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Das fing schon bei meiner traumatischen Geburt an. Ich wurde in einer dunklen Bauernstube, im hintersten Grailtal, einem der aktivsten Täler der Welt, wie die Einheimischen gerne behaupten, geboren. Ich trug dieses nach vorne bzw. nach außen Streben wohl schon vor der Geburt in mir, noch bevor ich auf der Welt war. So erklärt sich wahrscheinlich auch meine Eile.
Oder vielleicht kam alles so, weil meine Mutter immer schon so schreckhaft war? Es war ›Teufeltag‹ im Tal. Das war ein alter Grailtaler Brauch am 5. Dezember, den die Einheimischen so gerne zelebrierten. Bevor am nächsten Tag zu den sogenannten braveren Kindern der Nikolaus kommt, müssen die Schlimmeren noch einen Tag lang zittern. Einige Männer dürfen nämlich an diesen Tagen, zumindest für kurze Zeit, Teufel spielen. Sie müssen ja sonst das ganze Jahr über so manchen Trieb unterdrücken. Na ja, jedenfalls – ob jetzt Schock oder meine Neugierde, es war viel zu früh und eine schlimme Geburt. Mehr als siebzehn Stunden versuchte ich da rauszukommen, wo ich dann später wieder viel zu lange brauchte, um das erste Mal jemanden reinzulassen. Noch schlimmer aber waren die ersten Sätze, die in mein Unterbewusstsein drangen.
»Die kommt nicht auf«, waren die Worte meines Großvaters, sprach es und rannte um den Priester, damit wenigstens meine Seele an diesem teuflischen Tag gerettet würde. Ich muss schon einen erbärmlichen Eindruck hinterlassen haben. Es wurde ganz umsonst eine Menge Wasser vergossen, ich meine damit Tränen. Ich übertönte jedenfalls das Geheul der Weiber, der Priester musste mir wohl irgendwie unsympathisch gewesen sein. Eine Abneigung, die sich in meinem weiteren Leben nicht gelegt hat.
»Denen zeig ich’s jetzt aber« … Ich tue das bis heute.
Der Fehlstart hat sich dann doch in einigen Bereichen sehr lange bemerkbar gemacht. Abgesehen von einer lebensbedrohenden Bronchitis, deren Auswirkungen ich lange in Form eines leicht deformierten Brustkorbs als sichtbare Erinnerung mit mir trug, verschlief ich die ersten Monate ganz einfach und einige Jährchen dazu. Ich habe inzwischen einen sehr schön geformten Busen, der dieses Manko zum Glück kaschiert.
lang=DE style='color:black'>Selbst die sekundären weiblichen Geschlechtsorgane, sprich Busen, bei allen Männern ja Lieblingsthema Nummer Eins, konnten mich damals nicht aus meinen Träumen holen. Zum Saugen bzw. Trinken musste ich jedes Mal mit einigen kräftigen Klapsen gezwungen werden. Ich wäre sonst ganz einfach im Schlaf verhungert. An das Schlagen habe ich mich später ohnehin gewöhnt. Es war also wirklich ein katastrophaler Fehlstart. Selbst die Kleinste meiner im Jahresabstand nach mir geborenen Schwestern, von den Brüdern ganz zu schweigen, überholte mich körperlich noch während der Schulzeit. Von den gleichaltrigen Nachbarskindern und Cousinen wurde ich schon bald mehrfach in jeder Hinsicht überrundet. Besonders meiner Cousine Petra verdanken meine Eltern und ich einige lehrreiche Überraschungen, was kindliche Phantasie betrifft. Das eine Mal waren es meine mit Spucke verklebten Haare. Ich hatte Locken wie ein Barockengel und von allen Seiten tönte es:
lang=DE style='color:black'>»Ach schau nur, was für wunderschöne Locken, wie süß.«
lang=DE style='color:black'>Ich konnte es ja selbst nicht mehr hören und dagegen musste man, nämlich Petra, etwas unternehmen. Ein anderes Mal war es der Versuch, möglichst viele Kirschen in einem menschlichen After – sprich Darm – unterzubringen, das meine wissbegierige Cousine an mir ausprobieren wollte. Die Welt war für mich schon bald voll von Überraschungen und Entdeckungen. Meinem kleinen Bruder Jo erging es dabei mit der frühreifen Petra noch schlimmer. Obwohl dieser sicherlich nicht homosexuell orientiert war, wollte Petra an einem Loch, in diesem speziellen Fall war es der verlängerte Rücken meines Bruders, die Wirkung eines Vibrators ausprobieren, bevor sie diesen in ihre Vagina stecken wollte. Und das ohne entspannendes Vorspiel, entsprechende Cremes und einfühlsames Einführen. Jo war nicht besonders begeistert.
