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Er spürt die Wärme ihrer verschwitzten Hand an seiner Haut und steht auf.
Der Park hat sich geleert. Sich selbst überlassen gewinnt er eine Würde, wie Kolja manchmal glaubte, sie aus großartigen Gemälden strahlen zu sehen, in menschenleeren Sälen.
„Glaubst Du, dass die Bilder unsere Blicke spüren?“
Kongress-Hotel
Weitaus schwerer als alle übrigen Besonderheiten der Stadt wiegt für Kolja die ganz und gar neue Erfahrung, sein Büro mit einem Zweiten teilen zu müssen. Ein harmloser Junge Anfang zwanzig namens Jan, gutwillig und in jeglicher Hinsicht sorglos, was die Zukunft betrifft. Von Kolja will er viel lernen und mit seiner Freundin zusammenziehen, sobald der Umbau des Dachstuhls im Haus seiner zukünftigen Schwiegereltern abgeschlossen sein wird. Daran hilft nach seinen Auskünften die gesamte männliche Hälfte der Familie am Feierabend kräftig mit.
Am vierten Montag in diesem Betrieb, während er die Treppe hinaufsteigt und sein Blick wie an jedem Morgen unweigerlich auf dem Lächeln der Pappfigur landet, eine fast lebensgroße Frau in dem blauen Anzug, den hier alle Arbeiter tragen, nimmt Kolja vorweg, was ihn gleich erwartet. Die Spielergebnisse seiner Mannschaft, Jan trainiert die Jungs des Fußballvereins, der ihm selbst bis vor drei Jahren jede Menge Siege verdankte.
Mit gleichgültiger Höflichkeit hört ihm Kolja zu, als hätte er keinerlei Erfahrungen auf diesem Feld. Jan wäre der Letzte, dem es einfiele, an Augenscheinlichem zu zweifeln. Da entschlüpft Kolja unbedacht sein Erlebnis mit dem kleinen Wüterich und dessen zweimaligem Platzverweis.
„Die hellblauen Schuhe hätte ich dem schon gleich verboten, solche Extravaganzen gibt’s bei mir nicht.“
Kolja nickt.
„Stimmt, wenn Unterschiede von vorneherein ...“
„Und dann hellblau, das geht gar nicht. Überhaupt, ich hätte den erst mal schmoren lassen, auf keinen Fall gleich wieder in der zweiten Halbzeit eingesetzt.“
Jan tippt mit seinem Stift ein paar Mal fest auf den Tisch, während Kolja seiner Sympathie nachsinnt, für diesen Kleinen, noch zu jung und unerfahren, um die eigene Überlegenheit auszuspielen, ohne sich damit den Neid aller Zweitklassigen einzukassieren – das Telefon klingelt.
Der Mann an der Pforte meldet einen Vertreter. Kolja erwidert, er werde Jan hinunterschicken.
„Nicht mehr als zehn, höchstens fünfzehn Minuten, mehr Zeit braucht es dafür nicht. Trinken Sie in der Kantine einen Kaffee mit ihm und versuchen Sie herauszubekommen, wie es bei den anderen läuft!“
Jan ist fast einen Kopf größer, sein Körper trainiert, elastisch – jünger. Kolja sieht auf Jans Rücken, bis die Tür hinter ihm zufällt, hört dessen schnellen Schritte auf dem Flur, steht auf und stellt sich ans Fenster.
Hohe Bambusbüsche auf dem Streifen Grün in der Mitte zwischen Reihen neuer Bürogebäude. Auch an seinem vergangenen Arbeitsplatz schwang Kolja Bambus entgegen. Es verbindet sich offenbar leicht mit den gängigen Attributen der Wirtschaft. Die feinen Äste schwingen mit jedem Windstoß, das lichte Blattwerk weist auf Tansparenz. Zudem wächst Bambus außerordentlich schnell. Der Grundstein zur Bebauung dieses Gewerbegeländes wurde erst vor drei Jahren gelegt. Bereits jetzt bietet es keine freien Flächen mehr. Vor allem junge Firmen siedelten sich hier an, die Stadt förderte den „Industrie- und Medienpark“ mittels billiger Bauplätze.
