchte erfolglos, sich aus dem Griff ihrer Freundin zu wenden. „Du weißt, wie wichtig mir das ist.“
Doro verengte skeptisch die Augen. „Ich kann es einfach nicht fassen! Wenn du wenigstens den Schlüssel nicht ins Gebüsch geworfen hättest, wäre die Feuerwehr nicht gerufen worden, um dich loszuschneiden, und es wäre bestimmt auch nicht zur Anklage gekommen.“
„Doro, das bringt doch jetzt nichts. Können wir das später in Ruhe besprechen? Ich muss gleich zur Kohlmeise.“
Ihre Mitbewohnerin ließ sie los und schüttelte nur stumm den Kopf.
In diesem Moment rief jemand vom Saal her ihre Namen: „Bea, Doro!“ Die hohe Stimme des jungen Mannes war Tabea nur zu vertraut. Flüchtig kam ihr der Gedanke, einfach so zu tun, als hätte sie nichts gehört. Aber dann drehte sie sich um und zwang sich, zu lächeln. „Justus! Was machst du denn hier?“
Doro warf Tabea einen bedeutsamen Blick zu, so, als wollte sie sagen: Ist doch offensichtlich, was der hier macht – dasselbe wie in den letzten zwei Monaten. So lange war es her, dass Tabea ihm unter dem Einfluss von einer Menge Alkohol und noch viel mehr Idiotie Hoffnungen gemacht hatte, dass sie jemals mehr sein könnten als Freunde. Und selbst das war schon zu viel gesagt, denn das Einzige, was sie verband, war ihre Leidenschaft für das Studententheater. Später, formte Doro tonlos mit den Lippen, dann drehte sie sich um und eilte über die Vordertreppe aus dem Gebäude. Tabea war sich ziemlich sicher, dass ihre Freundin sie bestrafen wollte, indem sie sie jetzt mit Justus allein ließ. Mit einem Seufzen wandte sie sich wieder zu ihm.
Justus lächelte. „Ich musste doch zu deiner Verhandlung kommen! Du hast dich tapfer geschlagen. Mann, ich glaube, ich habe dich noch nie im Kostüm gesehen …“
Tabea sah an sich herunter. Auch sie hatte sich noch nicht an diesen Anblick gewöhnt. Aber wie hatte ihre Oma immer gesagt? Kleider machen Leute. Und zumindest heute wollte sie einen seriösen Eindruck hinterlassen.
„Jedenfalls finde ich das Strafmaß in deinem Fall völlig überzogen.“ Der Student strich eine blassblonde Locke beiseite, die ihm in die Stirn gefallen war. „Wenn du möchtest, spreche ich mit meinem Vater. Bei der nächsten Kreistagssitzung könnte er vielleicht –“
Tabea holte tief Luft. Die Christdemokraten waren zwar von vorneherein gegen den Umbau des Platzes gewesen, allerdings nur aus finanziellen Gründen. Und auch wenn sie damit Aufmerksamkeit für ihr Anliegen gewinnen könnte, wollte sie sich nur ungern zum Werbeträger in der Wahlkampfkampagne von Justus’ Vater machen lassen, zumal sie bestimmt keine konservative Wählerin war. „Danke für das Angebot, Justus, aber ich habe einen guten Anwalt. Und ich muss jetzt leider los, gleich ist Sprechstunde bei meinem Professor.“
„Verstehe.“ Sein Lächeln verblasste. „Dann wünsche ich dir viel Erfolg. Sehen wir uns Freitag bei der Probe?“
Nachdenklich zog Tabea die Augenbrauen zusammen. „Ich glaube, diese Woche proben wir am Samstag. Lisa ist doch auf einer Exkursion.“
Justus rieb sich demonstrativ das Kinn. „Stimmt, du hast recht. Sollen wir dann vielleicht einen Kaffee trinken oder so? Wir können ja auch noch mal den Text durchgehen –“
„Tut mir leid“, unterbrach sie ihn, „aber ich kann nicht.“
„Die Abschlussarbeit?“ Justus ließ die Schultern hängen.
