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Wieder folgte das Beifall-Ritual.
Wie an jedem Morgen fand die Python kein Ende, während sie von den heroischen und tapferen Taten europäischer Jungspunde berichtete.
Oft redeten Simo und Paul im Versteck über das Gefasel der Rottenführerin. Pauls leiblicher Vater Jonathan hatte dem Sohn vor langer Zeit von all den Lügen der EDR-Regenten berichtet, denn dessen Großvater hatte vor ewigen Zeiten den Beginn des Dritten Weltkrieges miterlebt und alles Mögliche dazu geschrieben und gespeichert. In den Weiten der russischen Ebenen, so meinte Paul, hielten sich viele Tausend ungechippte Menschen versteckt. Eines Tages würden sie die EDR-Sklavenhalter und -Mörder auslöschen. Paul hatte sein gesamtes Wissen an Simo weitergegeben, denn einem anderen vertraute er nicht. Nicht mal 06-Spund-Mich, einem Räudiger, der gerade erst acht geworden war und seitdem unter dem Schutz von Paul und Simo stand, weil die Educares Levi und Flor den Winzling zugrunde richten wollten.
*
Alles hatte damit begonnen, dass amerikanische, chinesische, englische, französische, australische und deutsche Truppen nach zahlreichen islamisch motivierten Anschlägen in deren Ländern zu einem gemeinsamen Schlag gegen die morgenländischen Märtyrer ausholten. Flächenbombardements auf dicht besiedelte islamische Städte sollten den Kampfeswillen der Andersgläubigen brechen. Die versprengten morgenländischen Armeen griffen nicht sofort an, sondern wurden im Nahen Osten zu einem gewaltigen Heer zusammengezogen. Gleichzeitig ließen unzählige Untergrundattentate die Kontinente Australien, Nordamerika und Europa brennen. Islamische Führer aus Pakistan, Afghanistan und anderen Ländern suchten den Ausweg nach Osten, andere wollten die Waffenbestände des kleinen israelischen Staates übernehmen. Es kam zu zahlreichen regionalen Kriegen und mehreren Ultimaten, die sich diverse Regierungen gegenseitig setzten, bestimmte Aggressionen sofort zu beenden. Kein Ultimatum wurde je eingehalten! Fast gleichzeitig detonierten pakistanische und israelische Atomsprengköpfe. Die einen in Millionenmetropolen Indiens und Chinas, die anderen in dicht besiedelten Regionen Nordafrikas und im Nahen Osten. Das schwer erschütterte China holte zu einem gewaltigen atomaren Gegenschlag aus.
Ein bedeutendes Land in Europa und Asien war Russland. Dessen Führung hielt lange still, wurde jedoch durch den Niedergang Chinas unter Druck gebracht und setzte atomar bewaffnete Truppen in südlicher Richtung in Bewegung. Das empfanden die Amerikaner als Bedrohung und sie stellten den Russen ein Ultimatum. Währenddessen brodelte es bereits zwischen Japan und Nordamerika. Die rechtsradikale japanische Regierung schlug überraschend hart zu, rächte sich am amerikanischen Volk für die atomare Schmach im Zweiten Weltkrieg. Das Abwehrsystem der Amerikaner versagte komplett, der größte Teil war ohnehin in Westeuropa installiert, um die Russen in Schach zu halten. Fast jede größere amerikanische Stadt wurde mit Atomsprengköpfen beschossen. Den Amerikanern reichte die verbleibende Zeit nur dazu, die eigenen Atomwaffen auf den tödlichen Weg zu bringen.
Weite Teile der Erde wurden unbewohnbar, doch keineswegs sorgte dies für ein Ende des Krieges, obwohl sich das gemeine Volk aller Länder ein Aufatmen wünschte.
Die islamischen Führer erbeuteten Atomwaffen in Israel und in den Mittelmeeranrainerstaaten und setzten Wochen später Australien ein Ultimatum, da die Australier noch immer vehement den Islam zu vernichten versuchten. Die Russische Armee hatte in der Zwischenzeit große Stücke Asiens gesichert, Russland, Japan und die westlichen europäischen Staaten schlossen einen Nichtangriffspakt. Quer durch Europa und Asien verlief eine beidseitig gesicherte Frontlinie. Im Süden schlossen sich zahlreiche Regierungen und Stammesfürsten zusammen. Sie gründeten das Großkalifat Islamisches Morgenland (IML).