Kolja wird nichts Vernünftiges zustande bringen in diesem halben Jahr, Jan Tisch an Tisch gegenüber, acht Stunden am Tag. Falls es keinen freien Raum mehr geben sollte, wird Jan als Dritter seinen Schreibtisch in einem anderen Zimmer dazu schieben müssen – sonst hätten sich Koljas Auftraggeber das viele Geld für ihn sparen können.
Jan wird ihn bloß ratlos und enttäuscht anstarren, wie auch immer Kolja es begründen wird, dass er unbedingt ein eigenes Büro benötigt.
Eine Amsel hüpft auf dem Rasen hin und her, als steckte ihr ein aufgeblasener Luftballon im Bauch, springt senkrecht in die Höhe, ohne Flügelschlag, ohne Anstrengung, und plumpst genauso bewegungslos wieder zu Boden.
Eine Weile lang beobachtet Kolja den Vogel, bis den etwas aufschreckt und er plötzlich aus seinem Blickfeld verschwindet. Jan steht in der Tür und hält Kolja mit beiden Händen einen Stapel Werbeprospekte entgegen.
„Mann, war der hartnäckig, nächste Woche kommt er wieder.“
„Hat er denn was Neues zu bieten?“
Jan lässt den Packen auf den Tisch an der Wand fallen.
„Keine Ahnung, müsste man das Zeug da mal durchgucken.“
„Dann fangen Sie gleich an! Am besten legen Sie eine Liste der neuen Produkte an, einschließlich der zusätzlichen Funktionen und der geänderten Preise. Am besten an dem Tisch am Fenster, da ist mehr Platz.“
Bis zur Mittagszeit fällt kein Wort. Jan müsste es selbst wissen, dass alle Zulieferer ihre neuen Angebote online präsentieren und sich seine Arbeit in Minuten erledigen ließe. Kolja sieht keinen Grund, weshalb ein schlechtes Gewissen seine Entspannung während des Vormittags schmälern sollte. Eine Weile ruht sein Blick auf Jans Rücken, und Kolja verliert sich in der Vorstellung, welche Zuversicht Jans Freundin, die gesamte Familie aus diesem Kerl da vor ihm schöpft. Vom aufgeweckten Schuljungen zum voranstürmenden Fußballspieler, zum Controllingasisstant, zum Jugendtrainer, zum jungen Familienvater, Abteilungsleiter und Vereinsvorstand – Kolja tut ihm wahrscheinlich nicht unrecht mit dieser Reihe von Erfolgen, wollte man diese Stationen so nennen. Es wäre müßig, dem nachzugehen, was nötig gewesen wäre, um statt des vorgebahnten Wegs einen anderen Lebenslauf entstehen zu lassen. Letzte Woche hat Jan mit fast der Hälfte des Dorfes seinen zweiundzwanzigsten Geburtstag gefeiert.
Spätestens heute Abend wird Kolja über eine unverdächtig-harmlose Begründung für den notwendigen Raumwechsel nachdenken, nach dem letzten Saunagang, entspannt im Ruheraum. Auf keinen Fall darf der subtile Rauswurf Jans Ehrgeiz bremsen. Im Grunde ist er ja ein feiner Kerl.
Das Äußere des Kongresshotels lädt kaum dazu ein, in seinem Inneren nach Entspannung zu suchen.
Ein quadratischer, schnörkelloser Block, dessen Fassade von den dicht aufeinanderfolgenden hohen, schmalen Fenstern bestimmt wird. Die Stadthalle unmittelbar neben dem Hotel empfängt ihre Besucher mit einem prächtigen Säulengang. Wie eine Schwelle bietet er einen Übergang zwischen dem profanen Vorplatz und der Würde des Gebäudes.
Dies wird der schmalen Terrasse entlang der Längsseite des Hotels nicht gelingen. Statt auf einen begrenzten, überschaubaren Platz zu weisen, setzt sie die Gäste des Hotel-Restaurants dem beständigen Verkehr von Autos und Straßenbahnen aus, knappe zehn Meter von ihren Tischen entfernt. Wie ein hilfloser Versuch, dennoch Gäste anzulocken, spannt sich ein großes Transparent über die Terrasse, das in unübersehbar fetter Schrift den Preis verkündet, den kein Karlsruher für ein Sonntagsfrühstück zu zahlen bereit sein wird, Sommerbrunch hin oder her.
