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Die Zeit mit den Kindern vergeht naturgemäß schneller als die eigene Kindheit – welches Kind nähme vorausschauend das Ende dieser Unbeschwertheit vorweg!
Und weiter führt ihn der Weg zurück in die Erinnerung, in ein Dorf, in eine Stimmung am Samstagnachmittag, da könnte tatsächlich leichthin eine sentimentale Sehnsucht nach der eigenen Kindheit aufsteigen. Kolja ist in einer solch kleinen Welt aufgewachsen.
Als hätte sie einer für ihn dorthin bestellt, stehen zwei Männer mit einem Besen zwischen den Beinen auf dem Bürgersteig, im Gespräch miteinander und unverhohlener Neugierde in den Augen, als Kolja sie mit einem Nicken grüßt. Stehen vor ihren Gärten und werden all das Zeug da brav essen, Erbsen und Bohnen, Kartoffeln und Möhren, mit Fleischwürsten dazu und gebratener Leber, und hinter den Gemüsebeeten leuchten in satten Farben weiße Margeriten, roter Mohn, gelbe Schafgarben. Stockrosen in tiefem Altrosa ragen kopfhoch darüber, lichterfüllte, leuchtende Flecken, wie Kolja sie von unzähligen Sommern her kennt.
Was fehlt, schwingt wie von selbst hinzu, und Licht und Töne und Stimmen schlüpfen durch einen Spalt, als hätte sich plötzlich eine Tür geöffnet, und ein Gemisch an Bildern aus seinem Dorf strömt Kolja entgegen, umschließt die zwei Straßenkehrer, und schon ist alles eins, der Geruch frischen Heus und das Geläut der Glocken, das Werkeln und Klappern aus düsteren, niedrigen Scheunen und ein Traktor mit einem polternden Anhänger und hinter dem Lenkrad einer dieser alten Männer, wie sie in alle Ewigkeit zu Feld und Wiese fahren werden, dürr-ledrige Greise, die speckige Mütze tief in die Stirn gezogen.
Es bleibt bei den zwei Alten vor ihren fleißig genutzten Gärten. Kolja glaubt, im Weitergehen ihre misstrauischen Blicke auf seinem Rücken zu spüren.
Nach ein paar Schritten biegt er in eine Straße, in ein Viertel ein, das junge Familien bewohnen. Plastikspielzeug und Kinderräder, eine Unmenge kleiner Schuhe und Stiefel vor den Haustüren, bunte Papptiere kleben an den Fensterscheiben. Junge Väter machen sich am Haus zu schaffen oder kicken auf der Straße mit ihren Söhnen, während ihre Frauen mit einer Gießkanne prüfend zwischen Blumentöpfen hin- und hergehen.
Die Gärten sind schmal und klein, mit Bambussträuchern, Olivenbäumchen und breitblättrigen Kiwis aufgepeppt, die sich an verschnörkelten Eisengittern emporwinden.
Kolja durchquert das Neubauviertel, als hätte er es eilig. Knappe fünfzehn Jahre hat er in einem solchen Reihenhaus verbracht, eben die Jahre, in denen seine Söhne Kinder waren. Wie an jede andere Verbindung mit Menschen erinnert sich Kolja der vergangenen Lebensphasen vor allem gemäß des eigenen Anteils daran, sie zu beenden. Die eigene Kindheit hatte Kolja mitsamt dem Dorf in der Gewissheit hinter sich gelassen, jenseits dessen Grenzen könne ihn nur Besseres erwarten. Zwanzig Jahre später verabschiedeten sich seine Kinder in der gleichen Haltung von ihren Eltern, kaum älter als Kolja damals.
Früh war Kolja von zuhause fortgegangen, da waren ihm die vertrauten Gesichter und Plätze des Dorfs schon seit langem reiz- und geheimnislos geworden. Selten kehrte er zurück um zu sehen, wie die Heimat im Laufe der Jahre jünger wurde und die alten Plätze verschwanden, gleich glatt gezogenen Falten.
Das Land war einst gesprengelt, der Fluss zerfranst gewesen, die Leute hatten nach ihren Häusern gerochen. In den letzten Jahren, ohne den Beistand der Mutter, wurde der Vater dem Haus ein achtloser Hüter, bis Kolja es nach dessen Tod rasch verkaufte.