„Genau.“ Sie lächelte entschuldigend, stammelte eine Verabschiedung und nahm gleich zwei Treppenstufen auf einmal. Die Abschlussarbeit. Und die Tatsache, dass es eine dämliche Idee gewesen war, sich von Lisa dazu überreden zu lassen, das Gretchen zu spielen – obwohl Justus die Rolle des Faust übernahm. Zumindest in der Theorie, denn eigentlich war ihre Version der Tragödie eine recht moderne Adaption. Gedankenverloren eilte sie über den Bürgersteig und schüttelte den Kopf über sich selbst. Wenigstens konnte ihr Tag unmöglich noch schlimmer werden.
Aber diese Ansicht musste Tabea revidieren, als sie vollkommen abgehetzt und fünf Minuten zu spät im Büro ihres Professors stand, der zu ihrer Verwunderung überaus gut gelaunt zu sein schien.
„Ah, Frau Bach, kommen Sie doch herein. Sie sind ja fast pünktlich heute“, stichelte er.
Dass er zu Späßen aufgelegt war, konnte nichts Gutes heißen. Mit einem mulmigen Gefühl im Bauch trat Tabea in das stickige Zimmer, nahm auf dem ihr angebotenen Stuhl Platz und musterte den schon recht betagten Professor. Er hatte seine Hände über dem dunkelroten Pullunder gefaltet, unter dem sich ein Wohlstandsbauch wölbte, und lehnte sich jetzt erwartungsvoll in seinen Freischwinger zurück.
„Leadership 4.0 – Beziehungsarbeit zwischen Führungspersonen und ihren Mitarbeitern im digitalen Zeitalter“, las er den Titel ihres Exposés vor, das samt dem ersten Kapitel vor ihm auf dem Glastisch lag.
Tabea nickte verhalten.
„Wie würden Sie denn selbst die Konzeption Ihrer Arbeit einschätzen, Frau Bach?“
Tabea räusperte sich. Sie hasste solche Fangfragen. „Na ja, ich denke … in Anbetracht dessen, dass es bis zur Abgabe noch fast fünf Wochen sind, komme ich mit meiner Studie gut voran. Mein Praktikumsbericht aus dem letzten Jahr war eine hilfreiche Grundlage, um das Verhalten der führenden Mitarbeiter bei Sanacur wissenschaftlich zu analysieren.“ Zwar hatte sie hauptsächlich Kaffee gekocht und Akten sortiert, aber erstens musste Kohlmeis das nicht wissen und zweitens waren das tatsächlich ideale Voraussetzungen gewesen, um die Mitarbeiter der Firma, allen voran den unausstehlichen Leiter der Personalabteilung, genau zu beobachten.
„Schön und gut“, sagte Kohlmeis kühl. „Es ist auch ein aktuelles Thema, darüber hatten wir ja schon gesprochen. Die Bibliografie scheint mir recht ordentlich zu sein …“ Er blätterte durch die Unterlagen. „Aber jetzt kommen wir mal auf den Punkt: Ich sehe hier keine Eigenleistung.“
Tabea blinzelte und versuchte, sich nicht anmerken zu lassen, dass ihr gerade das Herz in die Hose gerutscht war. „Ich verstehe nicht ganz –“
Kohlmeis begutachtete sie von oben bis unten und schenkte ihr dann ein Lächeln, das irgendwie väterlich wirkte. „Frau Bach, ich mag Sie ja gern. Sie sind immer so fleißig. Und Ihr Engagement für … für …“ Er stockte, zog seine Brille von der Nase und putzte sie am Pullunder ab. „Ihr generelles Engagement in allen Ehren, aber Sie haben nicht mehr allzu viel Zeit bis zum Abgabetermin und wenn Sie bis dahin nicht mehr vorzuweisen haben, muss ich Ihnen leider sagen, dass das nicht genügen wird.“
Tabea spürte, wie ihr ein kalter Schauer über den Rücken lief. War sie hier im falschen Film? Sie hatte ungefähr jede deutsch- und englischsprachige Publikation gewälzt, die es auf dem Gebiet gab, nicht wenige davon sogar zweimal. Was hatte Kohlmeis, der olle Vogel, bloß für ein Problem?