Durch die Errichtung dieses Hotels direkt neben der erst ein paar Jahre zuvor aufwändig im Stil des Klassizismus restaurierten Stadthalle würde der Platz seine Großzügigkeit und die Stadthalle die ihr angemessene Weite verlieren, so hat ihm Simona die Stimmung in der Stadt im Vorfeld der Entscheidung zu diesem Bau erklärt. Die Stadtoberen haben dennoch gegen den Bürgerwillen ihren Ehrgeiz durchgesetzt, inmitten der Stadt ein Hotel zu präsentieren, das keinen Anspruch heutiger Messebesucher unbefriedigt lässt.
Im Inneren der übliche Stil gehobener Hotelketten, eine dezente Einrichtung, Stahl, Glas und Schwarz, unaufdringlicher Luxus, leise, bedeutungslose Musik. In allem ein Hintergrund, der ebenso wie das beflissene Personal in gleich welcher Stadt eine Annehmlichkeit verspricht und erfüllt, die nur dann auffällt, wenn sie fehlt.
Oft genug hat Kolja in solchen Häusern übernachtet. Ansonsten wäre es ihm ebensowenig wie den Leuten hier in der Stadt eingefallen, die Sauna des Hotels zu benutzen, ohne dessen Gast zu sein. Nach zehn Uhr gehören ihm die Räume allein, manchmal schon um neun. Kaum einer der Geschäftsleute, die in diesem Hotel absteigen, scheint den Besuch einer Sauna als außerordentlich erholsam einzuschätzen.
Kolja mag die leichte Müdigkeit, die weiche Wärme seines Körpers, und nackt zu sein. Auf seinen Wunsch hin hat ein Livrierter eben die Musik hier im Ruheraum abgestellt.
Eine Stimmung, viel zu schade, um einen Gedanken an Jan zu verschwenden oder bloß an den nächsten Tag. Kaum steigt er am Abend die Treppe hinunter, an der blauen Pappfigur vorbei, verliert die Arbeit jede Bedeutung. Selbst während der Stunden im Büro denkt Kolja an dies und das, während er Analysen erstellt, Bewertungen verfasst, Änderungen vorschlägt, ganze Abschnitte niederschreibt, als hätte er sie auswendig gelernt. In diesem Unternehmen stellen sich die Dinge erstaunlich überschau- und lösbar dar, für Kolja nichts mehr und nichts weniger als eine halbjährige, recht entspannte Zwischenphase. Nach Karlsruhe wartet Wolfsburg, erst in einem Jahr wird er nach Frankfurt zurückkehren.
Kolja streckt seine Beine bis zum Ende des Liegestuhls aus, dehnt die Spitze des linken Fußes nach vorne und wendet ihn zu sich zurück, eine kleine Anspannung, um sich darauf einzustimmen, gleich aufzustehen. Selten sind seine nackten Füße der Sonne oder gar spitzen Steinen und Dornen ausgesetzt.
Zwei Wege gab es zu ihrem geheimen Versteck. Der gewöhnliche Weg führte an den Feldern entlang, mit freier Sicht über das Gewinkel der Häuser und Schuppen, ein erdiger, breit gefahrener Weg, staubiggelb im Sommer, tellergroße Pfützen später im Jahr. Zwei Mal am Tag traten ihn die Kühe fest und kahl. Das Kind lief ihn meist hinab, im Spiel, in Gedanken.
Den geheimen Weg hatten die Großen aufgegeben. Mit den Jahren hatte ihn einer der Bauern seinem Besitz zugeschlagen, als verwilderte Grenze an der Rückseite seines Hofs. Kopfhoch wucherten auf beiden Seiten Brennnesseln und verwehrten den Kindern einen Himmel voller Brombeeren.
Selbst nach einem Sommertag in der Grasmulde zwischen beißenden Blättern und dornigen Hecken waren zerkratzte Kinderbeine flinker als der lauernde Hund des Bauern.
