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Der Kleine blickte hinauf in den Himmel. Eine Weile dachte er über Julis Worte nach, sprach jedoch nicht.
»Ich will dir was sagen, Simo: Paul ist dein Freund, auch wenn du ihn als Spund siehst.«
Sekunden vergingen.
»Meinst?«, flüsterte Simo schließlich.
»Ganz sicher.«
Beide schwiegen und sahen hinauf in die Krone des riesigen alten Baumes, der einhundertzwanzig Kriegsjahre überstanden hatte.
»Vertraust mir?«, fragte Simo schließlich. »Hast vor 14-Spund-Thom schon was erlegt? Vertraust mir und sprichst nicht, was bist?«
Juli musste die Worte erst sortieren. »Ich habe noch nie jemanden getötet, Simo. Das mit Thom war ein Unfall. Und er passierte, weil ich dir das Leben retten wollte. Ich bin kein Räudiger. Ich kann keiner sein, weil ich – ebenso wie mein Familie – nie abtrünnig war. Ich bin kein Educares, weil ich aus dem Leib meiner Mutter schlüpfte. Ich bin ein Mensch, verstehst du? Nur ein stinknormaler Mensch!«
Simo hob den Oberkörper an, drehte sich und kniete plötzlich über Juli. Er drückte die Arme des deutlich stärkeren Jungen an den Handgelenken auf den Boden. »’s deucht, du erdichtest was.« Er stemmte Juli die Knie in die Seiten. »Elender Fabulant! Das gibt nur Weibsbürzel und Tierschwänze. Was sonst?«
»Es gibt noch wesentlich mehr als das, was in deinem kleinen Dickschädel ist, Simo. Sag, kennst du die Kuppelstädte?«
»Die Schneekugler?«
Der Große lachte, als machte er sich über den Kleinen lustig. »Es hat noch nie in einer der Kuppelstädte geschneit, das kann ich mit Sicherheit behaupten. Ihr Räudiger mit eurer verwunderlichen Sprache!« Juli ließ Simo gewähren und warf ihn nicht von sich herunter. »Von mir aus: Kennst du die Schneekugelstädte? Eine davon heißt Neuparis. Sie haben jede Kuppelstadt nach einer im Krieg zerstörten Großstadt Europas benannt. Die Städte unter den Kuppeln haben eigenes Wetter, eigene Luft, eigene Gesetze und eigene Menschen. Für die Demokraten sind nur die Kugelstädte die Republik. Die Menschen dort wurden ausgewählt, mussten sich zur Europäisch Demokratischen Republik bekennen und haben für sie zu arbeiten. Alle Staatseigenen sind gechippt. Sie erhalten Waren und Lebensmittel für ihren Bedarf zugeteilt und dürfen Familien gründen. Ein Paar darf zwei Kinder haben, doch die Geschlechter der Nachkommen werden nach einem statistischen Verfahren bestimmt. Ein Fötus, der nicht …«
»Was ist Fötus?«, unterbrach Simo, ohne den Griff um Julis Handgelenke zu lockern.
»Das ist das Kind im Mutterleib, das ungeborene aber bereits existierende, wachsende und fühlende Kind. Ein Fötus, der nicht der Geschlechterstatistik der Oberen entsprach, wurde abgetötet. Ich wurde in der Kuppelstadt Neuparis geboren, Simo. Mein Vater musste Staatseigener sein und meine Mutter auch. Mutter hat mich heimlich zur Welt gebracht, hat mich vor den Statistikern versteckt. Sie wollte einen Sohn und durfte nur zwei Töchter gebären. Also versteckte sie mich. Eine Kuppelstadt kann man nur zu einer anderen Kuppelstadt verlassen. Über die Röhrenbahn. Nie aber kommt jemand ohne den entsprechenden Chipeintrag hinein oder heraus. Verstehst du? Einmal in der Kuppelstadt, wirst du immer dort gefangen sein, es sei denn, die haben dich für Arbeiten in äußeren Fabriken oder auf den Feldern eingeplant.«
»Du aber hier? Wie geht’s?«
»Als ich sieben Jahre alt war, haben sie mich entdeckt. Mutter wurde bestraft und ich in ein Haus der Oberen gebracht. Sie wollten mich töten, doch ein Privilegierter Beamter schickte mich hierher. Ich wurde bei vollem Bewusstsein gechippt, wie ein Räudiger. Und weil sie sich unschlüssig waren, haben sie mich als Educares deklariert. Für mich gibt es nämlich keine eindeutige Definition. Ich bin ein Städter. Doch die gehören in die Kuppelstadt und nicht hierher. – Verstehst du mich jetzt?«
Simo schaute in Julis Gesicht. »Ist schön dort in Schneekugel?«, fragte er, ohne Julis Frage zu beantworten.