Im sogenannten Känguru-Krieg, der nur vier Wochen andauerte, überfiel die Morgenlandarmee Australien und tötete dort mehr als 23 Millionen Menschen. Nur ein Prozent der Australier konnte sich retten.
In den darauf folgenden Monaten einer spannungsgeladenen Ruhe wurde vor allem die Rüstungsproduktion der gesamten Welt angekurbelt.
Dann erfolgte der Versuch eines weiteren Großangriffs der Europäer per Luftschlag auf das Gebiet der IML, der jedoch in einem unbeschreiblichen Fiasko endete, denn die Geschosse der Flug- und Raketenabwehrstellungen der neuen Morgenlandarmee (MLA) ließen kaum noch Platz zum Fliegen. Nach der Zerstörung vieler ihrer Bomber kam es zu einem atomaren Raketenangriff der Europäer und einem sofortigen gemeinsamen Gegenschlag aus dem Großkalifat IML und durch die Russen, die den Nichtangriffspakt mit dem westlichen Europa brachen. Mehrere europäische Großstädte wie Wien, Budapest, Bern, Berlin, Warschau, München oder Prag versanken in Schutt und Asche, ganze Landstriche wurden verseucht.
Rund um das Mittelmeer entfachte ein Bodenkampf, der im Laufe der Jahre mehr als zwei Milliarden Menschen das Leben kostete und die breite Todeszone entlang der Frontlinie nördlich des Mittelmeeres entstehen ließ.
Erneut folgte ein nie vereinbarter Waffenstillstand, der immerhin zwei Jahre andauerte. Während dieser Zeit wurden praktisch nur noch Handfeuerwaffen und leicht gepanzerte Transportfahrzeuge produziert.
Die bisherigen weltweiten Nebenwirkungen des Dritten Weltkrieges waren erheblich. Rasch sank die Geburtenrate. Die Ressourcenverteilung erwies sich als äußerst ungünstig, denn im Norden gab es industrielle Anlagen, doch es fehlte an Rohstoffen, und im Süden gab es Rohstoffe, jedoch kaum Industrie. Krankheiten unbekannten Ausmaßes griffen um sich, unter anderem der »Superkrebs«, Männer wurden knapp. Auf der internationalen Raumstation verhungerten die letzten sieben Astronauten. Unablässig heulten in Europa die Sirenen. Nicht wegen der ausbleibenden Luftangriffe der MLA, sondern stets dann, wenn die Wetterlage radioaktiv verseuchte Luftschichten und den dazugehörigen Regen brachte. Hunger und Armut sorgten vielerorts für Aufstände gegen die verbliebenen Regierungen. Die schwersten Unruhen fanden in Russland und den angrenzenden Staaten statt. Die russische Armee drängte die Aufständischen in die Wälder am Ural zurück, sodass entlang des Flusses und des gleichnamigen Gebirges eine weitere Frontlinie entstand.
Ausgerechnet während des ohnehin brisanten Zustandes kam es zu einer weiteren Katastrophe apokalyptischen Ausmaßes. Ursache waren extrem starke Bewegungen der tektonischen Platten in der Lithosphäre, die in der Umgebung von Japan aufeinandertrafen. Die stärksten Erdbeben seit Menschengedenken ließen fast alle japanischen Inseln im Meer verschwinden. Tsunami und steigende Wasserstände überschwemmten große Teile Asiens und Nordamerikas und veränderten das Weltklima nachhaltig, denn die Temperaturen sanken überraschend schnell. Opferzahlen konnten nicht genannt werden. Ein paar verbliebene Wissenschaftler verzeichneten jedoch insgesamt eine leichte Erholung der Erde. Häufigkeit und Stärke von Unwetterkatastrophen nahmen ab, das Poleis wieder zu, was an den rückgängigen Bevölkerungszahlen und dem Niedergang der Industrie gelegen haben durfte.