„Wir hatten Ihre Fragestellung besprochen“, sagte er jetzt etwas energischer. „Sie sollten eine Korrelation zwischen den konkreten Führungsstrategien des leitenden Personals und der Motivation und Arbeitsleistung der Mitarbeiter herstellen.“
„Genau das habe ich ja vor“, warf Tabea ein.
„Nein.“ Der Professor nahm die Brille ab, legte sie auf den Tisch und massierte seine buschigen Augenbrauen. „Sie sind da leider auf dem Holzweg.“
Tabea schüttelte wie in Trance den Kopf und holte Luft, um etwas zu erwidern, obwohl sie nicht die geringste Ahnung hatte, was da gerade passierte. Aber in diesem Moment hob Kohlmeis mahnend eine Hand.
„Die persönliche Komponente fehlt gänzlich. Dass die Psychologie eine Wissenschaft ist, die sich mit dem Seelenleben des Menschen befasst, brauche ich Ihnen wohl nicht zu erklären. Dieser Herr …“ Er blätterte hektisch durch die Unterlagen. „Dieser Herr …“
„Baumann“, bemerkte sie trocken. „Johannes Baumann, der Leiter der Personalabteilung. Meinen Sie den?“
„Genau. Also, dieser Herr Baumann, was ist das für ein Mensch?“
Kohlmeis hatte seine Brille wieder aufgesetzt und senkte den Kopf ein wenig, um sie über die dicken Gläser hinweg anzusehen. „Sie haben den armen Mann ja förmlich als Ungeheuer dargestellt.“ Er schmunzelte. „Ein Chef, wie er im Buche steht. Aber warum, frage ich mich? Wie tickt dieser Mann ganz persönlich? Und wo könnte man ansetzen, um ihn zu wertorientierter Führung zu veranlassen? Was sind Ihre Schlüsse, Frau Bach, und was ist Ihr Erkenntnisgewinn?“
Ihr Erkenntnisgewinn? Wut stieg in Tabea auf und brannte in ihrer Kehle. Oh, sie hatte in diesen vier Wochen im letzten Herbst ganz gewiss eine Erkenntnis gewonnen: dass Johannes Baumann ein Mensch war, dem sie nie wieder begegnen wollte. Dabei konnte sie sich nicht einmal erinnern, ob er mehr als ein paar Worte mit ihr gewechselt hatte. Wahrscheinlich nicht, denn er war sehr beschäftigt damit gewesen, seine Mitarbeiter in Schach zu halten – allen voran die arme Barbara, die von ihm fast im Minutentakt getriezt worden war. Babsi, wo kommt das Chaos auf meinem Schreibtisch schon wieder her? Das gehört in die Ablage! Ach, heute mal im Rollkragenpullover – wollen Sie sich für die Außendienststelle in Sibirien bewerben? Und was sollen diese Hieroglyphen in meinem Terminkalender heißen, habe ich etwa um zehn ein Treffen mit dem ägyptischen Museum?
Wie dieser Mensch ganz persönlich tickte? Nein danke, das interessierte sie nicht die Bohne.
Prof. Dr. Kohlmeis ordnete die Blätter ihrer Arbeit fein säuberlich auf dem Tisch, ehe er sie beiseite legte.
Allmählich schien er Mitleid mit ihr zu haben, denn sein Blick wurde sanfter. „Nun gut. Mein Vorschlag wäre, dass Sie einen Persönlichkeitstest durchführen, um die Verhaltensmuster dieses Herrn Baumann detaillierter zu beschreiben. Ich dachte zum Beispiel an das FPI. Sie wissen, was ich meine?“
Tatsächlich erinnerte sich Tabea an das Freiburger Persönlichkeitsinventar, von dem sie das erste Mal in einer Überblicksvorlesung zu Beginn ihres Studiums gehört hatte. Das inzwischen etwas veraltete Verfahren funktionierte mit einem Katalog aus 138 Fragen. Das waren 138 Fragen mehr, als sie Johannes Baumann jemals stellen wollte. „Vielen Dank für die Anregung, Prof. Dr. Kohlmeis. Ich bezweifle allerdings, dass Herr Baumann für ein Interview oder gar einen psychologischen Test zur Verfügung stehen wird.“
Kohlmeis streckte die offenen Handflächen von sich und zuckte mit den Schultern. „Mit Verlaub, Frau Bach, das ist Ihr Problem.“ Er zog eine Augenbraue hoch, ließ seinen Blick noch einmal an ihr hinuntergleiten und ergänzte dann: „Gehen Sie nicht so viel auf Demonstrationen und dergleichen. Setzen Sie sich lieber an Ihren Schreibtisch. Das neue Kapitel können Sie mir ja per E-Mail zukommen lassen. So, jetzt muss ich los, bevor die Mensa schließt.“
Er erhob sich schwerfällig aus seinem Stuhl, drückte kurz und kräftig ihre Hand und bedeutete ihr mit einer Geste, das Zimmer zu verlassen.