Für die letzten sechs Jahre, die Kolja in Frankfurt verbrachte, wird ihm Karlsruhe keine Kulisse liefern können. Von seiner Wohnung im zwölften Stock fiel sein Blick auf die endlose Bewegung der Züge, wie sie langsam in den Bahnhof glitten und ihn wieder verließen. Tausende von Menschen drängten sich jeden Tag in den Bahnhof hinein. Sechs Jahre lang gehörte Kolja zu dieser Menge und fand in müder, alltäglicher Routine früh morgens den Weg zu seinem Gleis.
Unzählige Menschen, die am Morgen in die Stadt hineinströmen und sie am Abend wieder verlassen, solche Szenen wird Kolja in Karlsruhe nicht erleben. Nur eine gute Stunde Zugfahrt liegt zwischen den Bahnhöfen der beiden Städte. Eine kurze Zeitspanne, die Kolja zum Glauben verleitete, er brauchte den Folgen seines Umzugs von der einen zur anderen Stadt kaum Bedeutung zu schenken. Die Tage in Karlsruhe würden sich kaum von jenen in Frankfurt unterscheiden. Nach der Arbeit sollten da und dort ein paar leere Stunden am Abend bleiben, an den freien Wochenenden fühlte sich Kolja schon lange nicht mehr an einen Ort gebunden.
Nun wird es ihn erheblich mehr Mühe als erwartet kosten, seine Lebensweise hier fortzusetzen, das Empfinden seiner selbst, gegen das ermüdend Provinzielle, das Kolja bereits nach ein paar Tagen glaubt abwehren zu müssen.
Ein solch aufgeregtes Treiben wie hier im Vorfeld des Papstbesuches wäre unvorstellbar in Frankfurt, und ebenso undenkbar ein solches Gespräch wie gestern Abend auf der Geburtstagsfeier. Selbst diesen abgeklärten Juristen scheint der neue Papst tatsächlich in Unruhe zu versetzen. In Gedanken streift Kolja über den Kreis seiner Bekannten in Frankfurt. Keiner von ihnen stellte sich jemals ernsthaft die Frage nach einer möglichen Erlösung der Nazi-Opfer oder gar nach der Schuldigkeit Gottes, den Menschen Gerechtigkeit widerfahren zu lassen.
Ob sie aus dieser Enge erwächst, die übertriebene Aufmerksamkeit für dieses Papstspektakel? Die meisten der Gäste gestern Abend haben ihr Leben in oder im Umkreis der Stadt verbracht und halten es der Rede wert, wenn sie ein paar Jahre davon in Mannheim oder Stuttgart zubringen mussten. Die wenigen, die Karlsruhe während des Studiums verlassen hatten, schienen nach vier, fünf Jahren erleichtert zurückgekehrt zu sein.
Kolja weiß nur zu gut um das, was sie ihm voraus haben. Mittlerweile glaubt er es selbst, dass die Vertrautheit, die das Kind zu der Landschaft seiner ersten Jahre entfaltet hat, kein zweites Mal glücken kann, so viel Bereitschaft der Hinzugezogene auch zeigt.
Was er mit den Leuten in seinem Heimatdorf teilt, könnte Kolja keinem Fremden erklären. Obwohl er weniger als die ersten zwanzig Jahre in diesem Dorf verbracht hat, ist es in ihn eingesunken, wie die Leute dort reden und gehen, wie sie einander anschauen – und das einmal gefällte Urteil zeitlebens wiederholen, da reicht ein kurzer, wissender Blick. Ein Blick, genauso entschlossen und stumm wie ihre Haltung am Sonntagmorgen im hinteren, dunklen Teil der Kirche.
Wie sie vor vierzig Jahren dort standen, als Kolja ein Kind gewesen war. Eigenarten sind seinem Dorf unwiederbringlich verloren gegangen, nicht anders als überall.
Wie ein magerer, missratener Finger streckte sich das Bahnhofsgebäude aus dem Dorf heraus. In der Spitze des Fingers, in der Bahnhofswirtschaft, saßen ein paar Alte hinter ihren Karten, ihren Gläsern, behütet vom Wirt. Mittels knapper, mürrischer Zurufe hielt er die lahme Herde unter dem Schein der tief herabgezogenen Lampe zusammen.