Dieser Fakt hielt die Regierungen der verbliebenen Völker jedoch keineswegs davon ab, den Dritten Weltkrieg nach einer durch die Natur aufgezwungenen Erholungspause fortzusetzen.
Ein perfider Plan des Großkalifen ließ mehrere Tausend zivile Flugzeuge gleichzeitig gen Norden starten – vollgepackt mit einer Fracht aus Bomben, Granaten und chemischen Kampfmitteln. Die Selbstmordbesatzungen leisteten ganze Arbeit, mehr als 70 Prozent von ihnen durchdrangen die löchrige Luftabwehrlinie des Nordens. Erstaunlicherweise hatte es die Morgenlandarmee diesmal auf zivile und industrielle Einrichtungen abgesehen. Mit perfider Genauigkeit wurden Kraftwerke – darunter auch Atomkraftwerke – sowie große industrielle und militärische Anlagen vernichtet. Kurz darauf übernahm die Morgenlandarmee den kompletten südamerikanischen Kontinent. Die meisten dortigen Regenten ergaben sich der Übermacht. Es waren kaum Kampfhandlungen zu verzeichnen, und doch starben von den 400 Millionen Menschen fast 80 Prozent in Vernichtungsfabriken des Großkalifats.
Da große Truppenteile der MLA nicht zugegen waren, erfolgte die taktisch klug getimte »Operation Sturmfeuer« der Europäer, in der das Wort »schlachten« Einzug hielt und schon bald gesellschaftsfähig wurde. Sturmfeuer fegte über Russland, Nordafrika und den Nahen Osten hinweg, schlachtete unzählige Zivilisten ab und geriet schließlich in den Kessel von Ar Riyad, wo die europäischen Truppen durch die eintreffenden Truppen der MLA praktisch komplett aufgerieben wurden. Nach Anweisung des Großkalifen durften keine Gefangenen gemacht werden. Nicht ein einziger europäischer Soldat kam zurück. Die meisten russischen Städte galten als zerstört und unbewohnbar.
Die Demografen prognostizierten, dass zur Jahrhundertwende auf der Erde nur noch 1,1 Milliarden Menschen leben würden, und deren Zahl sank stetig. Zu Beginn des Krieges waren es noch 8,2 Milliarden gewesen. Der Superkrebs, hervorgerufen durch nukleare und chemische Verseuchung, hatte ganze Volksgruppen dahingerafft. Da ein Satellit nach dem anderen zu Weltraumschrott wurde oder in der Atmosphäre verglühte, versagten auch die elektronischen Medien. Das Internet brach komplett zusammen, ebenso verschwanden die mobilen Verbindungsgeräte und mangels Treibstoff auch die meisten Flugzeuge, Pkws und Lkws. Sie verrotteten und verrosteten oder ihre Substanzen wurden zu Handfeuerwaffen verarbeitet. Die meisten Städte wurden unbewohnbar.
Eine geheime Konferenz in Europa folgte, bei der sich fast alle anwesenden Vertreter für die Gründung der Europäisch Demokratischen Republik aussprachen. Klare Grenzen wurden festgelegt und man entwarf Pläne zur Befestigung und Verteidigung. Zudem sollten wissenschaftliche Ressourcen in die Erbforschung und in die körperexterne künstliche Befruchtung umgelenkt werden. Standorte für neue Großstädte wurden festgelegt, die durch ein Tunnelsystem miteinander verbunden werden sollten. Die neuen Städte wurden durch gigantische Kuppeln aus meterdickem Panzerglas geschützt und konnten jeweils eine Millionen Menschen aufnehmen. Viele Jahre später existierten zwölf solcher Städte. In der Kuppelstadt mit dem Namen »Neuberlin« entstand das neue Machtzentrum »Noviregnum«, der Sitz Der Zehn, einer neuen Regierung der Europäischen Demokraten.
Jahre später waren die Armeen auf beiden Seiten auf wenige Frauen und Kinder geschrumpft und man begann damit, immer jüngere Fußsoldaten an die Fronten zu schicken.