»Nein«, antwortete der Große unbeherrscht laut. »Das versuch ich dir doch die ganze Zeit zu erklären. Dort ist es nicht besser als in der Rottenschule. Die Kuppelstädte sind riesige Gefängnisse mit vielen Sklaven und wenigen Herrschern. Es gibt da nur zwei Sorten Menschen: Staatseigene und Privilegierte Beamte. Staatseigene schuften und Privilegierte Beamte genießen, weil sie von manipulierten Spundrotten geschützt werden. Wer sich wehrt, wird ohne Pardon ermordet.« Nach einer kurzen Pause meinte Juli noch: »Dort, wo du gelebt hast, war es mit Sicherheit am besten.«
»Meinst als Abtrünniger? Bist albern.«
»Ich meine dich, als freien Menschen, Simo. Kapier es doch: Bis sie dich verschleppt haben, warst du ein völlig freier Mensch. Die Bezeichnung ›Abtrünniger‹ haben Die Zehn erfunden, die mächtigsten Zehn in Europa.«
Lange schaute Simo schweigend in Julis Augen. Dann fragte er: »Warum macht alles kaputt, was am besten?«
»Weil es den Menschen eigen ist, immer wieder alles Gute zu zerstören. Die Menschheit benötigt nicht den Angriff irgendwelcher Außerirdischer, Simo, wie es in manchen alten Lettersammlungen geschrieben steht. Ich habe viele davon gelesen. Die Menschheit hat es ganz gut drauf, sich selbst zu vernichten. Es ist die Gier des Menschen nach Bedeutung, Macht und Reichtum. Und diese Gier wurde in weiter Vergangenheit aus dem einfachsten Überlebensinstinkt geboren. Sie hat sich erst mit der Menschwerdung entwickelt.« Juli flüsterte. »Kein einziges Tier wird jemals so dumm sein wie ein Mensch. Intelligent sind nur die Tiere und Pflanzen.«
»Womöglich ich Tier oder Pflanze?« Simos rhetorische Frage war äußerst ernst gemeint.
Doch Juli lachte darüber. »Du? Ein Tier? Nein, Simo. Auch du bist ein Mensch. Und ganz bestimmt wird die Dummheit sich eines Tages auch bei dir einstellen. Ganz sicher.« Eine Sekunde zögerte Juli, dann fragte er erneut: »Was ist nun, Simo? Du schuldest mir noch eine Antwort. Wollen wir Freunde sein?«
Eine Antwort gab Simo dem großen Jungen nicht. Stattdessen fragte er: »Hat’s Schlange ’nen Chip?«
»Ja«, sagte Juli.
»Weißt’s?«
Der Große blickte starr in die Augen des Kleinen. »Woher ich das weiß?«
Simo nickte.
»Sie sagte es mir. Und ich habe die Narbe gefühlt.« Die Augen Simos weiteten sich.
»G’fühlt? Wie?«
»Ich darf dir nicht alles erzählen. Ich weiß, dass der Chip da ist. Ich weiß, dass Domina Hero einen Zugriff darauf hat. Die Schlange ist ein Sklave Der Zehn.« Erneut flüsterte er: »Wie auch wir Sklaven Der Zehn sind.«
Noch immer hielt der Kleine die Handgelenke fest. In seinem Kopf arbeiteten die Gedanken, entstanden neue Fragen. Doch Simo fragte nicht.
