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»Wer hat das mit 14 getan?«, schrie er mit hoher Stimme. »Wer?« Er schaute hinauf, sah einen Spund auf der Leiter, der einen anderen Spund zu küssen schien. »12-Spund-Juli, dreckiger Schwanzlutscher, was tust du da?«
Als Simo zu sich kam, spürte er, dass ihm jemand Luft in die Lungen pumpte. Er röchelte und hustete.
»Zum Glück lebst du, 17«, flüsterte der Spund in Simos Ohr. »Die Python hätte mir das nicht verziehen.«
Einen Moment lang sah Simo in die Augen seines Retters. »12?«, fragte er. »Warum?«
12-Spund-Juli legte einen Finger auf Simos Lippen, dann kletterte er rasch die Leiter hinunter.
Unten betrachtete er den nackten Körper von 14-Spund-Thom. Die Blutlache breitete sich weiter aus. Alle anderen Jungen schauten missmutig aus ihren Kojen, beobachteten erwartungsvoll den Spundgruppenführer, Nummer 12 und die Leiche von Nummer 14.
»Der Schwanzlose wollte 17 glätten«, erklärte Juli dem Gruppenführer. Beide standen sich nackt gegenüber.
»Na und? 17 ist ein peinlicher Räudiger.«
Juli, fast zwölf, um einiges größer als der Gruppenführer und zudem muskulöser als die meisten in der Rotte, blickte Elia stur in die Augen. »Hast du vergessen, was die Python dir aufgetragen hat?«, flüsterte er. Und laut, sodass es alle hören konnten: »17 ist unser wertvollster Spion. Du weißt es. Ich weiß es. Er war am längsten draußen. Eines Tages wirst du froh sein, dass er lebt, 01.« Mehr sagte Juli nicht. Er ging zu der gerade leer gewordenen Koje, zog die Zudecke heraus und legte sie über die Leiche von 14-Spund-Thom. Dann lief er zurück zu Elia. »Was ist los, 01? Du musst den Nachrücker bestimmen.«
»Frag mich, was mit dir los ist, 12. Warum ist das da?« Elia zeigte auf das für einen zwölfjährigen Educares ziemlich große Geschlechtsteil und Julis Schambehaarung. »Warum belebst du den Räudiger und glättest den Educares? Warum hast du das da und wir nicht?«
Überraschend schnell ergriff Juli das Kinn des Spundgruppenführers und drückte die Finger so derb in Elias Wangen, dass sich dessen Mund von ganz allein öffnete. »Weil ich keins von beiden bin, 01«, flüsterte Juli. »Ich bin ein Mensch. Ich bin ein Junge. Du solltest das auch sein als unser Gruppenführer, Elia, ob du nun einen Schwanz hast oder nicht. Und nun verpetz mich bei unserer Python! Sie wird dir die Leviten lesen, weil du dem Kleinen nicht geholfen hast!«
Elia stand da und atmete tief ein und aus. Er wollte auf keinen Fall wie ein Verlierer wirken. »Verpiss dich in deine Koje, verfurzter Rattenschiss!«, rief er eilig.
12-Spund-Juli führte den Befehl sofort aus. Während er die Leiter am zweiten Bett hinauf bis in die sechste Koje stieg, warf er Simo, der mit bleichem Gesicht in seiner Koje lag, einen lächelnden Blick zu.
»Morgen früh entsorgst du 14 im Totenschacht und beseitigst die Schweinerei in unserem Schlafsektor! Vergiss nicht den Chip!«, rief Elia Juli nach. »41-Spund-Manu, hinkender Heulkotz! Du rückst auf! In den dritten Zweig an die zweite Stelle! Der sechste Zweig schrumpft somit auf fünf Spunde. 41, du bist ab sofort ein Spion! Verstanden, du krebskranker Kotfresser? Jetzt sofort!«
41-Spund-Manu, ein gerade achtjähriger und recht ängstlicher Educares, kletterte zitternd aus der obersten sechsten Koje herunter, nahm seine Decke mit, warf einen traurigen Blick auf den leblosen Menschhaufen vor dem dritten Bett und kletterte dort in die zweite Etage. Mit seinem Gesicht zur Wand legte er sich in die ehemalige Koje des Toten und weinte leise.