Grundlos tat sich im Dorf so leicht keiner mit einem anderen zusammen. Die Alten wachten an seinem äußersten Winkel, und damit kein Fremder, kein Anreisender misstrauisch wurde und auf den Gedanken verfiel, das Dorf sei schutzbedürftig, taten die Männer, als ob sie spielten und kamen Abend für Abend auf dieser Fingerspitze zusammen.
So legte sich Kolja als Kind den Zweck dieser beharrlichen Runde zurecht.
Bis zu seinem Umzug nach Karlsruhe genoss es Kolja, während der Wartezeit zwischen zwei Zügen in der Lounge über den Gleisen zu sitzen, in diesen tiefen, roten Sesseln, fremde Menschen zu betrachten und innerlich fortzubleiben, obwohl es keine zehn Minuten gebraucht hätte, um sich in seiner Wohnung ein wenig auszuruhen.
Botanischer Garten
Die junge Frau des Juristen steigt ihm aus eben jener Straßenbahn entgegen, die Kolja hätte nach Hause bringen sollen. Er bleibt stehen, und wäre genauso gut mit einem netten, flüchtigen Gruß in die Bahn hinein an ihr vorbei gewesen.
Selbstverständlich erkennt sie ihn sofort wieder.
„Hallo! Haben Sie sich unsere schöne Stadt angeschaut?“
Kolja nickt.
„Von der Pyramide zum Schloss, über den blauen Weg bis zur Majolika, man ist ja schnell fertig damit.“
„Der blaue Weg?“
„Ja, die 1.645 blauen Kacheln, die vom Schloss aus über die große Wiese bis zur Majolika führen, da sitzt man ganz nett in diesem Hof.“
„Das habe ich wohl verpasst.“
„Na, dann schauen Sie mal bei Ihrer nächsten Tour vorbei, Sie bleiben doch noch eine Weile hier, oder?“
„Ja, schon.“
Sie kommt Kolja einen Schritt näher. Weshalb sie in diesem Augenblick beschließt, ihn kennenlernen zu wollen, verscheucht sie mit einem verlegenen Lächeln, und macht sich zugleich selbst Mut dazu mit einem ungewollten, ruckartigen Nicken. Die offenen Haare fallen ihr ins Gesicht, und Koljas Blick hakt sich fest an der Kette um ihren Hals, feine, goldene Glieder auf sonnengebräunter, glatter Haut. Diese Neigung zwischen Schlüsselbein und Schulterblatt, und wenn der eine Finger über die obere Vertiefung gleitet und der zweite diesem harten Knochen folgt und beide sich berühren in dieser Mulde, bevor sie ... , jede Frau beginnt Kolja an dieser Stelle zu erkunden.
„Sie waren etwas verwirrt gestern Abend, stimmt’s?“
„Ja, stimmt.“
Wahrscheinlich läuft sie Marathon oder betreibt sonst einen Ausdauersport, ein magerer, fast knochiger Körper, die enge Jeans und das knappe, weiße T-Shirt stellen ihn weitaus deutlicher zur Schau als die weite, lange Jacke, die sie gestern Abend trug. Gestern schätzte Kolja sie jünger ein. Könnte sogar sein, dass sie zwei Kinder großgezogen hat, eher von einem anderen Mann als von diesem kleinen Juristen.
„Der Papstbesuch ist schuld, alle reden jetzt von solchem Zeug. Fritz verpasst keinen Fernsehauftritt von dem Kerl, als könnte er ihm an der Miene ablesen, was den tatsächlich antreibt. Sind Sie etwa auch katholisch?“
„Früher mal.“
„Ach, auch ausgetreten! Habe ich mit achtzehn hinter mich gebracht. Der Verein ist doch ’ne Zumutung für jeden, der vernünftig denken kann. Und das Getue jetzt, wenn der Papst mal ein paar Häftlingen die Füße wäscht. Haben Sie gewusst, dass die Felgen des Papamobils vergoldet sind? Da war für mich endgültig Schluss, aber wir gehen besser mal zur Seite.“
Das Gebimmel einer nahenden Straßenbahn, sie kommt laut scheppernd zum Stehen. Die Frau fasst Kolja am Ärmel und schiebt ihn vorbei an dem Gedränge, steuert ihn um die Pyramide herum. Touristen und lärmende junge Kerle bevölkern am Sonntagnachmittag den Marktplatz. Rentner in beigen Leinenjacken mitsamt ihren Frauen in hellen Kostümen halten sicheren Abstand zu einer Gruppe schwarzgekleideter Punks, viel zu gleichgültig, als dass sie in ihren schweren Lederklamotten, klobigen Stiefeln und den glänzenden Metallringen rund um den Kopf provozieren wollten.