Stattdessen ergriff Juli noch einmal das Wort: »Was nun, Simo? Wollen wir Freunde sein? Vielleicht darf ich dir dann mehr erzählen. Vielleicht bist du dann bereit dazu, ein wenig mehr von der Wahrheit zu erfahren.«
Simo zögerte kurz, kletterte schließlich von Juli herunter und zog sich rasch den Pelz über Oberkörper und Kopf. »Muss eilen zu 01-Spundgruppenführer-Elia.«
Auch Juli erhob sich, rieb sich die Handgelenke und klopfte Laub und Dreck aus seinem Pelz. »Du hast dich nie dafür bedankt, dass ich dir dein Leben gerettet habe.« Das war mit Sicherheit keine Frage.
Simo antwortete auch darauf nicht, sondern rannte unvermittelt los.
Juli hatte große Mühe, dem Kleinen zu folgen. An einem Hang sah er Simo zweihundert Schritte vor sich.
Der stand breitbeinig da, zu ihm gewandt, und rief: »Hab viel Sonnenschein g’sehn, drüben in mein Tod! Du aber, dummer Spritzpimmel, bracht’s mich zurück ins Eiskaltland! Und willst wohl jetzt noch Dank dazu?«
»Verdammt noch mal, du winziger klugscheißender Hosenfurz! Es gibt nichts Wertvolleres als das Leben, Simo! Kannst du das nicht kapieren oder willst du es einfach nicht?«, schrie Juli dem Kleinen nach, der sich wieder in Bewegung gesetzt hatte und weiter den Hang erklomm. »Jetzt warte doch!«
Juli hetzte sich ab, doch er erreichte Simo bei diesem Test nicht mehr. Der kleine quirlige Kerl war einfach schneller und überquerte lange vor ihm einen umgestürzten Baum, der über einen tiefen Abgrund führte.
Juli folgte ihm, vorsichtig balancierend, und kletterte auf der anderen Seite eine äußerst steile Wand hinauf, die nur wenig Halt bot. Kurz bevor er das Plateau erreichte, bröselte ein Vorsprung unter seinem linken Fuß weg. Der Zwölfjährige verlor den Halt, krallte sich an einem Vorsprung fest und ruderte auf der Suche nach einem erneuten Halt heftig mit den Beinen. »Simo!«, brüllte er. »Simo, ich stürze ab! Hilf mir, Simo!« Seine Bewegungen wurden hektischer, als er bemerkte, dass der Pelz ihn daran hinderte, den Absturz mit den Händen zu verhindern. Der sichere Tod war nah. »Simo, komm zurück! Bitte!«, flehte Juli mit schwindender Kraft. »Bitte, Simo!«
In jenem letzten Moment des Halts griffen zwei Hände von oben zu und zerrten Juli mit kräftigem Schwung hinauf auf das Plateau. Übel gelaunt und um Atemluft ringend lag der Junge da und schaute hinauf in die geschminkten Augen der Rottenführerin Python, die in ihrer schwarzen, glänzenden Uniform mit den leuchtend weißen Streifen breitbeinig über Juli stand.
»Gut gemacht«, sagte die. »Doch pass besser auf dich auf. Denn tot wirst du der Sache herzlich wenig nützlich sein.« Daraufhin wandte sich die kolossal wirkende Frau ab und lief mit ruhigen Schritten über das moosige Felsgestein davon.
Juli lag am Rande des Abgrunds, blickte in den blauen Himmel und zögerte damit aufzustehen.
»Hab viel Sonnenschein g’sehn, drüben in mein Tod!«, hörte er Simos hohe Stimme rufen. Wie schlimm stand es um die Welt, wenn ein kleiner Kerl, wie Simo einer war, den Tod dem Leben vorzuziehen gedachte? Es wurde höchste Zeit, den Kleinen aus dem tiefen Wasser zu ziehen und ins Boot zu hieven. Höchste Zeit!
Neumoskau: Angriff der Spunde
»Schau’s dir an! Noch Kinder sind’s, und sehr ganz junge dazu!« Jonathan hockte auf dem Hochstand und blickte hinunter auf das weite, unbestellte Feld. Zu Tausenden kamen sie durch das weglose Land gelaufen, trugen nur ihre Rückensäcke und die Waffen. Dazwischen fuhren brüllend die gewaltigen Fahrzeuge.
»Sind BAT2000«, flüsterte Tatjana neben ihm. »Sind ohne Waffen.«
»Wenn’s kommen zu uns, ist’s aus. Viel zu viele sind’s, die da gehen.«
»Muss los!« Tatjana schickte sich an, von dem Hochstand zu klettern.