Ohne ein weiteres Wort kroch 01-Spundgruppenführer-Elia in seine Einzelkoje und trat wütend gegen den Lichtbutton.
Dunkelheit herrschte. Und Schweigen.
Simos Atem ging schwer. Sein Unterleib schmerzte noch immer. Er krümmte und versteckte sich komplett unter der Decke. Er war bereits tot gewesen, wie Thom jetzt tot war, das wusste er. Doch Juli hatte ihn zurückgeholt, hatte ihn beatmet, ihm die Lunge geliehen. Juli, vor dem in diesem Raum alle Respekt hatten! Galt er doch als der beste Spundschütze der ganzen Rotte.
Thom war ein Educares gewesen! Juli hatte ihn umgebracht, bevor dieser eine Chance gehabt hätte, Simo zu glätten. Niemals durfte die Hand gegen einen Educares erhoben werden, der einen Räudiger bedrohte!
Der Kleine hatte ganz genau gehört, was Juli über ihn, Simo, den peinlichen Räudiger, vor allen Spunden der Rotte behauptet hatte. »17 ist unser wertvollster Spion. Du weißt es. Ich weiß es. Er war am längsten draußen. Eines Tages wirst du froh sein, dass er lebt, 01.«
*
Am Terminal rief 01-Spundgruppenführer-Elia im Takt der Schritte: »Und – jetzt – halt!« Alle blieben gleichzeitig stehen, keiner rührte sich, bis Elia rief: »Links – dreht – euch!« Bei »euch!« drehten sich alle um 45 Grad. Und dann brüllte er auch schon: »Zack, zack, ihr hinkenden Pisspimmel!«
Sogleich rannte 02-Spundzweigboss-Alex los, ihm folgte die erste Reihe, dann die zweite. Am Terminal fingen die Jungen das Paket mit der Ausrüstung für den praktischen Unterricht auf, die ein elektronisch gesteuertes Lagerfach alle drei Sekunden ausspuckte, und bildeten auf der anderen Seite des Terminals, das in die große westliche Halle des Ausbildungsgeländes integriert worden war, wieder eine wohlgeordnete Jungenrotte.
Alle Spunde wurden zum Spundschützen ausgebildet. Nur die aus dem dritten Zweig jeder Gruppe – einem solchen gehörte Simo an – wurden zum Spundspion entwickelt. Da jede der sechzig Gruppen der Pythonrotte einen Spionzweig besaß, konnten es letztendlich dreihundertsechzig Spione werden. Während die Schützen mit kleinen, automatischen Handfeuerwaffen übten, waren die Spione faktisch besser bewaffnet. Ihre eigentlichen Waffen waren Zirkler und Karte. Alle Spunde wurden zudem im Mannkampf ausgebildet, eine spezielle Kampfart, in der es ausschließlich darum ging, einen möglichen Gegner so schnell wie nur möglich zu schlachten. Kraft- und Ausdauertraining rundeten die Ausbildung ab.
Im Tunnel ließ Elia die Gruppe stoppen und abknien. Jeder Spund rollte seinen Pelz aus, einen synthetischen Anzug, der zur täglichen Ausrüstung gehörte. Das fellartige, zum Teil metallische Gewebe war elastisch, schmiegte sich an den Körper an und die Jungen packten sich von den Füßen bis zum Kopf damit ein. Der Pelz – so wurden die Anzüge genannt – war bis zu einem gewissen Maße wasser- und hitzeabweisend, war mit verstärkten Sohlen versehen, ohne dass die Bewegung der Füße eingeschränkt war, und er besaß ein lichtdurchlässiges Visier aus elektronischem Papier (EPV), das sich aus dem Kunststoffhelm über die Augen abrollte. Meist erhielt ein Zweig eine gemeinsame Aufgabe, die es zu erfüllen galt.
Linu, der Spundzweigboss, verließ sich oft auf Simos Intuition, denn Nummer 17 kam draußen wesentlich besser zurecht als die meisten Educares, die vor ihrer Rottenzeit keine natürliche Umgebung kennenlernen durften. Simo hingegen atmete auf, wenn seine Zeile den Tunnel durchschritten hatte und auf der Plattform im Gebirge stand.