Kolja streift dicht an einem Jungen vorbei, dessen schmale, dreckige Finger geschickt eine Zigarette drehen. Er sitzt auf dem Boden, Rücken und Schultern hat er wie eine Katze eingezogen.
Der Junge sieht auf, blickt Kolja geradewegs ins Gesicht.
„Haste mal ’nen Euro, Alter?“
Rehbraune, junge Augen, und ein freches Grinsen, in dem das Vergnügen des Kindes mitschwingt, dem es unverhofft gelungen ist, einen Erwachsenen zu verblüffen.
Die Frau sieht ihm tatenlos dabei zu, wie Kolja nach seinem Geldbeutel greift und vergeblich nach einem Fünf-Euro-Schein sucht. Münzen hat er keine, unmöglich kann er dem Jungen zehn Euro schenken.
Sie scheint nicht gewillt, ihm auszuhelfen, wirkt vielmehr erstaunt, fast ungeduldig-verärgert.
„Tut mir leid, ich habe kein Kleingeld dabei.“
Der Junge quittiert es mit einem mitleidigen Grinsen. Im Blick der Frau liest Kolja bloß Unverständnis. Hilfloses Zaudern ist sie von ihren sonstigen Begleitern offenbar nicht gewohnt. Kolja durchzuckt es, sich wortlos umzudrehen und wegzugehen. Seit langem fehlt ihm der Elan, eine neue Bekanntschaft zu beginnen, wenn sich nicht auf Anhieb etwas wie Wohlwollen und Gleichklang einstellt.
„Macht nichts, Alter. Trotzdem viel Spaß mit Deiner Puppe!“
„Ich heiße Simona, und Sie?“
Erst jetzt kommt es Kolja in den Sinn. Bis zu diesem Augenblick sind sie tatsächlich einander namenlos Seite an Seite durch die Stadt gelaufen. Vermutlich wartet sie insgeheim seit zwei Stunden darauf, wie lange es brauchen wird, bis ihm endlich ihr Name fehlte.
„Kolja.“
„Na, das passt doch. Wir können uns duzen, oder?“
„Ja, schon. Aber es braucht eine Weile bei mir, bis ich mich darauf eingestimmt habe.“
„Geht mir gar nicht so. Du hast kein Wort gesagt zu dem Bild eben in der Kunsthalle, ich meine das von Grien!“
„Wahrscheinlich bin ich insgesamt eher langsam, und dazu ziemlich unerfahren, was Kunst angeht.“
„Warte ich eben.“
Simona streckt ihr Gesicht der Sonne entgegen, lässt sich zurückfallen an die Rückenlehne der Bank und schließt die Augen.
Mattes Lavendelblau durchbricht kräftiges Rosenrot, darüber schwingt lichtes Schleierkraut dem Himmel zu.
Der Botanische Garten gehört zu Karlsruhes Attraktionen. Kolja fühlt sich hier endgültig zurückversetzt in jene Zeit, an jene Plätze, zu denen das Wort Promenade passt, und Tanzcafés, Ausflugsdampfer, Ansichtskarten. Ein fast erzwungenes Dämpfen jeglicher Lebensfreude. Wieder scheint es Kolja, als gehöre dieser Platz bereits einer Vergangenheit an, mitsamt dessen müßigen Besuchern, denen der Anblick solch raffinierter Blumenpracht genügt und ein Kaffee unter der filigranen Stahlkonstruktion der Orangerie.
Als Lustgarten war dieser Teil des Schlossparks gedacht, mit Gewächshäusern, Volieren, Grotten und Brunnen. In seiner streng formalen Anlage erwuchs ihm bald seine besondere Eigenart zu innerhalb des übrigen Schlossparks und dessen freizügig-offener Gestaltung.