lang=DE style='color:black'>Weil sich mein Vater immer einen sportbegeisterten Burschen gewünscht hatte, wurde ich ausgesprochen burschikos und sportlich erzogen. Meine schon damals vorhandene und leicht erkennbare Feinfühligkeit und Sensibilität wurde dabei schlichtweg ignoriert und verdrängt. Als Folge dieser „Umerziehung“ fühlte ich mich sehr bald bei den ständig raufenden und um sich schlagenden Burschen wohler, als bei den zickigen, mit Puppen und Barbie spielenden Gören. Auch war mir das laute, männliche, ellbogenstoßende Imponiergehabe sympathischer, als das weinerliche – „rühr mich nicht an Gehabe“ der gleichaltrigen Artgenossinnen. Das hatte dann aber auch wieder den Spott der gleichaltrigen Mädchen zur Folge und sehr häufig wurde ich von meinen weiblichen „Mitstreitern“ gemieden.
lang=DE style='color:black'>Für die gleichaltrigen Mädchen war ich viel zu aufgeweckt und burschikos – sehr lange übrigens. Sie beteiligten sich daher auch nicht an meinen häufigen Fehlversuchen, dem männlichen Geschlecht mit sogenannten Zwickaküssen näher zu kommen. Zwickaküssen sind erotische Annäherungen, bei denen man sich beim Küssen mit beiden Händen links und rechts vom Mund in die Wangen zwickt.
lang=DE style='color:black'>Sicher als sexueller Filter von der damals krankhaft prüden Damen-sprich Tanten-Welt erdacht, weil das in die Wange zwicken wohl jeden Verdacht auf Erotik im Keim ersticken sollte. Wäre ja auch noch schöner, sollten schon Kinder in den Genuss eines erotisch lasziven Kusses kommen, wo doch selbst die Erwachsenenwelt sich jeden stärkeren Gedanken an Erotik verkneifen musste.
Konträr zum Verhalten meiner Mutter versuchte mein Vater verzweifelt aus seiner Tochter einen „ganzen Mann“ zu machen. War er doch seit seiner Kindheit der Inbegriff eines sportlich durchtrainierten Elite-Machos gewesen. In seinem Jahrgang auserkoren unter den 24 intelligentesten und sportlichsten Schülern Österreichs, durfte, oder besser musste er auf eine besondere Eliteschule in Wien gehen. Starkes Heimweh nach seinen geliebten Bergen rettete ihm nach dem zweiten Schuljahr das Leben. Er flüchtete zurück in die Alpen. Sein gesamter Jahrgang jedoch kam in den letzten Wochen des zweiten Weltkriegs in einem Schützengraben ums Leben. Es wäre wohl nichts geworden aus mir, ohne meinen Erzeuger.
So bereitete ich ihm große Freude, indem ich als kleines Mädchen recht schnell und auch besonders gut das Schifahren erlernte. Hier hatte ich sogar gegenüber meinen gleichaltrigen männlichen Mitstreitern meistens die Nase vorn, und fuhr ihnen als Mädchen sogar auf und davon. Und das schon im frühen Alter von drei Jahren. Wohl auch in Unwissenheit der damit verbundenen Gefahren. Ich hatte sehr lange einfach das sprichwörtliche Glück des Anfängers und die übertrieben ehrgeizigen Ziele meines Erziehers blieben deshalb ohne negativen Beigeschmack. Bis eines Tages ein fünffacher Salto Mortale, nach einer für mein Alter von vier Jahren viel zu langen und zu steilen Schussfahrt, diese Euphorie etwas trübte.
»Sag es bloß nicht Mama !«, waren die Worte meines Vaters.
