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„Warum?“ Neolyt setzte sich auf und blinzelte die Tränen aus ihren Augen weg.
„Na ja, weil ich eben einfach nur aus irgendeinem Kaff in Yalyris komme und nur rein zufällig entdeckt wurde.“
„Wie denn?“
„Ich bin mit meiner Mutter zur Auswahl der neuen Reiterschüler gegangen, weil wir gerade in der Hauptstadt waren und ich unbedingt hinwollte. Tja, irgend so ein Dummkopf hat dann halt gedacht, ich wäre auch ein Kandidat, mich auf die Tribüne gezogen und ich wurde ausgewählt. Meine Mutter hat erst totales Theater gemacht, weil ich zur Ausbildung woanders hinsollte, aber schließlich hat sie mich doch gehen lassen.“
„Da siehst du. Überhaupt kein Zufall – Schicksal. Bei mir war es Zufall. Ich bin nicht mal ausgewählt worden. Deor ist einfach nur gekommen, weil es eine Geschichte gab. Und meine Mutter hat sich gar nicht aufgeregt. Sie hat gesagt: Geh mit, bald kommst du ja wieder. Sonst nichts.“ Abermals füllten sich ihre Augen mit Tränen.
Elly nahm sie in den Arm, strich ihr übers Haar und murmelte tröstende Worte. Es war ein gutes Gefühl, umarmt zu werden.
„Ich glaube, deiner Mutter liegt sehr viel an dir und sie wollte sicher nur dein Bestes.“ Neolyt hörte, wie Elly schnaubte. „Aber vielleicht hätte sie dich vorher fragen sollen, was du möchtest.“
Neolyt nickte und löste sich aus der Umarmung. Mit einer energischen Bewegung rieb sie sich die Tränen aus den Augen und lächelte die Freundin an. „Danke. Ich denke, jetzt kann ich schlafen. Können wir das Licht ein bisschen anlassen?“
Sie schlief tatsächlich ein, tief unter der Erde, weit entfernt von ihrer Familie, nicht ahnend, worauf sie sich eingelassen hatte, was alles aus diesem Anfang erwachsen würde, wie oft sie sich wünschen würde, alles wäre anders gewesen und sie wäre nie zu den Einhornreitern gekommen. Aber im Bett neben ihr lag ihre erste echte Freundin.
Sie mögen den schweren Weg mit ihr gehen.
Marcelo Lumis
Als Neolyt am nächsten Morgen erwachte, waren die Lampen in ihrem Zimmer kaum heller geworden, es musste wohl noch sehr früh sein. Müde ging sie zum Waschraum und war überrascht, dort bereits Elly anzutreffen.
„Morgen“, murmelte Neolyt und spritzte sich etwas Wasser ins Gesicht, um wach zu werden.
„Morgen. Gut geschlafen?“
„Ging so“, log Neolyt. Obwohl das Licht geleuchtet hatte, war sie noch mehrere Male aus beängstigenden Träumen aufgeschreckt und fühlte sich nun, als hätte sie die ganze Nacht einen Hasen durch den Wald gehetzt. Sie wusch sich und ging dann zurück, um sich anzuziehen. Es war ein ungewohntes Gefühl, sauber zu sein, wenn auch nicht unangenehm.
Im Speisesaal saßen noch nicht viele Leute, hauptsächlich Lehrer und ein paar ältere Schüler. Neolyt war dafür äußerst dankbar, der Lärm hätte ihren empfindlichen Ohren arg zugesetzt. Nachdem sie etwas gelbes Zeugs gegessen hatte, das Elly als Rührei bezeichnete, was Neolyt nicht so recht nachvollziehen konnte, schließlich war der Inhalt von Eiern flüssig und hauptsächlich durchsichtig, fühlte sie sich schon besser, und als sie Yewan auf sich zukommen sah, lächelte sie sogar.
„Auch schon wach?“, fragte er und blieb neben ihr stehen.
„Schon eine Weile“, antwortete sie.
„Tja, nicht jeder kann ein Langschläfer sein. Aber Deor wird froh sein, er meinte, du sollst in die Bibliothek kommen, wenn du fertig mit dem Frühstück bist.“
„Alles klar, dann mach ich mich mal auf den Weg.“
Neolyt wandte sich um und stellte ihr Geschirr auf einen Wagen, der daraufhin wie von selbst losfuhr und in rasanten Kurven zur Küchentür schlitterte. Neugierig sah sie ihm nach. War so etwas normal oder funktionierte das mit Magie?
Sie beeilte sich, in die Bibliothek zu kommen.
„Guten Tag“, grüßte sie Deas und stellte sich auf Zehenspitzen, um über den Schreibtisch blicken zu können, an dem er saß.