Während die Rottenführerin ihre Ansprache zur Tagesaufgabe hielt, die jeden Tag mit den Worten »… eifert also jenen Spunden nach, die für die demokratische Freiheit unserer Republik in den Tod gingen!« endete, woraufhin alle Jungen kniend Beifall schlugen, genoss Simo den Blick hinunter in das herrliche Tal der Apenninen, saugte die frische Luft ein und versuchte am Horizont des weit entfernten Tieflandes den Punkt zu erreichen, wo er einen Hort der Freiheit zu erkennen glaubte.
»Yäh, 17, hast du das gehört?«
Simo schreckte auf und blickte erstaunt zu 13-Spundzweigboss-Linu. »Was meinst?«
»Du peinlicher Räudiger, hat’s dir wohl die Ohren verdichtet? Schau auf dein Display. Einzelaufgabe! Nun mach dich endlich los!«
Während Simo sein EPV herunterrollte, wandte sich Linu ab. Noch während er die Zeichen entzifferte, lief Simo bereits, stolperte mit anderen Spunden einen Pfad hinunter, weiter und weiter ins Tal, schneller und schneller, bis kein einziger der Spunde seinem Spurt mehr folgen konnte.
Mit einem geschlagenen Haken und zwei kurzen Schritten verschwand Simo hinter einem Baum, kletterte auf einen Fels, weiter hinauf, kroch über den Rand und folgte einem Bergpfad, der dicht an einem Abgrund vorbeiführte.
Schließlich erreichte er eine schmale Hängebrücke, hielt sich an den Seilen fest und lief mit großen Schritten mindestens zweihundert Meter über dem Abgrund zum anderen Ende der schwankenden Brücke.
Dort versteckte er sich im hohen Gras und nahm kauernd Zirkler und Karte zur Hand. Das EPV zeigte ein Strichmännlein, das hieß so viel wie »Einzelaufgabe«, was im Training nicht oft vorkam. Daneben standen Koordinaten, eine völlig neue Methode, welche der Morgenlandarmee angeblich unbekannt war, eine Kombination aus zehn Zeichen. Am rechten seitlichen Rand gab es drei verschiedene Zahlen, am unteren Rand zwei. Die Zahl unten links bedeutete den metrischen Abstand zum Zielpunkt. 4.719. Das war ein langer Weg im Gebirge und Simo vermutete, dass er damit fast die Randzone des Rottengebietes erreichen würde. Die Zahl unten rechts zeigte seine momentane Güte an, wobei er mit 64 über seinem persönlichen Schnitt lag. Nun nahm Simo den Zirkler zur Hand, einen durchsichtigen, aufklappbaren Fächer, auf der gesamten Fläche mit unzähligen Zeichen und winzigen geschwungenen Linien beschriftet. Er legte den Zirkler auf die Karte, suchte das erste Zeichen und legte das gleiche Zeichen auf dem Zirkler genau darüber. Nun drehte er den Zirkler so lange, bis alle vorgegebenen Zeichen übereinander lagen. Er las die drei Zahlen am rechten Rand des EPV und suchte sie auf dem Zirkler. Von jeder der Zahlen ging eine geschwungene Linie ab. Dort, wo sich die drei Linien kreuzten, befand sich der Zielpunkt seiner heutigen Aufgabe.
Simo prägte sich diesen Punkt genau ein, wusste auch, wo er im Moment war, und suchte auf der Karte einen geeigneten Weg. Der Punkt war unmittelbar neben der roten Linie der Rottengrenze, die er niemals überqueren durfte. Täte er es doch, würde Praescius, das Computersystem der Europäisch Demokratischen Republik, ihn augenblicklich glätten.
Simo lauschte. Es war sehr still, Tiere gab es hier nur wenige. Er hörte ein leises Rascheln ganz in seiner Nähe und duckte sich. Mitunter dachten sich die Führer Spiele aus, bei denen die Spione als Ziele für die Schützen herhalten mussten. Wurde ein Spion von der Übungsmunition des Ausbildungsgewehrs getroffen, dann blieb er – gesteuert über den Chip – sechzig Minuten ohnmächtig und konnte während dieser Zeit nicht die eigene Aufgabe erfüllen, was schließlich zu einer Verschlechterung der Güte führen würde.