Brauchte ich gar nicht, denn nach diesem Kapitalsturz wurde ich für eine Woche ohnehin zum Gesprächsthema des ganzen Dorfes. Meine Leidenschaft für Schnee und Skifahren konnte dadurch aber nicht getrübt werden und das sollte sich noch als gewaltiger Vorteil erweisen. Schwimmen lernte ich noch schneller. Sogar innerhalb von wenigen Sekunden. Nach einigen anfänglichen Fehlversuchen meinerseits, lockte mich mein Vater einfach auf den Sprungturm und stieß mich mit den Worten: »Schau mal, ein großer Fisch«, einfach vom Springturm des Badesees. Ich kann mich heute noch an meinen ersten unfreiwilligen Tauchversuch erinnern, an das einzigartige Rauschen, die vielen Sauerstoffbläschen und das ungewohnte Gefühl der Schwerelosigkeit. Ich bin dann doch wieder aufgetaucht und damit war meine erste Schwimmlektion beendet.
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Im Moment steckte ich schon wieder unfreiwillig in so einer nassen, kalten Hölle, und erst am nächsten Morgen würde es, wenn überhaupt, eine Möglichkeit geben, ihr zu entkommen. Wann würde man ein Flugzeug losschicken, um nach mir Ausschau zu halten?
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Obwohl mein Vater als Schuldirektor nachmittags sozusagen vom Dienst befreit war, hatte er wahrscheinlich Nerven für alle Bereiche, nur nicht für seine Kinder zu Hause. So war nicht nur er mit mir als burschikosem Mädchen, meinen sechs weiteren Geschwistern, und all dem damit verbundenen finanziellen Desaster überfordert, sondern, wie man sich denken kann, vor allem meine Mutter. Und ausgerechnet ich – man stelle sich das vor – sollte immer wieder den Part des Aufpassers für meine Brüder übernehmen. Ausgerechnet ICH … sollte das mangelnde Durchsetzungsvermögen meiner Mutter ersetzen, ihre Nerven schonen, und einen Sack voll Flöhe hüten. Ich stand also zwischen meinen Geschwistern und den Eltern auf verlorenem Posten. Von den Brüdern verhauen, von den Schwestern gemieden, wenn ich Erzieher spielen sollte. Von den Eltern gescholten, weil ich offensichtlich unfähig war, für Ordnung zu sorgen. Und wenn dann alles in ein Chaos ausartete, wurden wir von unserer Mutter, ja auch ich, obwohl ich selten etwas dafür konnte, regelrecht verprügelt. Manchmal ging dabei sogar der Holzstock kaputt, so heftig waren diese Übergriffe auf unsere Hinterteile!
Unmittelbar vor meiner Geburt fingen auch die gesundheitlichen Probleme meines Vaters an, die unser Familiendasein noch über Jahrzehnte belasten sollten. Nach meiner Geburt legte uns der Storch noch sechs weitere Kinder ins Nest, und wir wechselten drei Mal in fünf Jahren die Wohnung. Da kam meinem Vater die glorreiche Idee, dem Grailtal mit seinen sturen und eigensinnigen Weibern den Rücken zu kehren. Wir übersiedelten ins gelobte Inntal. Und das, obwohl genau zu diesem Zeitpunkt Vaters kultureller Wert für meinen Geburtsort am höchsten war, man uns sogar ein Haus schenken wollte, nur damit er der Gemeinde erhalten bliebe. Stur und eigensinnig nenne ich die Weiber deshalb, weil sie mit ihrem herrschsüchtigen und zickigen Gehabe den jungen und zugezogenen Schuldirektor des Öfteren bis zur Weißglut geärgert und gestresst hatten, und damit wohl auch zu seiner, uns später so belastenden Krankheit, beigetragen hatten.