„Guten Morgen, Neolyt“, antwortete er und nahm seine Lesebrille ab. „Deor ist dort hinten, er hat noch ein bisschen zu tun, müsste aber bald fertig sein. Geh nur ruhig schon mal zu ihm.“
Neolyt machte sich auf den Weg, unterwegs fuhr sie mit dem Finger die vielen Buchrücken entlang. Irgendwie schienen die Schatten in der Bibliothek zu leben, sie blieben niemals an einer Stelle. Mit den Fingern folgte sie dem Weg eines Lichtflecks und legte den Kopf in den Nacken, um nach der Lichtquelle zu suchen. Zu ihrem Erstaunen schwebte ein leuchtender Puschelball von der Decke herab. Zögerlich streckte sie die Hand aus und kicherte, als die Fellkugel darauf landete. Auf einmal öffnete sich ein Schlitz darin und ein kleines Männchen streckte seinen mit langen Fühlern besetzten Kopf heraus.
„Guten Morgen“, sagte es. „Marcelo Lumis ist mein Name, stets zu Diensten.“
„Ich bin Neolyt. Was heißt zu Diensten?“
„Ich leuchte“, sagte er nur.
„Dann bist du ein Flammengeist?“, fragte sie neugierig.
„Nein!“ Beleidigt zog er das Wort in die Länge. „Ich bin ein Glühwichtel, das sollte man doch sehen!“ Marcelo stieg endgültig aus seinem fliegenden Puschelball hinaus. Seine Haut war durchgehend von einem blassblauen Ton, nur die Spitzen seiner Fühler und sein Hinterteil, das an das einer Wespe erinnerte, leuchteten hellgelb. Er trug ein dunkelblaues Jackett mit vier Ärmeln für seine spindeldürren Ärmchen. Auch seine Beine, der Hals und der Kopf waren sehr dünn.
„Entschuldigung. Ich hab noch nie einen Glühwichtel gesehen.“
„Aha, Neuzugang. Freut mich sehr.“
Neolyt erschrak, als der Puschelball plötzlich, der nun, da der Glühwichtel nicht mehr darin saß, auch nicht mehr leuchtete, zwei große, runde, schwarze Augen öffnete.
„Keine Sorge, Batch ist nicht gefährlich. Ziemlich ungefährlich sogar, sehr gutmütig“, erklärte Marcelo. „Und stupide.“
„Was heißt stupide?“, fragte Neolyt.
„Dumm, begriffsstutzig, engstirnig, einfältig, borniert, hirnverbrannt, minderbemittelt, schwachköpfig, schwerfällig oder, umgangssprachlich, auch blöd oder doof“, sagte der Glühwichtel und warf damit weit mehr Fragen auf, als er beantwortete, aber Neolyt verzichtete darauf, sie zu stellen. „Wen oder was suchst du hier?“, fragte er.
„Deor. Deas meinte, er müsse irgendwo dahinten sein.“
„Ich bring dich hin“, bot Marcelo an und setzte sich in Batchs offenes Maul.
Eine Weile gingen, beziehungsweise schwebten sie schweigend nebeneinander her.
„Frisst Batch dich nicht, wenn du in ihn hineinsteigst“, fragte Neolyt schließlich, nachdem sie die beiden längere Zeit beobachtet hatte.
„Nein“, antwortete Marcelo, als wäre diese Vorstellung absolut abwegig. „Wieso sollte er? Er ist nicht intelligent genug zum Schlucken und Verdauen. Batch existiert. So, wie jeder Baschou.“
„Dann isst er gar nichts? Wie kann er überleben?“
„Gar nicht. Batch lebt nicht, im weitesten Sinne des Wortes. Er existiert.“
Neolyt beließ es dabei, auch wenn sie es nicht verstand.
„Dort ist er“, sagte Marcelo schließlich und deutete auf einen Sessel, der mit dem Rücken zu ihnen stand. Er verneigte sich, dann stieg er in Batch hinein und klappte den Mund des Baschou zu.
Neolyt ging um den großen Sessel herum. Deor saß nicht darin.
„Deor?“, fragte Neolyt und trat näher.
„Hallo“, sagte der Sessel.
„Was?“, fragte Neolyt verblüfft.
„Ich habe Hallo gesagt“, erklärte der Sessel und gähnte mit einem Mund aus Kordeln.
„Hallo“, sagte Neolyt. „Ist es normal, dass du sprichst?“
„Ja.“ Der Sessel sprach melodisch und weich, wie man es von einem Samtsessel erwartete. „Du willst zu Deor?“
„Ähm, ja, genau. Ist er nicht hier?“
„Doch. Ich sag ihm Bescheid.“
Eine Weile beobachtete sie den Samtbezug, bis sich etwas darunter zu bewegen schien und mit einem Mal Deor aus dem Sessel auftauchte.
„Guten Morgen, Neolyt“, sagte er und lächelte ihr zu.