Jenseits der Städte lebten die Abtrünnigen. Zur klaren Unterscheidung entwickelte man das Chipsystem, das zunächst zur Überwachung der Retortenkinder genutzt wurde, wobei ausschließlich männliche Kinder erzeugt wurden, die man »Educares« nannte und für Kriegshandlungen einzusetzen gedachte.
Der Krieg spielte sich nun, da es fast keine großen Waffensysteme mehr gab und diese auch offiziell nach den Gesetzen Der Zehn nicht mehr produziert werden durften, entlang der Demarkationslinie zwischen EDR und IML ab. Hin und wieder kam es zu kleineren Schlachten, sodass der Krieg ganz offiziell noch weitergeführt wurde. Die meisten Kuppelmenschen lebten im Raum zwischen dem ehemaligen Moskau und dem ehemaligen Warschau, in dem die europäischen Kuppelstädte kreisförmig angeordnet waren. Alle alten Städte Europas wurden aufgegeben und zu Sperrgebieten erklärt. In Nordamerika, Australien und weiten Teilen Asiens existierte kein menschliches Leben mehr.
Entlang der großen Gebirge wurden die wichtigsten Stellungen gebaut und das Rottensystem eingeführt, dem die meisten Educares zugeführt wurden. Diese Kindersoldaten nannte man »Spunde«, die Befehlsgewalt oblag einer Rottenmarschallin, die zu Den Zehn gehörte. Die Rottenquartiere mit bis zu jeweils zweitausend Spunden nahmen zahlenmäßig rasch zu und wurden entlang der Pyrenäen, Alpen, Apenninen, dem Balkan und dem Uralgebirge in alten und neuen Höhlensystemen aufgebaut.
Geheime Pläne der Parlamentarier bereiteten bereits einen Großangriff auf die natürlichen Ressourcen der Morgenländler vor, der erst in dem Moment gestartet werden sollte, wenn die Vielzahl der Spunde ein kampffähiges Alter erreicht haben würde.
Auch auf natürlichem Wege kamen sowohl in den Kuppelstädten als auch bei den Abtrünnigen Kinder zur Welt, wobei dort die Anzahl der Mädchen deutlich überwog.
Ältere Spunde wurden an die Brennpunkte der Demarkationslinie verlegt oder zum Schutz der Kuppelstädte vor den Abtrünnigen eingesetzt. Andere Spunde übernahmen die Treibjagden auf Abtrünnige. Anfänglich waren viele der erwachsenen Abtrünnigen, die aufgegriffen wurden, durch die Strahlung verseucht und die meisten Kinder verkrüppelt. All jene wurden sofort geglättet.
Später gab es die Anweisung, dass aufgegriffene Jungen unter acht Jahren – man bezeichnete diese als Räudiger –, die nachweislich gesund und kampffähig waren, gechippt und der Spundausbildung in den Rotten zugeführt werden sollten, wobei die Parlamentarier stets dafür Sorge trugen, dass die Räudiger ihrer Herkunft nach wie Sklaven zu behandeln waren. Daraus entwickelte sich ein allgemeines Gefühl von Hass zwischen Educares und Räudigern.
Auf einer großen, unverseuchten Halbinsel im Norden Europas, die den Namen »Schiereiland« erhielt und durch die Japankatastrophe entstanden war, schuf man die bedeutsamen Produktionszentren der EDR, darunter auch die Educares-Kultur – die Zuchtstation für Spunde – und die Beutemast, in der gefangene Räudiger aufgezogen wurden.
Im Jahr 2136 befand sich die Menschheit bereits im hundertzwanzigsten Kriegsjahr des Dritten Weltkrieges.
Juli, ein Educares?
Passus 2
Das ausschließliche Bestimmungsrecht über alle Belange der EDR liegt bei Den Zehn – den Demokraten –, wobei jeder Der Zehn für sich selbst einen Nachämter festsetzt.
Im Gleichschritt marschierten sie fast lautlos zum Terminal. Der dünne Stoff unter ihren Füßen war keineswegs mit einer festen Ledersohle zu vergleichen. Jedes Steinchen bohrte sich in die geschundenen Füße der Spunde. 01-Spundgruppenführer-Elia lief links vorn neben der ersten Linie, das Kinn leicht angehoben, die rechte Hand schwingend, die linke am GMG. Er schnalzte im Takt der Schritte und alle richteten sich danach.