Obwohl mein Erzeuger zu diesem Zeitpunkt im Grailtal sozusagen in den Himmel gehoben wurde, kehrten wir meinem Geburtsort den Rücken zu und zogen in das Elternhaus meines Vaters in Reutling ein. Das heißt, weg von meinem geliebten Großvater mütterlicherseits, zu der von uns Kindern nach Kräften gemiedenen Mutter meines Vaters. Nicht nur ich, sondern auch meine jüngeren Brüder erinnern sich noch heute nur mit Zorn an die wohl arbeitsscheueste, egoistischste und selbstsüchtigste Frau, die ich bis heute kennen gelernt habe. Ihre Kochkünste sollten uns Kindern kulinarische Erlebnisse voller Pein und Schrecken bereiten. Wenn sie für uns kochte, wagte sie es doch tatsächlich, uns mit Abfällen aus ihrem Haushalt zu versorgen. Dazu gehörte auch der Kragen des Sonntagshuhns, um den wir uns dann auch noch rauften. Ich bin mir nicht sicher, ob dem normal Bürger bewusst ist, wie viel Fleisch an so einem Hühnerkragen … NICHT dran ist. Wenn mein Bruder Werner mal zu viel Bier getrunken hat, heult er heute noch und meint:
»Ich würde ihr eigenhändig den Kragen, sprich Hals umdrehen, wäre sie noch unter den Lebenden.«
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»Hm ja, apropos Essen, ob ich jetzt schon einen der sieben Müsli Riegel genießen sollte, den mein Notfallkoffer beinhaltet?« Ich hatte im Dingi bei solchen Überseefahrten immer eine Notausrüstung festgezurrt. Mein winziges Schlauchboot erklomm gerade einen Wellenberg, und da sah ich es plötzlich. Es war ein weißer Lichtfleck, der sich im starken Seegang mit den Wellen hob und senkte. Ich versuchte, das schwache Licht nicht aus den Augen zu verlieren, während das kleine Dingi in ein Wellental hinunter sank. War das ein Fischerboot, das sich hier durch den Sturm kämpfte? Egal, was auch immer, Hauptsache ein Schiff. „Die werden mich nicht sehen, wie sollten sie auch.“ Wie zur Bestätigung verschwand ich mitsamt dem Dingi wieder in einer Wasserschlucht. Es gelang mir, auf dem Rücken liegend, trotz des heftigen Seegangs den Notfallkoffer zu öffnen. Vorsichtig versuche ich, ihn waagrecht zu halten, um ja nicht den kostbaren Inhalt an das Meer zu verlieren. Ich hatte den Koffer mit einer Leine an meiner Schwimmweste befestigt. Jetzt entnahm ich ihm eine der Rettungsraketen und verschloss ihn sofort wieder, bevor er sich mit Wasser füllen konnte. Dann zerbiss ich die Plastikfolie, welche die Rakete vor Feuchtigkeit schützen sollte.
»So … mit einer Hand halten, mit der anderen am Seil ziehen. Verdammt, verdammt, Scheiße!«
Wir hatten das zwar in der Segelschule und vor meiner ersten Atlantiküberquerung dutzende Male geübt, mir war richtig langweilig dabei geworden.
»Was soll das, ist doch Kinderkram«, hatte ich damal gedacht.
Und jetzt hatte ich mich, wohl vor Aufregung, beinahe selbst erschossen und samt Schwimmweste versenkt. Soviel zu Theorie und Praxis.
»Tief durchatmen, tief atmen «, redete ich mir selbst gut zu. Ich hatte nicht so viele Raketen und war noch zu lebenshungrig, um mich selbst zu erschießen. Also versuchte ich, mich zu konzentrieren, diesmal mit Erfolg. Die nächste Rakete stieg zischend und heulend gegen den Himmel.
»Na ja, zumindest sollte man bemerken, dass hier noch ein Mensch lebt. Falls die überhaupt in Sichtweite sind.« Ich verschwand mitsamt dem Schlauchboot schon wieder in einem Wellental.