»Was willst?«, fragte Jonathan.
»Muss warnen! Unser Stadt muss still sein!« Jonathan folgte dem sechsundzwanzigjährigen Mädchen, das geschwind die Leiter hinunterkletterte. Gebückt liefen sie im Gras der weiten Landschaft nebeneinander zum Waldsaum.
Jonathan war dreißig, Vater eines kleinen Jungen, Mann von Tatjana, die er hier im Rückzugsraum der Abtrünnigen kennengelernt hatte, die ihm, dem schwarzen Mann, wie er von allen genannt wurde, einen Jungen geschenkt hatte, deren geschmeidigen Körper er liebte und deren Klugheit er verehrte.
Eines fernen Tages war Jonathan aus dem Gebiet der Grenze zwischen EDR und Morgenland geflüchtet. Dort lauerte ständig die Gefahr durch Spunde. Zwar griffen sie nie sein Dorf direkt an, doch sie waren fortwährend in der Nähe. Jonathan ging gen Norden. Fünf Jahre dauerte seine Reise, die ihn in verschiedene Siedlungen und Verstecke der Abtrünnigen brachte. Doch überall lauerte der Tod. Immer wieder tauchten Horden von Spunden auf, machten alle Abtrünnigen auf Geheiß Der Zehn nieder. Jonathans Augen sahen unzählige zerfetzte Leichen. Nie ging es um die Eroberung von strategischen Objekten, stets nur darum, die Abtrünnigen auszurotten.
An einem eiskalten Wintertag erreichte er diese Kolonie. Sie war gewaltig. Abtrünnige hatten eine alte Stadt inmitten eines gigantischen Waldgebietes gesichert, gelangten auch in den Besitz verbotener Waffen. Die Gegend nannten sie »Russisches Becken«. Im Osten versperrte das gewaltige Ural-Gebirge den Weg, im Westen, jenseits des Waldgebietes, existierten unendliche flache, zumeist weit einsehbare Ländereien. Es gab genügend Tiere, die gejagt und gegessen werden konnten, Früchte von Bäumen und auch bestellte Felder, auf denen Weizen wuchs. In der Stadt existierten sogar Forschungsstationen, die das Wetter voraussagen konnten. Ein altes, wiedererrichtetes Wasserkraftwerk erzeugte Strom für die Stadt. Errungenschaften der Vorkriegsgeneration wurden brauchbar gemacht, Kleidung und andere Erzeugnisse hergestellt. Viele der Abtrünnigen kamen aus dem Westen. Einige brachten die Erinnerung an eine große Metropole mit, die der Krieg in Schutt und Asche verwandelt hatte. Deshalb erhielt die Enklave den Namen »Neumoskau«.
In den Augen Der Zehn wurde die gewachsene Stadt der Abtrünnigen zur Bedrohung. Immer wieder rückten Spundeinheiten gegen die Stadt vor, doch sie wurden unter hoher Opferbereitschaft von den Abtrünnigen mit alten Waffen vertrieben.
*
Erschöpft erreichten Jonathan und Tatjana das Tor. Ein gewaltiges Brummen, erzeugt durch die Turbinen der BAT2000, lag in der Luft.
»Gebt Ruhealarm! Horden von Spunden nähern sich! Tausende sind’s!«, riefen beide den Torwächtern zu.
Sekunden später wurden die Nebelkanonen aktiviert. Weißer, künstlicher Nebel kroch durch die Gassen, hüllte Neumoskau ein, als wäre er ein natürliches Produkt von Wasser und Sonne. Die Menschen wussten nun, dass sie jeden Lärm vermeiden sollten. Und wäre es des Nachts geschehen, hätten sie die Stadt verdunkelt. Doch jetzt war Tag. Einige Wolken verdeckten die Sonne, ein wenig Nebel war überall.
Die beiden erreichten das Wohnhaus, ein mehrstöckiges Gebäude, in dem sie in zwei Räumen der ersten Etage untergebracht waren.
Paul saß unter dem Tisch. Der Vierjährige versteckte sich immer unter dem Tisch, wenn er den Nebel sah, denn nur dort fühlte der Junge sich sicher.