Er streicht über Oberschenkel, Knie und Waden, über die glatte, trockne Haut und gibt sich dem Glauben hin, ohne sein Zutun habe sich nun eine Reinigung vollzogen, mit dem Schweiß sei der Schmutz aus ihm gedrungen, und diese Ruhe und Muße habe seinen Geist geklärt, von Banalem geleert – übertrieben laut stößt er den Atem aus.
Dabei gibt es keinen ernsthaften Gedanken, keine beständige Frage, die aufsteigen könnten, sobald das Alltägliche nicht weiter zerstreut. Karlsruhe erweckt in Kolja den Eindruck, als genüge es, ruhig seine Angelegenheiten zu betreiben, sieht man einmal von der Aufregung rund um den Papstbesuch ab – und diese Stimmung ist verführerisch. Wenn die Stadt schon nicht viel Spannendes zu bieten hat, warum denn nicht sich für ein halbes Jahr der Illusion überlassen, hier in der Provinz gingen die Dinge ihren rechten Gang, fernab der Krisen in der Welt.
Seine nächsten Stationen werden ihn früh genug aus dieser Enklave geistiger Trägheit vertreiben, wobei sich an seinem Zustand des Ungebundenseins so schnell nichts ändern wird. Mit dem Auszug der Kinder begann die Arbeit in wechselnden Städten und das Fehlen eines Alltags, wie ihn nur Familie schafft. Daran gewöhnte sich Kolja erstaunlich leicht und genießt es mittlerweile, dass es da niemanden mehr gibt, der mit Ansprüchen auf ihn warten könnte, Abend für Abend nach der Heimkehr aus dem Büro.
Kolja richtet sich auf, das Handtuch rutscht von den Hüften. Er lässt es zu Boden fallen und tritt darauf. Die Fußbodenkacheln sind unangenehm heiß.
Hier in Karlsruhe verschränkt es sich in seltsamer Weise, ein harmloses Umfeld und dazu keinerlei private Scherereien. Beides fehlt, Freunde und Bekannte mit den üblichen Sorgen und Nöten, und ebensowenig sind Kolja bislang Brüche oder Kerben im Stadtbild vor Augen geraten.
Aus anderen Städten kennt Kolja trostlose Viertel, mit seit langem aufgegebenen Fabrikhallen, Fenster und Türen mit Latten vernagelt, und Gebäuden, die unaufhaltsam der Rückkehr der Natur erliegen, Unkraut aus zerbrochenen Fensterscheiben und Efeu über eingefallenen Dächern. Im Umkreis der Stadt will man hier weder Gebäude noch Plätze der Verwahrlosung überlassen.
Es fühlt sich an, als zöge Karlsruhe einen Rand um sein Leben, einen leeren Streifen, der Woche um Woche breiter wird, dabei gibt es doch nichts in dieser Stadt, wozu Kolja Abstand schaffen, wovor er sich schützen müsste.
Zwei Mal hat Simona ihn in der vergangenen Woche angerufen um ihn einzuladen, sie auf ihren Stadterkundungen zu begleiten. Sie trägt es ihm zu offensichtlich an, als dass er diesen Wunsch erfüllen wollte.
Die Rezeption ist leer, Fernsehstimmen verraten die Anwesenheit des Abendportiers im Nebenzimmer. Mit einem Knopfdruck öffnet Kolja die Tür, geräuschlos gleiten die Glasscheiben zur Seite.
Während des kurzen Heimwegs begegnet ihm niemand auf der Straße. Kolja sieht in erleuchtete Zimmer. Geschwungene Lampen, bunt gefüllte Bücherregale, Landschaftsbilder und Fernsehflimmern, Zeichen der Geborgenheit am Abend, wenn alles getan ist und zwischen Eheleuten belanglose Sätze fallen, zu nichts weiter gut, als sich gedankenlos der jahrzehntelangen Vertrautheit zu versichern.
Immer wieder irritiert es Kolja, dass Leute dazu imstande sind, sich zwei, drei Stockwerke über Kneipen, Lokalen und Einkaufsläden ihr eigenes Leben einzurichten, unberührt von dem Treiben unter ihnen. Keine Stunde lang könnte sich Kolja einer Arbeit oder bloß einem Buch widmen, stiege zugleich der Lärm von Musik, klapperndem Geschirr oder lauten Gästen zu ihm auf.