In Simonas Worten klang dies weitaus schnoddriger, während ihrer improvisierten Führung eben.
Ein seltsamer Zufall, der sie heute Mittag zusammengeführt hat. Kolja lässt seinen Blick auf ihr ruhen. Sie reagiert nicht darauf und genießt zugleich die Aufmerksamkeit, hellwach unter ihren geschlossenen Augen. Kolja spürt die Spannung ihres Körpers.
Den ersten Fragen nach Koljas Eindrücken der Stadt hing ihr schlechtes Gewissen an wie überflüssige Dankesworte einer längst erfüllten Bitte. Sie wollte es gutmachen, was Fritz sich gestern an Unhöflichkeit gegenüber einem fremden Gast herausgenommen hat. Aber nicht jedem von Fritz’ Opfern hätte sie zum Ausgleich einen gemeinsamen Nachmittag angetragen – oder mehr, wenn es allein in ihrer Hand läge und Kolja ihre Blicke eben nicht zu selbstgefällig deutet. In den vergangenen zwei Stunden war Kolja in Simonas Augen zu Fritz’ Gegenspieler und offenbar zu ihrem eigenen Retter gewachsen. Wahrscheinlich fällt ihm diese Rolle nach einer Reihe von Vorgängern zu.
Kolja schiebt Simona zu der Sorte Frauen, die auf Reisen den eigenen Geldbeutel am sichersten unter dem Hemd ihres Begleiters aufgehoben glaubt, und alles an unerfüllten Sehnsüchten gleich dazu steckt.
Wie er ist sie neu in der Stadt, mit dem Auftrag, ein neues Tourismuskonzept für die Stadt entwerfen. Ausgerechnet Karlsruhe hat sich dazu eine Fremde eingestellt. Zu Fritz war sie zwei Jahre lang wochenends gependelt. Mit dem Angebot dieser Stelle tat sich vor einem knappen halben Jahr die Gelegenheit auf, gemeinsam in einer Stadt zu wohnen. Es gibt tatsächlich einen Sohn aus einer geschiedenen Ehe, er verbringt dieses Wochenende bei seinem Vater. Karlsruhe hätte sich dieser Junge kaum als Wohnort ausgesucht, hätte er seiner Mutter nicht gezwungenermaßen folgen müssen. Die üblichen Schwierigkeiten, Simona hatte es sich leichter vorgestellt und mehr Einklang erwartet, zwischen ihrem Sohn und „meinem Freund“. So redet sie von Fritz.
Nun beschreibt sie im Auftrag der Stadt, was Karlsruhe einem Fremden zu bieten hat. Hans Baldung Griens Bild war heute Mittag eine ihrer ersten Stationen, „Die Geburt Christi“ gehört zu den Glanzstücken des Besitzes der Kunsthalle.
Dem Zufall ihres Zusammentreffens müsste Kolja dankbar sein. Gestern Abend war sie Teil der fremden Runde, jetzt sitzt sie an seiner Seite auf der Bank, mit einer größeren Bereitschaft, als sie in Worten benennen könnte oder sich selbst eingestehen würde.
Wieder hat Kolja gestern Abend unbefragt eine Gruppe fremder Menschen als Einheit gedacht, sie zusammengeschweißt und sich als Einzelner ihr gegenübergestellt.
Wie oft gerät jedermann in eine solche Lage, dass alle anderen sich scheinbar kennen, zumindest die Erfahrung teilen, bereits ohne „mich“ zusammen gewesen zu sein. Dazu reicht ein Zugabteil mit drei, vier Reisenden, in das Kolja hinzusteigt, jedes Mal in der ihm zur Gewohnheit gewordenen Annahme, dass die dort Sitzenden bereits eine Gemeinschaft bilden. Dabei gibt es keine einzige Erinnerung, die diesen Verdacht bestätigt hätte, während Koljas vieler Zugfahrten, dass ihm einer bloß zugenickt hätte, in stummem Einverständnis, nachdem ein anderer sich verabschiedet hatte.
Setzt sich darin die erste Erfahrung von Gemeinschaft fort? Eine verschworene Gemeinde, wie ein kleines Dorf, erkennt sofort und beobachtet sorgsam jeden Fremden. Oder verfahren die meisten Leute nicht ähnlich?