Sogleich hockte sich Tatjana neben Paul und drückte den zitternden Kleinen fest an sich. Sie war hier geboren, sie kannte keine andere Welt. Deshalb kroch die Angst, beginnend bei ihren Füßen, hinauf in ihren Körper und übertrug sich auf ihn, als wäre sie eine furchtbare Krankheit. Tatjana drückte Paul so fest an sich, als müsste der Kleine sie beschützen.
Paul aber breitete die Arme aus und rief: »Papa!«
Einen Moment zögerte Jonathan. Dann kroch auch er unter den Tisch, streichelte Paul über die schwarzen Haare, küsste seine dicken Lippen und hielt die beiden abstehenden Ohren mit den Händen fest. »Paulchen, muss hinaus. Werde bald z’rück sein. Pass schön auf’s Mama auf. Musst tapfer sein, Paulchen. Hab dich lieb.« Noch ein Küsschen für Paul folgte, dann eins für Tatjana.
»Paul tapfer«, sagte der Kleine und schaute den Vater mit großen schwarzen Augen an. »Papa kommt wirklich z’rück?«
»Papa bald z’rück, wenn’s Höllenspunde vertrieben sind’s. Yäh?«
»Yäh, Papa. Bitte z’rück.« Zögernd ließ Paul eine Hand des Vaters los, die er bis dahin fest umklammert hatte.
»Pass auf dich auf. Bitte, Jonathan«, flüsterte Pauls Mutter und drückte den Kleinen noch inniger an sich.
Ein weiteres Mal nickte Jonathan, dann verließ er lautlos das Gebäude.
Paul legte seine Ärmchen um den Hals der Mutter, drückte seine Wange an die ihre. Dann zitterten sie gemeinsam. Während sie warteten, sang Tatjana ganz leise das alte Lied, das sie einst in der längst verbotenen Sprache von ihrer Großmutter gelernt hatte: »Против беды, против войны/Встанем за наших мальчишек./Солнце, навек! Счастье, навек!/Так повелел человек …« – »Gegen die Sorgen, gegen den Krieg, stehen sie für uns, unsere Jungs. Sonne für immer! Glück für immer! So lautet der menschliche Befehl!«
Kaum hörbar summte Paul die Melodie mit.
*
Jonathan lag neben Alexej, einem viele Jahre älteren Mann, im Graben. Das war keineswegs ein Schützen-, sondern ein alter Straßengraben, der sich entlang einer längst verwilderten Straße zog. Feuchtigkeit kroch unter die Kleidung, Jonathan fror, doch die Angst ließ ihn die Kälte vergessen. Aus der Stadt kommend krochen unscheinbare Nebelschwaden durch den Wald, die der Wind schon bald verweht haben würde.
Alexej, der wesentlich besser sprach als die meisten Abtrünnigen, nutzte ein älteres Fernglas und beobachtete die Rümpfe der riesigen Fahrzeuge.
»BAT2000«, flüsterte er. »Fünf davon! Es werden also viel mehr Spunde sein, als wir bislang vermutet haben. Und sie haben die Richtung geändert. Es scheint, als wollten sie unsere Straße nutzen.«
»Soll’n Sprengkörper einsetzen?«
»Das wird ihre Ankunft verzögern, aber nicht verhindern. – Komm!«
Beide zogen sich einige Hundert Meter in den Wald zurück. Alexej sprach mit Jegor, dem Kommandanten. Der wies an, in aller Schnelle mit den bereitgelegten Bäumen die Straße zu versperren. Es war schwere Handarbeit, bis die fünfzig Männer etwa zehn der großen Kiefern auf der Straße platziert hatten.
Jegor ließ die letzten vorhandenen verbotenen Sprengladungen unter der Brücke anbringen. Diese führte vor der dürftigen Stadtsicherung über ein nicht sonderlich gewaltiges Flüsschen. Zwei Männer blieben zurück, die anderen verteilten sich im dichten Wald vor dem Stadtrand.
Jonathan lauschte. Schon heulten die hässlichen Turbinen der BAT2000 in unmittelbarer Nähe! Er zauderte. »Sollten’s Volk ins Rückland schicken«, schlug er vor und sah abwartend hinüber zu Jegor.