In anderen Städten war es Kolja nicht aufgefallen, dass Gasthäuser und Kneipen sich zum größten Teil auf den überschaubaren Bereich in der Stadtmitte beschränken, innerhalb der Grenzen von Karlsruhes früheren Stadttoren. Gleich dahinter beginnen gediegene, gutbürgerliche Viertel.
Wie in Frankfurt, nur ein paar Schritte entfernt vom Bahnhof, hat Kolja hier eine Wohnung gefunden. Statt auf Züge und Gleise öffnen die beiden Fenster in seinem Zimmer die Sicht auf einen stillen Innenhof. In seiner Mitte eine große Rasenfläche, umringt von alten Kastanien und einem breiten, hellen Sandweg an allen Seiten. Bänke stehen dort unten, Spielgeräte und für die Jugendlichen eine Tischtennisplatte.
An den Wochenenden, an denen Kolja bislang tagsüber zuhause war, lag der Platz wie ausgestorben da. Wahrscheinlich haben die Kinder, deren Eltern vor Jahren die Einrichtung des Spielplatzes in Gang brachten, dieses Wohnkarree längst verlassen. Im Eingangsflur und auf der Treppe ist Kolja ein paar Mal älteren Leuten begegnet und Nomaden von seiner Sorte.
Zwei hohe Eisentore an den beiden Längstseiten des Karrees versperren mit Beginn der Dunkelheit Fremden den Zugang zu dem Hof.
Kolja hält inne, lehnt sich an das Tor und sucht mit den Augen tief in dieses Schwarz einzudringen. Hunderte von Menschen schlafen nun in den Zimmern in den Wohnungen in den vier Seiten des Karrees. Gäbe es einen Ort, der stumm umfasste, wovon die Schlafenden sich nun endlich lösen in der Nacht, könnte es dieser verlassene, finstere Hof sein, in dem es niedersänke, zur Ruhe käme, dieser unentwirrbare Rest, den man am Ende des Tages mitnimmt in den Schlaf.
Die Kunsthalle
Simonas Sohn öffnet die Tür. Stöpsel baumeln von seinen Schultern, auch ansonsten enttäuscht er nicht hinsichtlich der üblichen Attribute eines knapp Neunzehnjährigen. Die Haare fallen tief in die Stirn, bis über die halb geschlossenen Augen, am Kinn ein weicher, dunkler Flaum, die Hose hängt tief unter den Hüften, und ein lapidares „’n Abend, da geht’s lang!“ weist Kolja den Weg.
Da packt ihn der Übermut, mehr aus dem Kerl herauszuholen.
„Guten Abend. Mein Name ist Kolja. Was hörst Du denn gerade?“
Mit dem Kinn weist Kolja auf die Stöpsel, in dem Jungen pfeift alles zur Abwehr.
„Kennen Sie nicht.“
Mehr wird er nicht sagen.
„Und Du spielst Tennis?“
Koljas Blick springt zu dem Schläger in einer Hülle, die hinter dem Jungen zwischen Stiefeln und Regenschirmen klemmt.
„Nö, der gehört Fritz!“
„Und Du, machst Du was Richtung Sport?“
„Ich schwimme.“
„So richtig, ich meine wettkampfmäßig in einem Verein?“
„Ja.“
„Und, bist Du gut?“
„Bin zufrieden.“
„Lucca heißt Du, stimmt’s?“
„Perfekt.“
Nach wie vor steht Kolja auf der Schwelle der Tür, der Junge hält den Griff in der Hand.
„Machst Du auch Musik?“
„Waren Sie früher mal Vertreter oder was?“
Kolja grinst.
„Nicht schlecht! Nein, kein Vertreter, wollte Dich bloß kennenlernen.“
„Hätte ich dann einfach gesagt, an Ihrer Stelle.“
„Du kannst mich ruhig duzen!“
Jetzt grinst der Junge.
„Ach, ich bin etwas scheu bei Fremden.“
Einverständnis umschließt die beiden, Lucca tritt zur Seite und Kolja in den Flur.