Simona öffnet die Augen.
Mit einem verschämten Lächeln weicht sie der Erklärung aus, warum sie sich den Anschein gibt, als kehre sie aus Träumereien zurück.
„Und, hast Du Deine Gedanken mittlerweile geordnet?“
Sie streckt sich nach allen Ecken, wie ein eben aufgewachtes Kind, neigt den Kopf zur Schulter und sieht Kolja unschuldig an. Es fehlte nur noch, dass sie sich die Augen reibt.
„Ein gelungenes Bild, würde ich sagen.“
„Hey!“
Sie richtet sich auf.
„Jetzt bin ich ja mal gespannt.“
Ihr fester Entschluss, ihm einen Vorschuss zu geben, liegt blank und offen in ihrem Gesicht, und Kolja weiß nicht, warum und auf was.
„Weil alles drinsteckt, was Du mir eben erklärt hast.“
„So leicht kommst Du mir nicht weg!“
„Wer ist denn hier der Kunstexperte? Ich kann Deinem Urteil nur zustimmen.“
„Und Du hast selbst überhaupt nichts darin entdeckt?“
Sie schiebt ihre Beine unter den Hintern und wippt leicht im Schneidersitz vor und zurück. Das Licht der Abendsonne bricht zwischen zwei Wolkenstreifen auf und eine überraschend schöne Sanftheit entspannt ihr Gesicht.
Sie jetzt an den Schultern fassen, die Hände an ihre Wangen legen und auf dieser warmen Haut wandern lassen – Kolja senkt den Blick zu Boden.
Sie könnte fast seine Tochter sein, viel zu unbedarft jung für ein Liebesverhältnis und für eine schwesterliche Freundin zu bedürftig, zu schwach. Seit ein paar Jahren gelingt es Kolja meist überraschend schnell und gut, das ab und an drängende Verlangen nach einer Frau zu besänftigen mittels der zur Genüge wiederholten Erfahrungen. Viel zu oft spannte sich gereizter Überdruss erschreckend bald über die anfängliche Begierde.
Er hält die Augen auf den Boden gerichtet. Simona würde es nur falsch deuten, was ihr sein Gesicht in diesem Moment an Nähe verspricht.
In der nüchternen Einschätzung, dass Kolja an diesem Gespräch über Kunst nichts liegt, nicht jetzt, treibt Simona das Spielchen weiter. Mit Blicken, scheinbar zufälligen Gesten, in ihrer Absichtslosigkeit nur umso verräterischer, sucht sie die Stimmung leichthin auszuweiten, als hinge sonstwas daran, Kolja für sich zu gewinnen.
„Oder ist das Gerede schuld, der Papst und Jesus an allen Ecken und Enden, dass Du keinen Spaß hast an dem Bild?“
Selbst Koljas Mitleid wäre Simona ein Funken Glut für ihr glimmendes Feuerchen an Hoffnung. Kolja ist das Geplänkel mit einem Mal leid. Zu Grien fällt ihm in der Tat nichts ein. Er sucht nach Eindrücken von vor Jahren besuchten Ausstellungen.
„Reichen denn nicht alle guten Bilder darüber hinaus, was sie abbilden, oder führen tiefer, wie immer Du es nennen willst.“
Da grinst sie, als sei ihre Strategie geradewegs aufgegangen, und Kolja endlich auf ihre Spur eingeschwenkt, ja als sei statt ihrer Kolja nun in der Not, mittels der Rede über die Kunst allem anderen auszuweichen, was an diesem Nachmittag ebenso gut beginnen könnte.
„Nenne mir mal ein Bild, an das Du jetzt denkst!“
Die Frage hat Kolja erwartet.
„Morandis Vasen und Krüge zum Beispiel. Sein Leben lang hat er nichts anderes gemalt und gezeichnet, immer wieder die gleichen Gefäße, mal in dieser, mal in jener Stellung. Nie im Leben stünden so viele Menschen vor seinen Bildern, ginge es bloß um diese Karaffen oder Flaschen.“
„Und worum geht es dann?“
Kolja zögert, sucht nach etwas in Simonas Blick jenseits dieses Spielchens, bevor er weiterspricht.