»Ist zu spät, Jonathan. Längst zu spät.«
Die ersten Spunde näherten sich, ihre zerstörerischen Waffen im Anschlag. Jonathan kannte die gräulichen Projektile, die in fast jedem Körper stoppten, um eine halbe Sekunde später zu explodieren. Sie kamen wie Nadeln geflogen, wenn die Spunde gleichzeitig im Dauerfeuer schossen, zerrissen Mauern, Türen und Leiber.
Noch schwiegen die Waffen. Vielleicht ahnten die Spunde nicht, was für eine große Enklave vor ihnen lag.
Sie liefen in engen Linien, jeweils fünfzig Spunde dicht nebeneinander. Alle sahen gleich aus, denn sie trugen homogene graue Uniformen. Und sie zeigten keine Gesichter, die blieben hinter spiegelnden Visieren versteckt.
Die ersten Kolonnen trafen auf die Barrikade. Wie Ameisen stürzten sie sich darauf und zerrten die großen Bäume mühelos aus dem Weg.
Ein BAT2000 fuhr in die vordere Linie, schob die Barrikade gänzlich zur Seite, stoppte mitten auf der Straße und klappte geräuschvoll gewaltige Behälter auseinander. Unzählige Luken öffneten sich, aus denen die tödliche, graue Masse herausquoll. Zweitausend weitere Spunde nahmen Aufstellung, vereinigten sich mit denen, die ohnehin bereits zu Fuß marschierten.
Jonathan dachte an den kleinen Paul, dachte an seine Tatjana, ein zartes Mädchen, das sich oftmals mehr zutraute, als ihr Körper bewerkstelligen konnte. Das Haus war nicht weit vom Stadtrand entfernt.
»Wir ziehen uns in die Stadt zurück!« Jegor, der diesen Krieg seit siebenundsechzig Jahren miterleben musste, lief bereits durch den Graben. »Gleich sprengen wir die Brücke!«
Die war nur eine Biegung der Waldstraße von den Angreifern entfernt. Die Spunde konnten die Brücke noch nicht sehen, aber lange würden sie von der fehlenden Verbindung nicht aufgehalten werden. Die Hänge zum Flüsschen waren flach und leicht zu überwinden.
Mit schweren Beinen folgte Jonathan Jegor. Laub raschelte unter seinen Füßen.
Detonationen erschütterten den Waldboden, die Druckwelle ließ Bäume schwanken, Dreck flog durch die Luft. Als sich die Männer im Graben erhoben hatten, sahen sie vor sich, unmittelbar am Waldrand, die grauen Schatten! Die Spunde kamen nicht nur von hinten, sie kamen auch von der Seite!
»Черт ублюдки!«, zischte Jegor in der verbotenen Sprache. »Verdammte Bastarde!«
Die Männer hetzten weiter, entfernten sich aber von der Stadt. Aus allen Richtungen kamen plötzlich diese Spunde! Sie mussten den Überfall detailliert geplant haben.
Hektisch schaute sich Jonathan um. »Da! Rettungsbaum!«, rief er, kroch auf einen außergewöhnlich hohen Baum mit dichter Krone zu und erklomm bereits, gefolgt von den Kameraden, die ersten Stufen einer Leiter aus Seilen. Solche Bäume waren selten, sie wurden von den Neumoskauern nur für absolute Notfälle eingerichtet. Weit oben, im Schutz der Krone, gab es ein Baumhaus, das Jegor, Jonathan und zwei weiteren Männern Schutz bot. Die Leiter wurde eingeholt. Jegor gab das Fernglas Jonathan, der nun versuchte, etwas zu erkennen. Jonathan aber sah nichts außer den unzähligen Spunden, die ohne Pause auf die Stadt zustampften. Dann hörte er die ersten zischenden Projektile, kurz darauf die knallenden Detonationen.
»Wir müssen …«, entfuhr es ihm.