„Verdammt noch mal!“, entfuhr es mir. Als ich nach einer Ewigkeit wieder hoch kam, war das schwache Licht ganz verschwunden. Meine Euphorie schwand augenblicklich und die Stimmung fiel ins Bodenlose. So bodenlos, wie die See unter mir. Es war unschwer, sich klarzumachen, wie meine Situation in Wirklichkeit ausschaute. In dieser beängstigenden Dunkelheit konnten die mich sogar überfahren, ohne etwas von mir zu bemerken. Die Wellen waren inzwischen so unvorstellbar riesig und brachen sich zudem ständig über mir. Es schien mir deshalb zu riskant, den Koffer noch einmal zu öffnen. Womöglich würde ich noch den ganzen Inhalt in der nächsten Minute ans Meer verlieren, sowohl Notfallraketen, als auch Müsli Riegel. Ich musste wohl noch länger durchhalten und zuerst den Sturm abwettern. Ich verwarf daher den Gedanken an weitere Signalraketen sofort wieder. Und jetzt schon meine Energiereserven anzugreifen wäre sicher gedankenlose Verschwendung gewesen. Auch die zwei Dosen Energy Drink wollte ich so lange wie möglich aufbewahren. Vielleicht verliehen sie ja wirklich Flügel, sollte keine andere Hilfe auftauchen. Träumen darf man ja. Hätte ich bloß als Kind schon so eine Dose gehabt.
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Ich wollte schon damals in meinen Tagträumen immer zur Kirchendecke hoch fliegen und Wunder nicht nur Jesus überlassen. An einen Ort fliegen, der weit entfernt wäre von meiner verrückten Kindheit. Einen Ort, an dem es nur mein wahres, kindliches Selbst gäbe, wo mein inneres Licht herausfinden konnte, wer ich wirklich war. Damals war ich von diesem Traum sehr weit entfernt, und im Moment wohl auch.
Die täglichen Kirchenbesuche, zu denen wir Kinder gezwungen wurden, werden uns wohl diese Institution für immer vermiest haben. Meine Oma sang, wie so viele Verwandte auch, fast täglich im Kirchenchor. Ein Grund mehr, davon zu fliegen. Wir mussten sie jedes Mal begleiten, in die Kirche, nicht beim Singen.
Zwei meiner Brüder waren ja auch noch zu Ministranten ausgebildet worden. Das war damals eine sehr wichtige Funktion für Burschen in diesem Alter und von einer gewissen Bedeutsamkeit.
An mir ging dieser Kelch leider vorüber. Mädchen wurden damals in dieser patriarchalischen Welt noch nicht geduldet, auch wenn sie noch so burschikos waren wie ich. Ich schmollte, wollte ich doch lieber in der Sakristei mit den Burschen albern, als brav mit meinen Artgenossinnen in der Kirchenbank sitzen.
So nebenbei wurden mir durch den Umzug nach Reutling, und dem damit verbundenen Kulturschock, gleich einige weitere Tiefschläge versetzt. Dazu zählten neben dem sprachlichen Schock eines für Reutlinger fast unverständlichen Grailtaler Dialekts, der kulturelle, kulinarische und auch finanzielle Schock. Wir waren aufgrund der Übersiedelung und dem Bau eines Hauses wirklich arm wie Kirchenmäuse geworden. Vom gesicherten Nest waren wir sozusagen in die Slums abgerutscht. Wie auch die gesamte Hausmauer, die während der Umbauten am großelterlichen Hexenhaus, sprich der umgebauten Waschküche des Bauernhofes meiner Urgroßeltern, während des Kartoffelsiedens an meiner Mutter und mir vorbei in das Kellerloch rutschte bzw. stürzte.
Um Geld und Zeit zu sparen hatte mein Onkel, als verantwortlicher Baumeister, die Wand des alten Hauses einfach nicht entsprechend abgestützt und gesichert. Heute würden wir mit dieser Aktion sicher auf der Titelseite einer Tageszeitung stehen. Und das ist ja inzwischen gar nicht mehr so einfach – zumindest nicht mit etwas Positivem. Damit hatte ich schon wieder eine ›Beinahe-Katastrophe‹ überlebt. Während wir Kinder – ich wiederhole Kinder – mit den Aufräumungsarbeiten beschäftigt waren, musste mein Vater mit unserer Großmutter, wie des Öfteren, wenn Arbeit angesagt war, Karten spielen. Meine Mutter hat, so glaube ich, badewannenweise Tränen wegen dieser greisen Tyrannin vergossen. Sehr lange war deshalb das Grailtal für mich die idyllische Heimat, die man mir genommen hatte. Meine Grailtaler Großmutter wusste diese Vorliebe von mir auch bei jedem meiner Besuche ganz gewaltig zu unterstützen. Mein Vater hatte es gewagt, ihr die Tochter, damit die Familie und auch die Enkel zu nehmen. Jetzt musste ich herhalten. Um Jo und Werner war sie ja nie sehr bemüht, die waren zu wild und rüpelhaft, aber ich hatte es ihr als Mädchen unter einer Horde von Wilden angetan. Hier gab ich mir ausnahmsweise Mühe und hielt die Hexe in mir versteckt. ›Verräterin‹ wurde ich dafür von meinen Brüdern genannt.