»Simo?«, flüsterte eine Stimme in der Nähe. »Simo, bist du hier? Ich weiß, dass du hier bist. Ich muss mit dir sprechen!«
Simo hob den Kopf, verriet jedoch nicht seinen Standort. »Was fragst, Juli? Hab Monoauftrag. Kann nicht quasseln.« Juli hatte ihm das Leben gerettet und Thom das Leben genommen. Trotzdem war er immer noch ein Educares. »Was andres wirst nie sein«, sagte Simo und verriet damit die Gedanken.
»Simo, red mit mir. Was andres soll ich nie sein?«, fragte Juli und seine Stimme kam deutlich näher. »Was meinst du damit?«
»Kein Räudiger wirst sein«, antwortete Simo, der Juli durch das hohe Gras nicht entdecken konnte.
»Vielleicht bin ich aber einer und das System irrt?«
»System irrt? Verflachst mich wohl? System nie irrt. Stromer dich, muss Aufgabe tun, Juli.«
Juli sprach Simo mit dem Vierletter an, also tat es Simo auch. Zahlen waren eben nur Zahlen.
»Kein einziger Educares hätte dich ins Leben zurückgeholt. Kein einziger!« Und nach einer kurzen Pause rief Juli: »He, Simo, nimm das, dann weißt du, dass ich dir nichts tun werde!«
Ein Gegenstand kam zu Simo geflogen und landete unmittelbar vor seinen Knien. Es war Julis Waffe! Simo staunte nicht schlecht, ergriff das Übungsgewehr und erhob sich. Juli war nun unbewaffnet, es bestand keine Gefahr. Juli, der beste Schütze – wehrlos!
»Bleib unten!« Juli kam durchs Gras gekrochen, direkt auf den wesentlich kleineren Simo zu, der wie ein Häschen die Waffe in den Händen hielt, die durch den Pelz wie Pfoten aussahen. »Niemand darf wissen, dass wir miteinander sprechen.« Juli hockte dicht neben Simo, schob das EPV hoch und zog die Pelzkapuze vom Kopf. »Schau dir meinen Hals an!«, forderte er und zeigte auf eine Stelle hinter dem rechten Ohr.
Simo schaute hin. »Anschaue nichts.«
»Sieh genau hin. Ich meine den kleinen Fleck.«
»Leberfleck meinst? Was Besondres ist’s? Unverkennbar, seh ihn.«
»Was Besonderes?«, fragte Juli vorwurfsvoll. »Macula hepatica! Die ganzen Educares springen doch ständig nackt vor dir rum. Hast du jemals auf deren Haut auch nur einen Leberfleck gesehen? Oder etwa irgendeine andere Pigmentstörung?«
»Weißes nicht.« Mit der Pelzpfote berührte Simo Julis Hals. »Schau runzellose Retortenschisse nicht gern häufig an.«
»Nein, Kleiner, du wirst bei ihnen nie einen finden. Weil sie nämlich keine haben. Die Educares werden aus gereinigten Biomolekülen gezüchtet. Ihre Erbinformation ist nicht verschmutzt. Sie werden außerdem kaum krank. Und die Züchter werden immer besser. Wenn du also wissen willst, ob einer der Spunde ein Räudiger ist, dann schau dir nicht nur seinen Schwanz, sondern vor allem seine Haut an.«
Argwöhnisch zog Simo die Hand zurück. »Scheiß erzählst! Du groß und Muskeln wie Educares! Hast aber ’nen Schwanz. Räudiger ist, was ein ordentlichen Tierschwanz besitzt, kein Bürzel. Und zwei Eier. Egal mir die Leberfleck sind. Was bist wirklich?« Simo richtete die Waffe auf Juli – entsichert und schussbereit.