Tabea wollte erwidern, dass sie nicht auf einer Demonstration gewesen war – zumindest nicht in den letzten zwei Wochen –, aber der Professor war bereits vorausgegangen und wackelte ungeduldig mit dem Büroschlüssel, den er in seiner Rechten hielt.
So freundlich, wie es ihr Stolz zuließ, murmelte sie ein Dankeschön, nickte ihm zu und lief den schmalen Korridor entlang, ohne sich noch einmal umzudrehen. Ein psychologischer Test mit dem größten Misanthropen des Jahrhunderts: Das konnte ja nur schiefgehen.
JOHNNY
Violetta legte ihre Finger fest um Johnnys Arm. Die langen Nägel kratzten auf seiner Haut. Trotzdem wartete er stoisch, bis sich endlich die Tür des Fahrstuhls schloss. Eine dichte Wolke aus Parfum und Nikotin erfüllte die enge Kabine und schien ihm die Luft zum Atmen zu nehmen. Johnny spürte, wie der Kragen ihrer Lederjacke seinen Arm streifte. Er selbst schwitzte bei den hochsommerlichen Temperaturen, die in diesem Juni herrschten, obwohl er nur ein T-Shirt trug.
„Mutter“, versuchte er es noch einmal. „Ich hatte dich gebeten, mich nach Hause zu bringen.“
„Ich weiß.“ Sie stieß einen langen Seufzer aus. „Aber ist es nicht besser, wenn du erst mal mit zu mir kommst?“ Sie ließ seinen Arm nicht los. „Ich kümmere mich doch jetzt um dich. Ich kann einfach nicht glauben, dass mein armer Junge –“
„Sicher ist dir nicht entgangen, dass ich inzwischen ein erwachsener Mann bin.“
Darauf antwortete Violetta nur mit einem unterdrückten Schluchzen und Johnny war erleichtert, als sich die Fahrstuhltür surrend wieder öffnete.
Seine Mutter ging energisch voran und führte ihn in ihre Dreizimmerwohnung mit Blick über die Stadtteile Haslach und Weingarten, auch bekannt als Ha-Wei oder Hawaii. Ein knarzendes Geräusch zeigte Johnny, dass sie gerade einen ihrer Louis-XVI-Stühle vom Esstisch zog, und schon drückte sie ihn beherzt auf das weiche Polster. „Ich koche einen Kaffee. Du möchtest doch einen Kaffee?“, fragte sie mit zittriger Stimme, während sie den Glasschrank öffnete, in dem ihr Gin stand. Das Scharnier quietschte schon seit Ewigkeiten.