„Auf mich wirkt es, als wollte Morandi durch diese Krüge hindurchdringen, bis hin zu ihrer Auflösung oder Einswerdung mit ihrer Umgebung, mit dem Tisch, auf dem sie standen, oder mit dem Blatt Papier, auf das er diese Linien und Striche setzte, ich weiß es nicht. Am Ende hat er seinen Anteil immer mehr zurückgezogen, mit ein paar feinen Linien Umrisse nur noch angedeutet. Da könnte die Rundung eines Krugs genauso gut ein Hügel sein, seine sanfte Kuppe.“
„Das kapiere ich nicht.“
Vorgetäuschtes Unverständnis, Kolja soll bloß nicht aufhören zu reden – er schließt die Augen, für Sekunden, und führt es fort.
„Fangen wir vorne an, bei der konkreten und abstrakten Kunst. Die eine hält an den realen Dingen fest, die andere löst sie auf, in Farben und Formen, die alles und nichts bedeuten können. Wir Betrachter übersetzen, füllen dieses Abstrakte wieder mit Ideen oder mit eigenen Erfahrungen, wie Du willst. Dieser Gegensatz greift nicht mehr bei Morandis Bildern. Seine Krüge bleiben erkennbare Krüge. Und zugleich lösen sich ihre Grenzen, bis sie am Ende mit dem Grund verschmelzen oder der Grund durch sie hindurch scheint. Dabei ist es doch dieser Grund, vor dem sie eigentlich erst Gestalt gewinnen.“
Simona wendet sich um, presst ihren Rücken an das seitliche Geländer der Bank und setzt sich im Schneidersitz provozierend dicht vor Kolja. Das T-Shirt spannt über ihrer Brust, deutlich heben sich die Brustwarzen darunter ab.
„Klingt ja fast religiös – mit dem Grund zu verschmelzen!“
Sie reizt es aus, neigt den Kopf zur Seite.
Kolja lehnt sich zurück.
„Da haben sich schon schlauere Köpfe dran versucht, es in präzise Worte zu fassen.“
„Versuche es doch mal ganz profan!“
Die Kette gleitet über ihre nackte Schulter. Gleichmäßig gebräunte, glatte Haut, die verführt, ohne dass Kolja mit mehr als seinen Augen darüberstreift. Abrupt löst er seinen Blick. Da lassen auch ihre Augen ab von seinem Gesicht, heften sich an irgendwas in Koljas Rücken, als wollte sie es ihm damit leichter machen, dass sie ihre Aufmerksamkeit von ihm nimmt.
„Hast Du es noch nie erlebt, Dich in etwas aufgehoben zu fühlen und dabei ganz leicht, ganz unwichtig zu werden?“
Ihr Blick schnellt zurück.
„Von was denn?“
Kolja zögert.
„Ich weiß es nicht. Aber Morandis Bilder erinnern mich daran.“
Er greift nach ihrer Hand und legt sie in seine beiden Hände, – was völlig unsinnig ist und was dieser Augenblick nichtsdestotrotz erzwingt.
„Malen widersetzt sich der Vergänglichkeit, indem es das Hier und Jetzt über die Zeiten hinweg bewahrt, so heißt es doch. Ich glaube, Morandi gelingt es gerade im Gegenteil, unsere Vergänglichkeit zu fassen – und das gibt seinen Bildern diese Ruhe. Mit unserem begrenzten Leben, als einzelner Mensch, sind wir vielleicht viel weniger etwas von allem anderen Getrenntes, das allein aus sich selbst Gestalt gewinnt, als wir es glauben wollen.“
„Nicht schlecht, was Du alles in Morandis Krügen entdeckst!“
Simona neigt den Blick hinab zu ihrer beiden Hände, und Kolja sieht auf ihre schmalen Schultern, folgt wieder diesen Linien zwischen Hals und Brust, wo die Haut sich straff über die Knochen spannt. Immer scheint ihm hier das Schutzlose auf, weil es so bloß, so offenbar vor Augen tritt, wie der Körper von der Haut umschlossen wird, dieser feinen, verletzlichen Grenze, unter der sich ein Inneres verbirgt, unberührbar, unbegreifbar – im Letzten die Seele, was sonst.