Bei meinen Aufenthalten im Grailtal musste ich immer wahre Schimpforgien auf meinen Vater, der ja Talflucht begannen hatte, über mich ergehen lassen. Ich kann ihn inzwischen voll und ganz verstehen und es akzeptieren. Aber was hätte ich damals als 8-jährige schon verstehen sollen? Ich erinnere mich noch genau an einen Besuch zwischen Weihnachten und Neujahr. Wir sollten ganze zwei Wochen, bis nach Dreikönig, bleiben. Meine Großmutter war glücklich und führte Regiment. Mein Vater ging mit uns Schifahren, um ihr auszuweichen. Es kam, dass mein Bruder Werner sich den Fuß brach. Wir mussten deshalb unseren Urlaub abbrechen. Da lernte auch ich meine bisher geliebte Großmutter so richtig kennen. Werner mit seinen sieben Jahren wurde von ihr regelrecht in der Luft zerrissen. Und das, obwohl er mit einem frischen Beinbruch und den damit verbundenen gewaltigen Schmerzen in der Bauernstube lag.
Leicht abgeschwächt klang das in etwa so: »Muss sich der saublöde Bua a no den Fuaß brechn. Du depperta Bua, iatz miaßn alle wegn dia hoam forn. I kennat di glei no derschlagn, so was bledes.« Und damit verbannte sie den 7-Jährigen trotz seines Schocks und starker Schmerzen zur Strafe auch noch in die Speisekammer.
Ich bin danach weniger gerne in den Ferien zur Grailtaler Oma gefahren. Das war nämlich bis dato mein Privileg gewesen. Inzwischen weiß ich auch, warum mein Großvater, der mich wirklich sehr gerne mochte, meine Besuche gar nicht so sehr schätzte. Meine Großmutter wollte nämlich immer, dass ich im gemeinsamen Schlafzimmer schlafen sollte.
»Das arme Mädchen hat ja so Angst, alleine in einem anderen Raum.«
Ich konnte mich zwar nicht daran erinnern, vor etwas Angst gehabt zu haben, getraute mich aber nicht, dem Hausdrachen zu widersprechen. Ich habe es dann irgendwann einmal geschnallt. So brauchte der frigide Hausbesen wenigstens für zwei bis drei Wochen keine Angst vor sexuellen Übergriffen ihres Ehemannes zu haben. Sex war ja ab einem bestimmten Alter – ich glaube auch schon früher – ohnehin nur zum Kinder machen gut.
„Auf diese 6 närrischen Minuten kann ich gerne verzichten“, bekam ich immer wieder einmal zu hören, und das nicht nur von meiner Oma.
Die einzige Aktion im gemeinsamen Schlafzimmer war also, wenn die Hühner im Stall wild gackerten, Opa mit Schlafrock und Zipfelmütze – ja tatsächlich – und der Pistole aus dem Nachttisch, aus dem Schlafzimmer hinausstürzte, um den Fuchs zu erwischen. Es ist ihm nie gelungen. Wir Kinder folgten dann am nächsten Tag anhand der Federn, die das Huhn verloren hatte, den Spuren des Fuchses. Und wieder gab´s ein Suppenhuhn weniger. Was dem Huhn wohl lieber gewesen wäre, hätte es die Wahl gehabt?
Man kann sich vorstellen, dass das aktuelle Anschauungsmaterial – ich meine die Grailtaler Frauenwelt – nicht gerade geeignet war, einem Mädchen als Vorbild für eine moderne, offene und ausgereifte Beziehung zu dienen. Außerdem wurde mein erotisches Empfinden, meine Venus, in dieser Umgebung sicher nicht geweckt.