„Ich kann hören, dass du an der Vitrine bist. Schenk mir bitte auch einen ein.“ Erschöpft ließ Johnny den Kopf gegen die Lehne sacken. „Ach, was soll’s, gib mir einfach die Flasche rüber!“
Violetta seufzte. „Auf keinen Fall. Ich glaube nicht, dass es in deiner momentanen Verfassung –“
„Mutter, ich bin nicht sterbenskrank.“
Jetzt stieß sie ein empörtes Schnauben aus. „Ha! Du tust ja so, als wäre das gar nichts … Ich kenne dich, mein Junge, du brauchst dich nicht zu verstellen. Lass es einfach raus.“
Johnny kniff die Augen zusammen und schüttelte den Kopf. Wenn seine Mutter so weitermachte, würden sich bald die Kopfschmerzen wieder melden. Er spürte schon ein unangenehmes Pochen hinter seinen Schläfen. Wieso, verdammt noch mal, hatte er sich kein Taxi gerufen? Konnte es sein, dass er irgendwo tief im Unterbewusstsein doch das Bedürfnis verspürte, sich von seiner Mutter trösten zu lassen wie ein kleiner Junge, der sich die Knie aufgeschlagen hatte? Die Vorstellung war absurd. Als er sie das letzte Mal gesehen hatte, vor ein oder zwei Monaten, hatte sie auf ihrem Samtsofa gesessen und ihn mit großen Augen angestarrt wie ein kleines Mädchen. Abgesehen davon, dass kleine Mädchen normalerweise keine Zigarillos rauchten. Dieser Bürokram macht mich ganz krank und du weißt doch, wie das geht! Der Steuerberater will Unsummen von mir, dabei habe ich es schwer genug. So ist das eben, wenn man allein ist. Aber ich habe mir immer zu helfen gewusst, seit mich dein Vater damals ...
Dann hatte sie wieder die alte Geschichte ausgegraben, darüber, dass sein Vater sie einfach weggeworfen hatte wie eine leere Zigarettenschachtel. Er war Bürgermeister von Haslach gewesen und sie folglich beinahe die First Lady of Hawaii, hätte er nicht im letzten Moment kalte Füße bekommen. Aber obwohl sein Vater sie schwanger und mittellos zurückgelassen hatte und sich seine Mutter seitdem mit einem Job im Callcenter durchschlug, war Violetta zufrieden, solange sie über ihr schweres Los jammern konnte. Und jetzt hatte ihr das Schicksal auch noch einen blinden Jungen aufgebürdet.
Johnny überlegte, ob er später ein Schlafmittel nehmen sollte, damit wenigstens diese Grübeleien aufhörten. Aber zusammen mit dem Alkohol? Andererseits: Was sollte denn passieren? Er spannte den Unterkiefer an. „Jetzt gib schon den Gin her!“
Zu seiner Erleichterung kam Violetta der Forderung nach. Johnny setzte die Flasche an die Lippen, aber allein von dem Geruch wurde ihm speiübel. Was machte er da bloß? Er musste in die Firma! Bestimmt wartete dort das reinste Chaos auf ihn. Wenn er im Krankenhaus mit Babsi telefoniert hatte, hatte er nichts als freundliche Genesungswünsche aus ihr herausbekommen. Es wurde Zeit, dass er sich selbst ein Bild von der Lage machte!
In diesem Moment setzte sich seine Mutter neben ihn an den Tisch. „Junge, stell die Flasche weg“, forderte sie. „Das ist nicht gut für deine … deine Nieren.“ Anscheinend hatte sie mit den Ärzten geredet. „Du weißt, dass du in ein paar Tagen zur Nachsorge musst, und bis dahin solltest du wirklich keinen Alkohol trinken!“
Bei diesen Worten waberte der Gestank nach Vanille und Nikotin noch eindringlicher zu Johnny herüber. Seine Mutter rauchte wie ein Schlot, wenn sie nervös war. Die Tatsache, dass ihr einziges Kind, ihr Vorzeigesohn, jetzt ein Wrack war, schien an ihrem ohnehin nicht sehr stabilen Nervenkostüm zu nagen. „Und du solltest nicht so viel rauchen, schon gar nicht in der Wohnung!“ Er tastete mit der rechten Hand nach der Tischplatte und stellte die Flasche vor sich ab.
„Wenn du wieder hier eingezogen bist, wirst du dich daran gewöhnen müssen“, gab sie kühl zurück.
Johnnys Puls beschleunigte sich und er sprang hastig auf. Er konnte spüren, dass der Stuhl, auf dem er eben noch gesessen hatte, bedrohlich wackelte. „Wie bitte?“
„Na, allein kannst du wohl kaum bleiben. Und die große Wohnung in der Wiehre wird auf Dauer auch zu teuer sein, wenn du nicht mehr arbeitest.“
„Ich fahre jetzt nach Hause“, erwiderte Johnny kühl. Es kostete ihn alle Kraft, nicht die Beherrschung zu verlieren.