Der große Junge betrachtete den kleinen mitleidig. »Meinen Schwanz hast du also entdeckt, obwohl du dir die Educares angeblich nie richtig anschaust? Du glaubst mir wohl nicht, Simo? Das enttäuscht mich sehr. Ich dachte, wir könnten Freunde sein, so wie Paul dein Freund ist.«
»Paul? Freund?«, rief Simo entrüstet, fast etwas zu laut, und erhob sich. »Paul nicht Freund, nur auch Räudiger. Du aber nie Räudiger! Schwatzt zu gut. Was bist wirklich?«
Juli taumelte rückwärts, ließ sich plötzlich ins hohe Gras fallen, als wollte er sich Simo gänzlich unterwerfen. »Natürlich ist Paul dein Freund! Warum behauptest du so etwas? Du bist nicht besser als die Demokraten! Du siehst alles nur schwarz und weiß! Du siehst nur Gut und Böse! So wirst du niemals richtige Freunde finden!«
»Hab richtig Freund g’habt!«, brüllte Simo und Tränen schossen aus seinen Augen. Da war es schon wieder. Verdammtes Geheul! Warum blieb das verfluchte Tränenwasser nicht in seinem Kopf? »Hab scharenweise Freunde g’habt!«, klagte er.
»Und wo sind sie, deine angeblichen Freunde?«
»Haben’s g’glättet! So welche wie du haben’s g’glättet!« Simo drückte auf den Knopf der Waffe. Sie lud sich und feuerte gleich zweimal. Auf den Boden gepresst lag Juli da, direkt neben seinem Kopf roch es nach verbranntem Gras. Jetzt ließ Simo die Waffe fallen und rannte einfach davon.
»Warte doch, Simo!«, rief Juli, erhob sich und ergriff die Waffe. »Bitte, Simo, so warte doch!«
Doch Simo lief unaufhaltsam davon. Er atmete tief ein und aus, sprang und rannte, kletterte und sprang wieder. Seine Tränen trocknete der Wind. Immer weiter, immer weiter! Kein Sterblicher hätte ihm folgen können, so hoch hielt er die Geschwindigkeit, balancierte über Abgründe, erklomm glatte Felswände. Und obwohl die Kräfte irgendwann nachließen, rannte er noch schneller, als gehörten seine Beine einem anderen.
*
Simo hetzte durch das Unterholz, gelangte an das Ufer des großen Boddens, der nach dem Beben, lange Zeit vor Simos Geburt, entstanden war. Er hörte noch immer den Klang der Trompete, die eine aus nur einer Oktave bestehende Melodie spielte.
»Papa! Mama!«, brüllte der Fünfjährige und hörte von überall die lauten Motorengeräusche, Schreie und peitschende Salven. »Lene, Lina, Lena!«
Der Unterschlupf in seinem Dorf am Bodden wurde angegriffen! Der Winzling in den abgewetzten Kleidern, die ihm Mama zusammengenäht hatte, stürzte in einen Graben, rappelte sich auf und kroch auf der anderen Seite wieder hinauf. Er flitzte quer durch ein Feld, das die erwachsenen Männer bestellt hatten, auf dem Weizen für Brot wuchs, rannte den Feldweg hinunter, auf dem er unzählige Male an der Hand des Vaters zur Schmiede gelaufen war, in der Papa Werkzeuge herstellte, näherte sich dem Dorf und erblickte die riesigen Transporter mit den EDR-Symbolen, die der von Vater und Mutter verhassten Europäisch Demokratischen Republik gehörten. Der Junge schlüpfte durch eine schmale Öffnung zwischen zwei Katen, kletterte geschwind wie eine Ratte über eine Leiter auf den Schuppen und robbte bis zur vorderen Dachrinne. Von dort aus konnte er den großen Hof und einen Abschnitt der angrenzenden Dorfstraße sehen.
Die Angreifer trugen graue Uniformen, Helme und Handfeuerwaffen. Sie waren alle noch sehr jung, vielleicht dreizehn oder vierzehn Jahre alt. Rabiat drangen sie in die Häuser ein, brüllten »Rauskommen!«, schlugen Scheiben ein und schossen wie zum Spaß auf die freilaufenden Tiere – Hühner und Gänse, von denen die Familien leben mussten. Auf der Straße lagen Tote aus Simos Dorf, auch Kinder waren darunter. Die kleinsten Jungen wurden wie Vieh zusammengetrieben und von EDR-Soldaten mit Schlägen traktiert.
Jetzt kamen mindestens dreißig von ihnen auf seinen Hof! Simo rutschte ein Stück zurück, um nicht gesehen zu werden, hörte sie aber alle durcheinanderbrüllen.