Aber es gab für mich in diesen Jahren auch noch andere, tiefgreifende Erlebnisse. An einem dieser Tage hatte mein Onkel Franz eine Bergtour mit zwei deutschen Urlaubern geplant. Um dem Gegacker der Tanten zu entfliehen, bettelte ich einen Tag lang, dass sie mich mitnehmen sollten. Meine Hartnäckigkeit wurde belohnt. Ich durfte mit auf die Bergtour.
Dafür musste ich, wie so oft, Zigaretten besorgen gehen. Jeden Tag einmal in die benachbarte Bar. Ich weiß noch die Sorte, „H.B.“! Die Männer fanden es lustig „ Hänge-Busen“ daraus zu machen. Ich wurde damals noch rot bei dem Gedanken. Aber um der Großmutter für einige Zeit zu entfliehen, nahm ich das gerne auf mich.
Wir fuhren, soweit die Straße damals ausgebaut war, ins Tal hinein. Von dort ging es zu Fuß über zwei Pässe auf einen wunderschönen Aussichtsberg, das Schönbachler Horn. Obwohl knapp 3000 Meter hoch, konnte man diese Bergspitze mit normalen Bergschuhen erreichen, also ohne die sonst übliche Ausrüstung mit Seil, Pickel und Steigeisen.
Die Aussicht war faszinierend, ja überwältigend. Rundherum waren Gletscherflanken und riesige Eisfelder. Ich war fasziniert von den vielen Spalten im Eis. Die letzte halbe Stunde unseres Abstiegs zogen immer mehr schwarze, düstere Wolken auf. Die Bergspitzen wurden von Nebel eingehüllt und wir fingen an, den Rest des Weges zu laufen. In den Bergen aufgewachsen, ist man es ja gewohnt, wie eine Gemse über Steine und Felsen zu springen. Mir kam es dennoch endlos vor. Endlich beim Auto angelangt, schlief ich, kaum dass ich am Rücksitz Platz genommen hatte, auch sofort ein. Die Männer erzählten sich Blondinenwitze, und da konnte ich ohnehin in meinem Alter nichts dazu beitragen. Außerdem fehlte mir oft das Verständnis dafür, was daran so lustig sein sollte.
Ich wurde von einem ohrenbetäubenden Krach geweckt. „Jetzt ist der besoffene Kerl mit dem Auto in die Schlucht gefahren“, war mein erster Gedanke. „Ich lebe noch!“, mein zweiter. Obwohl meine Augen geschlossen waren, war ich geblendet von dem grellen Licht, das den Krach begleitet hatte. Das Auto stank nach Schwefel. Unser Fahrer hatte es mit Mühe zum Stillstand gebracht. Jetzt bemerkte ich den wolkenbruchartigen Regen und die Blitze um uns herum. „OOOhhh Sch… wir sind vom Blitz getroffen worden. Das Auto ist einen halben Meter in die Luft gesprungen“, schrie einer der Männer. Es dauerte Minuten, bis jemand darauf antwortete. Mir hatte es ohnehin die Sprache verschlagen. Aus dem Schlaf gerissen, zitterte ich wie Espenlaub. Der Motor des Autos lief sogar noch. Damals hatten die Autos noch keine Elektronik wie heutzutage, wir konnten daher unsere Fahrt ungehindert fortsetzen. Unser Fahrer fuhr den Rest der Strecke sehr langsam. Außerdem war meinen Begleitern das Witzeerzählen vergangen. „Das kommt davon, man lästert nicht über Frauen“, hatte ich mir damals gedacht. Dieses Erlebnis sollte mich, so wie die Frauen in meiner familiären Umgebung, noch länger bei meinem Verhalten dem männlichen Geschlecht gegenüber beeinflussen.
Man lästert nicht über Frauen und lässt ihnen ihre Meinung, war für mich damals die Konsequenz und Botschaft daraus.
Die Männer begossen, wieder zu Hause angekommen, unser Überleben mit viel Bier und Schnaps in der Bar um die Ecke. Die mit den „Hängebusen Zigaretten“. „Erzähl nichts davon den Weibern“, hatte man mir vorher noch eingetrichtert.