Auch Violetta klang gereizt. „Junge! Wir müssen über deine Zukunft sprechen. Wie stellst du dir das überhaupt vor?“
„Einen Scheiß muss ich!“ Verzweifelt tastete sich Johnny an dem schmalen Bartresen entlang, um zur Wohnungstür zu gelangen.
„Rede nicht so mit mir.“ Violettas Stimme zitterte. Er hörte, dass sie aufstand, um ihm zu folgen. Ehe er an der Tür war, packten ihn ihre Finger am Arm. Sie zog ihn zu sich und legte ihren Kopf auf seine Schulter. Der Zigarettenrauch stieg heiß neben seinem Gesicht auf und ihr Schluchzen dröhnte in seinen Ohren.
„Entschuldige“, presste er leise hervor.
„Bleib doch erst mal hier. Du kannst im Kinderzimmer schlafen. Musst du noch deine Sachen holen? Ich rufe dir ein Taxi, aber verabschiede dich vernünftig von deiner Mutter.“
Zögerlich legte Johnny eine Hand auf ihre Schulter. Die Vorstellung, wieder bei seiner Mutter einzuziehen, lähmte seine Gedanken viel mehr als der Schock, unter dem er noch immer stand. Aber er wusste, dass sie recht hatte: Es war, zumindest im Moment, das Beste. „Schon gut“, sagte er. „Bis später, Mutter.“
Mit diesen Worten löste er sich von ihr und tastete nach dem Türgriff. Das Metall lag angenehm kühl in seiner Handfläche. Die Wohnungstür fiel lautstark ins Schloss.
Johnny tastete sich eilig ein paar Meter an der Wand entlang, dann blieb er stehen. Endlich frische Luft. So frisch, wie die Luft im fünften Stock eines Achtzigerjahre-Plattenbaus in Haslach-Weingarten eben sein konnte. Und trotzdem war das jetzt alles, was ihm noch blieb. Seine Mutter hatte ausgesprochen, was er insgeheim schon seit seinem ersten Tag im Krankenhaus wusste – dass sein altes Leben vorbei war. Aber erst jetzt spürte er, wie ihm diese Gewissheit unerträglich langsam und beständig die Kehle zuschnürte.
Die folgenden Tage waren die Hölle: mit dem Kater und seiner Mutter eingepfercht in der viel zu kleinen Wohnung, mitten im Hochsommer. Er teilte sich das schmale Jugendbett mit dem Kater, umgeben von stummen Zeugen seiner Kindheit – Actionfiguren der Teenage Mutant Hero Turtles und Kassetten für den Walkman. Das Bett verließ er nur, um auf die Toilette zu gehen oder etwas zu essen, obwohl er Letzteres meist auch im Bett tat. Und natürlich, um notgedrungen den Termin bei seiner charmanten Hausärztin wahrzunehmen. Jetzt schien sie allerdings nicht mehr so charmant zu sein. Sie überprüfte seine Blutwerte, die wohl nicht allzu schlecht waren, und versuchte, ihn von allerlei Therapien und Maßnahmen zu überzeugen. Aber Johnny wollte davon nichts wissen und sagte nicht viel außer: Jaja, meine Mutter kümmert sich darum.
Anfangs las Violetta ihm ständig aus medizinischen Ratgebern oder von irgendwelchen Wunderheilern vor. Sie ging allmählich dazu über, ihn wieder zu umsorgen wie ein Baby, indem sie sein Essen kochte, seine Wäsche wusch, ihm jeden Morgen den Bart trimmte und ihm die Hemden zuknöpfte. So, als wäre er dazu nicht selbst in der Lage. Es war schrecklich, aber Johnny fehlte die Kraft zum Widersprechen. Ab und zu stellte er sich sogar vor, wie es gewesen wäre, wenn er einfach noch ein paar Schlucke mehr von dem Schnaps getrunken hätte. Dann wäre ihm dieses Elend erspart geblieben.