Sie marschierten in Linien zu je sechs Spunden. Eine solche Linie wurde militärisch mit »Zweig« bezeichnet. Elia gehörte keinem Zweig direkt an. Der Führer eines Zweiges, der immer links in der Linie zu laufen hatte, bekleidete den Dienstgrad »Spundzweigboss«. In der Hierarchie war also die Rottenführerin ganz oben, gefolgt vom Spundgruppenführer, Spundzweigboss bis hinunter zum Spund. Wobei die Spundzweigbosse ebenfalls immer Educares waren, allerdings wenig zu sagen hatten.
Zu Beginn des Ausbildungsjahres waren es zweiundvierzig Jungen gewesen, nur sechsunddreißig hatten bis zu diesem Tag überlebt. Die fünf Geglätteten waren ausnahmslos Räudiger gewesen, während ein Educares nach einem Sturz aus dem Bett gestorben war.
Die sechs Jungen eines Zweiges verbrachten die Nächte in einem sechsstöckigen Bett. Die Betten waren aus Kunststoff und einschließlich der Liegefläche aus einem Stück gefertigt. Jeder Spund nutzte seine raue Decke aus dem gleichen dünnen, grauen Stoff, aus dem auch die Shortshirts bestanden. Die Etagen der Betten waren über eine Leiter erreichbar, der Spundzweigboss schlief immer unten. In einem Schlafraum standen vierzehn solcher Betten mit insgesamt vierundachtzig Kojen dicht beieinander, wobei jeweils am Ende der Gruppe einige nicht mehr belegt waren. Hinzu kamen die beiden Einzelbetten der Gruppenführer. Somit schliefen zwei Gruppen mit anfänglich bis zu sieben Zweigen in einem Raum. Innerhalb der Rotte existierten dreißig solcher Schlafräume. Die Nummerierungen der Namen entsprachen nie genau der Reihenfolge der Spunde in der Gruppe, denn die leer gewordenen Kojen wurden durch sogenannte »Nachrücker« aufgefüllt, meist vom Ende der Gruppe, in anderen Fällen auch von Neuankömmlingen oder durch Festlegung der Rottenführerin. Beispielsweise war 42-Spund-Jona, ein Educares, vor etlichen Monaten an die sechste Stelle des ersten Zweiges gekommen, woraufhin 07-Spund-Davi Spundzweigboss im zweiten Zweig wurde.
Die tagsüber getragenen Shortshirts wurden am Abend im Sanitärtrakt in die Klappe geworfen. Am Morgen lagen sie gereinigt im Sanitärfach des jeweiligen Spundes.
Ein Spund besaß nichts. Simo aber hütete einen kleinen Schatz. Er hielt das zusammengeklappte Skalpell in einer engen Felsspalte im Spionage-Ausbildungsgelände versteckt.
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Simo marschierte an fünfter Stelle in der dritten Linie, verbrachte alle Nächte in der fünften Etage des dritten Bettes, wusch sich stets am fünften Wasserhahn des dritten Beckens, nutzte das fünfte Sanitärfach in der dritten Reihe und saß beim Essen auf dem fünften Hocker am dritten Tisch. 13-Spundzweigboss-Linu, natürlich ein Educares, führte Simos Zweig an, in dem es nur einen einzigen weiteren Räudiger gab: 15-Spund-Seba. 15 war unterwürfig, diskutierte nicht und benutzte niemals ein Schimpfwort. Stellte Simo ihm eine Frage, dann konnte er ewig auf eine Antwort warten und bekam sie wahrscheinlich nie. Trotzdem lag Sebas Güte fast gleichbleibend bei 80 Prozent, während die von Simo erheblich zwischen 30 und 70 Prozent schwankte. 15 lag im dritten Bett. Eine Etage tiefer schlief 14-Spund-Thom, den Simo häufiger als alle anderen mit dem Schimpfwort »Weibsbürzel« titulierte und damit auf dessen praktisch nicht vorhandenes Geschlechtsorgan anspielte.