„Willst jetzt sicher mein Zimmer checken, was?“
Für das Kind, als das ihn alle noch bis vor vier, fünf Jahren nahmen, hat Lucca einen riesigen Seehund am Kopfende des Bettes liegen lassen. Dessen breiter Rücken dient ihm offenbar als Kissen. Seine Kinderbücher füllen ein ganzes Regalbrett, werden gehalten von einer hohen, weißen Kerze mit einer senkrecht verlaufenden Inschrift in roten Wachsbuchstaben. An der Wand zwei dunkle Poster mit Gitarre spielenden Jungs, jede Menge Auszeichnungen für gewonnene Turniere und eine Weltkarte mit leuchtend roten Markern drauf.
„Warst Du da überall schon?“
„Nö, aber da will ich hin.“
„Ja, kann ich Dir nur zu raten, die Welt anzuschauen.“
„Meine ich nicht. Da werden überall geile Gebäude von mir stehen, ich werde mal Architekt!“
In Koljas Rücken betritt Simona das Zimmer und das Gespräch bricht ab.
Gegenüber einem anderen als Fritz hätte es den Beginn des Abends vermutlich eher beschwert als in Schwung gebracht, dass Kolja gerade gelang, was dem Hausherrn seit Monaten verwehrt ist, das Zimmer des Sohnes seiner Freundin zu betreten.
Fritz nimmt es als erneute Bestätigung. Mithin hat Kolja nicht nur gleich an diesem ersten Abend seine eigene Neugierde gereizt und tags darauf mit Simona einen schönen Sonntagmittag verbracht, sondern sogar Lucca auf Anhieb für sich gewinnen können.
Wie er mit den Flaschen seiner Bar an dem Nebentisch hantiert und guter Laune diese und jene Anekdote zum Besten gibt, trägt Fritz es zur Schau, seinen Stolz darauf, dass dieser Fremde heute Abend mit am Tisch sitzt. Kolja ist noch unentschieden, wer von beiden es angetrieben hat, ihn einzuladen, und welche Absicht Fritz oder Simona oder die beiden im Einverständnis miteinander damit verfolgen.
Ein weiteres Ehepaar wurde eingeladen, vermutlich aus Sorge, für alle Fälle genügend interessanten Gesprächsstoff bereitzuhalten. Oder hat Kolja diese beiden Simona zu verdanken, ihrer Scheu, Fritz und ihm alleine gegenüberzusitzen?
Ein Mann Anfang sechzig, der es zu was gebracht im Leben, trotz oder wegen seiner knorrigen, alles andere als jovialen Haltung. Unverhohlen mustert er Kolja, mit einer ihm wahrscheinlich zur Gewohnheit gewordenen Selbstgefälligkeit, nach jahrelanger Taxierung seiner Mitarbeiter. Die Frau an seiner Seite schiebt derweil das Besteck rund um ihren Teller hin und her. Was sie anfangs an ihm bewunderte, seine unzugänglich-herbe Männlichkeit, wird sie seit Jahren abzudämpfen wissen, in vermittelnden Gesprächen mit den Kindern und seinen Angestellten. Es lohnte nicht, ihm gegenüber darüber ein Wort zu verlieren oder gar einen Streit zu riskieren.
„Friedel und Eva, unsere Nachbarn“, so wurden sie Kolja von Fritz vorgestellt.
Kaum sind die Teller abgetragen, setzt Friedel das Thema, als setze er es auf den leeren Tisch. Es wird sich bald erschöpft haben, nach ein paar lapidaren Sprüchen, schon allein, um den stummen Gast nicht zu langweilen. Koljas Blick schweift durch das Zimmer. Großformatige Kunst aus Afrika, in dunklen, erdigen Farben, dazwischen einige streng stilisierte schwarz-weiße Masken. Vom Boden wachsen Stapel von Büchern die Wände hoch, Simona wird sie angeschleppt haben.
Friedel lässt seine Hand auf die Tischplatte fallen, Kolja schreckt auf.
„Das wird den Leuten erst die Augen öffnen, was der Staat für die Kirche zahlt, wenn sie es so weit treiben, dass die Stadt für die Kosten aufkommen soll.“
Friedel schnauft.