»Raus mit euch, ihr peinlichen Abtrünnigen! Rattenschisse, verfluchte! Sonst brennen wir das Haus ab!«
Einige Soldaten zerschlugen die Fenster, fünf drangen ins Haus ein, zehn weitere in die Nebengelasse. Simo hörte die Schüsse ihrer Waffen. Dann sah er die dreijährigen Zwillingsschwestern Lina und Lena, die von zwei Soldaten an ihren schönen, blonden, langen Haaren aus der Scheune gezerrt wurden. Bestimmt hatten sie sich zuvor im Stroh versteckt.
Einer schlug erst Lina, dann Lena die Beine weg, sodass die Mädchen in den Dreck stürzten und vor lauter Angst schrien.
Ein anderer, noch jüngerer Soldat, näherte sich, klappte das Visier seines Helms hoch und brüllte: »Los, 17, du darfst die wertlosen Weiber glätten!« Dann lachte er. »Was ist, 17, verpisster Spritzpimmel, glättest wohl nicht deinesgleichen?«
»Glätt’s doch du, haarloser Retortenbürzel!«, rief der Soldat mit der Nummer 17 und rannte wütend vom Hof. Der Jüngere legte die Waffe an, schoss zweimal auf Simos Schwestern, deren Leiber daraufhin zuckten, um dann regungslos liegen zu bleiben, während sich ihre Kleider an manchen Stellen rot färbten. Eine halbe Sekunde später wurden die beiden Körper von inneren Explosionen zerrissen.
Papa kam aus dem Haus gerannt, schlug mit einer Axt wild um sich, ohne jedoch einen der Kindsoldaten zu treffen, und flehte. Noch bevor er seine toten Zwillinge erreichen konnte, wurde er von unzähligen Schüssen getroffen. Sein Körper wurde regelrecht zerrissen.
Ein heiserer Schrei ertönte. Simo weinte nicht. Er brüllte nur.
Die EDR-Soldaten entdeckten den Fünfjährigen auf dem Schuppendach, gleich vier von ihnen erklommen das Gebäude.
Blitzschnell wie der Wind sprang Simo auf der anderen Seite vom Dach, landete auf einem Strohballen, rannte an der Rückseite des Hauses entlang und schlüpfte durch die Hintertür zur Küche. Erschüttert blieb er stehen. Er sah Mama auf dem Küchenstuhl schlafen, Lene, das vier Monate alte Schwesterchen der Zwillinge, an die Brust gequetscht. Aus einem großen Loch in Mamas Unterleib hingen Gedärme, aus Lenes Hinterkopf tropfte Blut auf Mamas Schürze.
In diesem Moment ergriffen kräftige Hände den kleinen Simo, der kurz darauf in einem geschlossenen Fahrzeug der EDR-Soldaten verschleppt wurde. In einem schwankenden Käfig zwischen all den anderen kleinen Jungen kniend fand sich Simo wieder. Er hatte aufgehört zu brüllen. Es fröstelte ihn und sein schmächtiger Körper zitterte. Innerhalb weniger Minuten hatten sie ihm alles genommen. Jeden seiner Freunde.
*
Simo schaute auf die zitternden Spitzen seiner Finger. Er hatte Pelz und Shortshirts bis zur Hüfte abgestreift, lag auf dem Rücken unter einem uralten Baum und wischte das grauenvolle Bild von Mama und Lene aus den Gedanken.
Als er das Ziel erreicht hatte, war seine Güte bis auf 84 gestiegen – so hoch wie noch nie. Er war schneller gerannt als jedes Tier! Nun musste er wieder zurücklaufen und sich bei 01-Spundgruppenführer-Elia melden. War noch Ausbildungszeit übrig, würde er zum Kampf-, Kraft- oder Ausdauersport geschickt werden. Dazu hatte der kleine Junge keine Lust. Viel lieber lag er unter diesem Baum.
Im Himmel, weit über seinem Kopf, sah Simo plötzlich einen schwarzen Punkt, der sich stetig im Kreis bewegte und mit jeder Bewegung näherkam.
Es war ein seltener Vogel, so groß, wie Simo noch nie einen gesehen hatte, und er gab schreiende Laute von sich.
»Hiob! Hiob!«, rief der Steinadler. Und nach einigen Sekunden erneut: »Hiob! Hiob!«
Blitzschnell stand Simo auf den Füßen, legte die Hände zu einem Trichter an den Mund und rief mit hoher Stimme »Hiob! Hiob! Hiob!« hinauf, als wäre dieser Vogel am Himmel sein Vater.