Als »Bürzel« bezeichneten die Räudiger die verkümmerten Geschlechtsorgane der Educares. Zwar waren die Räudiger oftmals körperlich schwächer und schmächtiger gebaut als ihre künstlich erzeugten Konkurrenten, doch waren deren Penisse und Hoden normal gebildet. Nichtsdestoweniger war »normal« in den Augen der Educares etwas ganz anderes, denn die hielten ihre verkümmerten Stummel für korrekt und die deutlich größeren und zudem funktionstüchtigen Geschlechtsteile der Abtrünnigen für naturwidrig. Das gegenseitige Bombardieren mit Schimpfworten unterhalb der Gürtellinie gehörte zum üblichen Sprachgebrauch der Spunde. Geschätzt wurde stets der, der ein neues, außergewöhnliches Schimpfwort erfand. Die Kreationen kannten dabei kaum Grenzen und zielten meist auf das ab, was sich unter den Shortshirts versteckte.
Zwischen Seba und Simo marschierte 16-Spund-Levi, ein außerordentlich arroganter Educares, dem Simo nur allzu gern die Kehle durchgeschnitten hätte. An sechster Stelle und somit ganz oben im Bett befand sich 18-Spund-Flor, der Simo rein äußerlich ähnlich war und von den anderen Educares regelmäßig darauf hingewiesen werden musste, dass er ein Educares sei, auch wenn er sich den Räudigern gegenüber nicht immer wie ein solcher verhielt.
Selbstverständlich gab es in den Nächten bei vielen Gelegenheiten auch Kontakte mit den Spunden der anderen Zweige und Gruppen. Die Betten standen schließlich unmittelbar nebeneinander, sodass die Jungen jeweils Kopf an Fuß lagen. Wenn Simo in seiner Koje in der fünften Etage lag, dann schliefen die beiden Educares Luka aus dem zweiten Zweig und Feli aus dem vierten Zweig unmittelbar neben ihm. Simos bester Kamerad, 34-Spund-Paul, lag im fünften Etagenbett ganz oben. In dessen Zweig gab es drei Räudiger, im vierten Zweig hingegen nur einen einzigen, nämlich 21-Spund-Samu.
Simo war so klein, dass es nur einen einzigen Spund in der Gruppe gab, der ihn nicht überragte. Dabei handelte es sich um den Räudiger 06-Spund-Mich, der im ersten Bett in der fünften Etage liegen musste und der an jedem Abend vor dem Erklimmen der Leiter in den Sanitärtrakt eilte. Morgens drohte er in seiner Eile fast von der Leiter abzustürzen, denn gleichzeitig die Leiter zu benutzen und die Beine zusammenzukneifen, das funktionierte einfach nicht.
*
Vor dem Einschlafen kam es im düsteren Schlafsektor der Spunde oft zu kindisch-vulgären Gesprächen, die schnell ausarten konnten:
»Yäh, 17, peinlicher Räudiger, schwankt das ganze Bett, weil du deinen Tierschwanz schrubbst?«, fragte Luka laut, der den kleinen Simo beleidigen wollte, und die Educares lachten höhnisch.
»Yäh, 11, Weibsbürzel, stößt dich meins Rohr – erschlägst dich. Trifft ’s dich meins Saft – ersäuft’s dich. Ich hör wohl dein Neid!«
Nun lachten all die Räudiger und stimmten Simo zu.
»Neid? Dass ich nicht lach. Wer will schon so einen spritzenden Hundeschwanz mit sich rumschleppen?«
»Yäh, 11, ich, der Simo, werd ein’s Tag’s Kinder tun. Weiber und Jungs. G’werkeln werd ich immerzu. Bestehen werd ich in Zukunft. Euerseits wird’s all ausg’löscht sein!«
»Yäh!«, rief Paul von oben und stöhnte übertrieben laut, wie bei einem Höhepunkt der Lust, obwohl er noch nie einen gehabt hatte: »Da komms! Da komms! Machs Futterluke auf, 11, du runzelloser Retortenschiss, kannst schlucken mein lecker Saft und spülen mit mein goldigen Harn runter das G’schleimte, Schwanzlutscher, verpisster!«
»Kein Weib wird dich nehmen, 17, Heulkotz du. Kannst den Arsch von 34 ficken, Spritzpimmel, auf dass dein Tierschwanz Ruhe gibt!«, warf 14-Spund-Thom, ein Educares, von unten ein.