»Ja. Wir müssen ihnen helfen. Doch können wir es nicht. Es ist unmöglich, Jonathan, wir wären sofort tot. Noch bevor wir den Boden erreicht hätten. Damit würden wir nichts erreichen. Viele Schlachten haben wir gewonnen, aber diese werden wir wohl verlieren, mein Junge.«
Jonathan war nahe daran zu verzweifeln. Verlieren? Nichts tun sollte er? Aber Paulchen! Und Tatjana! Der junge Mann weinte und verfluchte Die Zehn und ihre verdammten Spunde. Erbarmungslos bohrte sich das Prasseln explodierender Projektile in Jonathans Gehirn.
Inbrünstig flehte er, irgendjemand möge Tatjana und dem kleinen Paul beistehen, damit die Spunde sie nicht fanden.
Freund Räudiger Paul
Passus 3
Ausschließlich Privilegierte Beamte und Staatseigene der EDR haben das Recht, im Schutze der Kuppelstädte zu leben.
Völlig außer Atem erreichte Simo den Tunnel, der zum Rottenquartier führte, eine künstlich gebaute, recht große Höhle, auf der Westseite in den Apenninen gelegen. Sogleich empfand er die ihn umgebende Dunkelheit als einen Kerker, blickte zum wiederholten Male zurück ins Tageslicht, zurück in die Freiheit. Erst dann ging er mit erhobenem Haupt auf das Menschenkind zu, das bereits auf ihn zu warten schien.
01-Spundgruppenführer-Elia stand dort und lauerte – breitbeinig, als wäre er die Rottenführerin persönlich. Schräg hinter Elia stand Linu, die Nummer 13, der Spundzweigboss von Simos Zweig, der jedoch in Elias Anwesenheit nichts zu sagen hatte.
Ohne jedes Wort stellte sich Simo vor dem Spundgruppenführer in Position, mit leicht geöffneten Beinen, den Oberkörper durchgedrückt, die Arme im Rücken, das Visier heruntergerollt. Stolz zeichnete sein Gesicht darunter.
Elia wollte Simos Stolz nicht entdecken. »Raum K8. Übung 26.« Das war alles, was er zu sagen hatte.
›Schwanzloser Rattenfurz‹, dachte Simo, sprach die Beschimpfung jedoch nicht aus. Im Visier blinkte die Güte 90. Selten hatte ein Räudiger diesen Wert erreicht. Und dabei hatte Simo unheimlich viel Zeit mit 12-Spund-Juli verplempert. Auf dem Rückweg hatte der Kleine die Hilferufe Julis gehört, hatte so plötzlich gestoppt, dass er der Länge nach ins Gras gerutscht war. Und als er sich hochgerappelt hatte, um zu helfen, hatte er entdeckt, dass bereits jemand am Abgrund stand, um Juli zu helfen. Simo hatte sich nicht noch einmal umgesehen, war blitzschnell zum Tunnel gehastet.
»Yäh, 01!«, rief er, drehte sich um und rannte durch den Tunnel. Am Terminal kniete er ab, schlüpfte geschickt aus dem Pelz und warf ihn in die Klappe, dann lief er im Laufschritt in einen Nebentunnel, stellte sich vor Tor K8 und trat ein, nachdem sich das Tor geräuschvoll geöffnet hatte.
In der Halle kämpften bereits vier Paare. Unter anderem war Paul zugegen, der eine Übung ohne Waffe gegen 35-Spundzweigboss-Marv führen musste, einen Educares, der Paul in allen Belangen überlegen war. Was für ein unfairer Kampf!
Simo blickte hoch zur Tafel und traute seinen Augen nicht. »Kampfplatz 9, Übung 26 : 17-Spund-Simo gegen 12-Spund-Juli«, stand in einer flimmernden Zeile geschrieben. Er ausgerechnet gegen Juli im Nahkampf? Was war das für ein blöder Zufall? Übung 26 war Nahkampf mit Keule. Aus einer Halterung nahm Simo einen länglichen Kunststoffstock, der mit beiden Händen geführt werden musste, weil er ansonsten schnell zu schwer wurde.
Kaum hatte sich das Tor geschlossen, da öffnete es sich wieder und Juli trat ein. Auch er griff sich eine Keule und schritt wortlos zum Kampfplatz 9, einem kreisrunden Segment. Nachdem Juli das Segment betreten hatte, senkte sich die undurchlässige, zwei Meter hohe Plastikglasumrandung. Ein Entweichen war nun unmöglich.