Der Adler flog auf eine Felswand zu und landete geschickt in einem großen Horst, den Simo kaum erkennen konnte, weil er in einer Felsspalte versteckt gebaut war.
Nach dieser Begegnung legte sich der Junge wieder auf den Rücken und schloss die Augen. Obwohl er nicht das geringste Geräusch gehört hatte, blickte er in ein Gesicht unmittelbar über dem seinen, als er Minuten später die Augen wieder öffnete. Das war Juli, der sich ebenso wie er den Pelz vom Kopf gezogen hatte.
»Es tut mir leid, Simo. Ich wollte dich nicht beleidigen. Mit meinen Worten wollte ich dir auch nicht wehtun. Ich wollte dir anbieten, mein Freund zu sein. Nichts anderes habe ich vorgehabt. Sag mir, was daran schlimm sein könnte!«
Simo spürte Julis Atem im Gesicht. Der musste auch sehr schnell gerannt sein, doch Simo merkte es ihm ansonsten kaum an.
»Was bist wirklich, Juli?«, flüsterte der Kleine.
Juli pustete Simo leicht ins Gesicht. »Kein Educares und kein Räudiger«, hauchte er.
»Sag was bist, nicht was nicht bist.«
Noch zögerte Juli. »Du wirst es wirklich niemandem erzählen?«
»Hab Vogel g’sehn. So autonom er.« Der Kleine blinzelte und Juli über ihm musste wegen des Wortes »autonom« statt »allein« unweigerlich grinsen.
»Autonom?«
Simo blieb todernst. »Soll Freund von dir, doch vertraust nicht«, sagte Simo und pustete zurück. »Drum schweig besser.«
Statt zu schweigen fragte Juli: »Wie kann nur ein so kleiner Junge, wie du einer bist, ewig und immer ernst und störrisch sein? Los, lach gefälligst, Simo!« Er griff dem Kleinen an die unterste Rippe und kitzelte ihn kräftig durch. »So oft habe ich dich weinen sehen, nun zeig mir, dass du auch lachen kannst!«
Mit dem ganzen Körper zuckte Simo und wand sich auf dem weichen Boden. Doch er lachte nicht.
Juli stach ihm mit den Fingern in die Seiten. »Lach endlich, du kleiner, verpisster Heulkotz! Los, lach!« Aus fünf Zentimetern Entfernung sah er wieder in Simos Gesicht. Doch Simo lachte nicht. Simo weinte. Das Heulwasser stand ihm regelrecht in den Aughöhlen.
Resignierend ließ sich Juli neben Simo fallen, drehte sich auf den Rücken und schaute ebenfalls in den Himmel.
»Warum weinst du gerade jetzt, Simo? Ich habe dich zum Spaß durchgekitzelt«, flüsterte er zwei Minuten später. »Warum lachst du dabei nicht? Jeder andere würde sich totlachen.«
»Hab Freunde g’habt!«, sagte Simo. »Papa und Mama. Hab’s aber Namen vergessen. Weiß noch von drei Kleinen. Lene, Lina, Lena. Lene, Lina, Lena. Lene, Lina, Lena.
Lene, Lina, Lena …« Wiederholt nannte Simo die Namen seinen kleinen Schwestern, bis er innehielt. »Sag’s immer wieder für mich, damit’s nicht auch vergess. Lene, Lina, Lena. Haben’s g’glättet, wehrlose Kleinen. Auch Papa. Auch Mama. Haben’s g’macht, die Spunde, die ausschau’n wie ich. Wie du. Paul ist Gefährte mir. Begleiter, Kamerad, Bruder. Paul kein Freund nicht. Ist Paul nicht Spund noch, dann möglich Paul Freund von Simo.«
»Wenn Paul so etwas wie dein Bruder ist, dann ist er mit ziemlich großer Sicherheit auch dein Freund«, widersprach Juli. »Nachts, wenn Paul die Shortshirts nicht anhat, ist er dann noch ein Spund? Oder ist er dann ein Junge? Ist Paul nachts dein Freund? Wenn am Himmel ein Gewitter aufzieht, ist der Himmel dann ein Gewitter oder immer noch der Himmel?«