Paul verteidigte Simo sofort: »Yäh, 14, nehm dein Schlitz zum Einspritzen, hast doch ’n Schlitz? Bist doch ’n Weib? Hab nie an dir ’n Bürzel entdeckt! Oder hat’s Python dir’s Stummelchen und ’s Keimdrüsen auffressen, du femininer Pseudognom?«
Jetzt lachten alle lauthals auf, selbst die Educares, denn »femininer Pseudognom« war ein völlig neues Schimpfwort, das Paul für den Educares Thom nutzte. Simo hatte keine Ahnung, wo Paul das herhatte, vielleicht von einem anderen Spund aufgeschnappt.
Jedenfalls machte das Lachen der anderen auch Simo Mut. »Yäh, 14-Spund-Thom, eil dich zu mir, gleich spritzt’s. Mein Schleim tut deiner ebenen Weiberschwarte wohl, sei mein versklavter Schwanzlutscher, du femininer Pseudogeist. Kriegst ganz umsonst mein Heilsamstes! Oder fürchtest, könnt’s dir ’s Antlitz wegätzen?«
Mit »ebener Weiberschwarte« war die glatte Haut der Educares gemeint, die pubertäre körperliche Veränderungen nicht kannten und sich ihrerseits über die gelegentlich bereits auftretenden Pickelchen bei einigen Räudigern lustig machten.
Der Raum war so dunkel, dass Simo nicht sehen konnte, dass 14, dem die Koje drei Etagen unter ihm zugeordnet war, mittlerweile die Leiter erklomm. Kurz darauf fühlte Simo dessen Atem, doch er konnte keinen Laut mehr von sich geben. Die Kojen boten nur wenige Zentimeter Platz nach oben, 14-Spund-Thom hatte sich auf Simo geworfen, drückte ihm augenblicklich mit beiden Händen die Kehle zu und ein Knie derb in dessen Weichteile. Dabei brüllte er: »Dafür mach ich dich glatt, 17, du peinlicher Rattenschiss!«
Simo rang nach Luft. Die Schmerzen in seinem Unterleib waren unerträglich. Zudem war Thom nicht gewillt, den Griff an Simos Hals zu lockern. Simos rechte Hand suchte das schnaufende Gesicht des Angreifers, um dessen Ohr zu ergreifen und daran zu reißen, denn die bei allen Spunden stets kurz geschorenen Haare versprachen keinen Halt. Mit einem Finger der anderen Hand stach er Thom ins linke Auge. Eine Sekunde lang konnte Simo tief Luft holen, bis Thom losbrüllte und sein Knie erneut mit brachialer Gewalt zwischen Simos Beine stieß.
Der Lärm ließ die anderen Spunde aufhorchen.
»14, Schwanzlutscher, verpisster, stromer’ aus seim Lager! Sonst glätt ich dich!«, brüllte Paul.
Erneut drückten Thoms Hände Simos Hals zu, noch derber als zuvor. Simo krümmte sich und zuckte am ganzen Körper. Fast schloss er mit dem Leben ab, denn 14 ließ ihm keine Chance zu atmen.
Dann tauchte überraschend ein Spund auf, riss Thoms Hände von Simos Hals, schlug dem Educares mehrmals mit voller Wucht in die Seite und zerrte ihn von Simo herunter. Thom stürzte dreieinhalb Meter in die Tiefe und schlug mit einem dumpfen Geräusch auf dem Betonboden auf, während Simo regungslos in der Koje verharrte.
»Mach endlich das Licht an, 01!«, rief einer der Spunde. 01-Spundgruppenführer-Elia, der auf der gegenüberliegenden Seite in einem einzelnen Bett lag, schlug auf den Lichtbutton. Es knirschte unter der Zimmerdecke, dann erhellte gleißendes Licht den Schlafraum der beiden Gruppen. Elia erhob sich und lief zu dem Körper, der mit zerschmettertem Kopf auf dem blutrot gefärbten Beton lag.