„Das läuft hier nicht, Fritz. Das winken die Karlsruher nicht einfach durch, wenn die Stadt den ganzen Aufwand für diesen Ein-Tages-Besuch bezahlen soll! Nach Plan verbringt der im Ganzen keine vollen vier Stunden hier.“
„Sie werden es zum Staatsbesuch erklären, und schon sind sie fein raus, immerhin reist er ja auch als Oberhaupt des Vatikans an.“
Simona seufzt, sieht Kolja entschuldigend an und fasst Fritz am Arm.
„Vielleicht sollten wir Kolja ...“
„Ja, klar, aber das wissen Sie doch sicher mittlerweile, dass es Leute gibt hier in der Stadt, wie Friedel, die nicht einsehen wollen, warum die Karlsruher für diesen Besuch eine Menge Geld bezahlen sollen, wo tatsächlich andere, sinnvollere Aufgaben warten, für die der Stadt seit Jahren die Mittel fehlen.“
Fritz wendet sich wieder Friedel zu, mit einem Lächeln, das ein starrsinniges Kind begütigen würde.
„Und was sagst Du dazu, dass es mittlerweile eine Bürgerinitiative gibt, die auf dem Turmberg ein Windrad aufstellen will, mit Engelsflügeln, um den Papst angemessen zu begrüßen?“
„Wie, für immer, zur Stromerzeugung oder was?“
„Klar, und zur ewigen Erinnerung an den Besuch des Papsts.“
„Früher waren es die Kreuzzüge, diese Christen können wohl nicht anders als gewaltsam zu missionieren.“
Friedel wischt sich mit einer Serviette den Schweiß von der Stirn, in diesem Augenblick beugt sich Simona über den Tisch. Dieselbe Goldkette, wieder fällt sie von ihrer Brust hinab, und das Leuchten der Kerze funkelt darin.
„Kolja muss ja denken, außer dem Papst hätten die Karlsruher keinen Geprächsstoff mehr.“
Fritz legt seine Hand beschwichtigend auf Simonas Arm. Die Bewegung fängt Koljas Blick, wie dessen kurze, breite Finger den schmalen, sehnigen Arm umschließen – in diesem Moment sieht Fritz zu ihm auf.
„Nun, dann erzählen Sie doch mal! Wir können das Papst-Thema ja weiter fassen, ich meine, kunsthistorisch betrachten. Sie haben sich doch mit Simona „Die Geburt Christi“ angeschaut.“
„Ja, Sonntag vor zwei Wochen, und gestern war ich wieder dort, in der Kunsthalle.“
„Was, extra wegen dieses Bildes?“
„Ja, und die Kunsthalle hat ja auch sonst genug zu bieten.“
Wie konnte Kolja diese Unbesonnenheit entschlüpfen? Beide Paare sehen ihn neugierig an. Er neigt sich zurück auf seinem Stuhl und nickt ihnen zu als genügte es, mittels dieser Geste eine Erklärung bloß anzukündigen.
Simona schüttelt unmerklich den Kopf. Eine verstohlene, hilflose Warnung, wahrscheinlich ist sie die Einzige hier im Raum, die es gut mit ihm meint.
„So ist es ja oft, da steht man vor einem beeindruckenden Gemälde, könnte hunderterlei entdecken und klebt an dieser einen schwarzen Ecke, die dem Bild irgendwann verloren ging.“
„Aber allein wegen des schwarzen Flecks sind Sie doch nicht zu dem Bild zurückgekehrt, oder?“
Kolja erwidert ruhig Fritzens lauernden Blick.
„Kennen Sie das Bild?“
„Es ist mir sicher weniger deutlich als Ihnen vor Augen.“
Simona steht auf.
„Ich habe es ja hier, wartet mal!“
Sie kehrt mit ein paar Kunstkarten zurück und breitet sie aus in der Mitte des Tischs. Eva greift sich eine Karte.
„Können wir mal mehr Licht machen!“
Ein abrupter Wechsel vom Kerzen- zum hellen Deckenlicht, die blasse Haut des Christuskindes wirkt fahler, leichengrauer noch, als Kolja es in Erinnerung hatte.
„Seltsam, wie die Mienen sich gleichen, ich meine Josef und das Christuskind, dabei haben die zwei doch im Grunde nichts miteinander zu tun.“