„Guten Morgen. Ist das bei allen Sesseln so?“
„Nein“, erklärte er und stand auf. „Die meisten hier sind ganz normal. Aber ein paar können dich verschlucken, damit du beim Lesen deine Ruhe hast.“
„Aber der Sessel meinte, es wäre normal, dass er reden könne.“
Deor gluckste belustigt. „Natürlich sagt er das. Für ihn ist es nichts Ungewöhnliches. Siehst du, du würdest doch auch sagen, dass es normal ist, dich in einen Wolf zu verwandeln, nicht wahr?“
„Ja. Aber das ist doch auch ein bisschen normal, oder? Es gibt sicher viele Leute, die sich in einen Wolf oder etwas anderes verwandeln können.“
„Oh nein, Neolyt. Das können nur ganz wenige Menschen. Es heißt, manche Elfen hätten diese Fähigkeit und auch ein paar Kobolde in der Simeb-Wüste. Aber Leute wie dich gibt es nur ganz selten. Man könnte sogar behaupten, dass du die einzige Halbwölfin derzeit bist.“
„Wirklich? Was ist die Simeb-Wüste?“
„Das heben wir uns für den Geografieunterricht auf“, antwortete Deor und stieg über einen Teppich, der sich auf dem Gang zusammengerollt hatte und zu schnarchen schien.
„Geografie?“, hakte Neolyt nach und sah neugierig zum Teppich zurück, während sie Deor zwischen den Bücherregalen folgte.
„Da bringe ich dir etwas über die Beschaffenheit Yalyris’ oder die Entstehung von Gebirgen und Winden bei.“
„Was ist Yalyris?“
„Das ist das Land, in dem die Einhorn- und Drachenreiter herrschen und unsere Hauptstadt Xialenóll liegt. Aber dort leben auch viele andere Wesen, zum Beispiel in der Simeb-Wüste.“
„Aha.“
Sie gingen weiter, bis sie an Deas’ Schreibtisch angelangt waren.
„Du gehst schon?“, fragte der Bibliothekswächter und sah auf.
„Ja, aber ich schick sie dir heut Nachmittag wieder vorbei.“
„Gut. Schönen Tag noch“, meinte Deas und wandte sich wieder seinen Pergamenten zu.
Deor und Neolyt setzten ihren Weg durch die Gänge der unterirdischen Schule fort, die von Flammengeistern in hellwarmes Licht getaucht wurden. Schließlich hielten sie vor einer kleinen Tür, die auf eine Handbewegung Deors hin aufsprang. Der Raum dahinter war klein, doch durch ein Fenster fiel Tageslicht hinein. Neolyt trat näher heran und versuchte, nach draußen zu sehen, doch dann fiel ihr wieder ein, dass es hier unter der Erde gar keine Fenster geben konnte.
„Warum …“, begann sie und drehte sich um, doch der Schrank, den Deor soeben geöffnet hatte, verschlug ihr die Sprache. Bis zur Decke reichten die Etagen des hölzernen Riesen, die voller magischem Krempel zu sein schienen.
„Anfängerspeicher“, sagte Deor und zu ihrer Verblüffung rutschten die Etagen nach unten und von oben tauchten neue auf. Ob das normal für einen Schrank war?
Schließlich hielten die Bretter an und Deor nahm einen gefleckten, wachteleigroßen Stein heraus, warf ihn einmal kurz in die Luft und legte ihn dann auf einen kleinen, steinernen Tisch. Der Schrank verschwand in der Wand, die ebenfalls aus Stein war.
„Hier wirst du in den nächsten Tagen den grundlegenden Umgang mit Magie erlernen“, erklärte ihr Deor. „Es ist nämlich nicht ungefährlich zu zaubern, vor allem am Anfang. Es kann alles Mögliche schiefgehen, aber mit solchen Magiespeichern hier“, er deutete auf den Stein, „sind die schlimmsten Gefahren gebannt.“
Neolyt sah ihn erwartungsvoll an, gespannt darauf, wie es weiterging.
„Du musst den Stein berühren und dir das, was du tun willst, vorstellen. Das erfordert eine Menge Konzentration, aber keine Sorge, wir fangen ganz leicht an.“ Er legte eine kleine, weiße Feder neben den Stein auf den Tisch. „Lass die Feder schweben und ruf mich, wenn du es geschafft hast. Ich bin nebenan bei Yewan, aber ich werde dich hören und dann sehen wir weiter.“ Gerade, als er den Raum verlassen wollte, schien ihm noch etwas einzufallen. „Und hier sind noch mehr Federn, falls … etwas schiefgehen sollte.“ Er deutete auf eine Kiste, die neben der Stelle stand, an der eben noch der Schrank gewesen war. Dann hatte sich die Tür auch schon hinter ihm geschlossen.
Neolyt atmete tief durch, doch ihr wild klopfendes Herz ließ sich dadurch nicht beruhigen. Zögernd trat sie näher an den Tisch heran. War es wirklich so einfach? Würde sie tatsächlich gleich Magie benutzen? Das war so aufregend!
Sie hielt den Atem an und legte die Hand auf den gefleckten Stein. Es kribbelte leicht, aber das war wohl die Aufregung. Dann richtete sie den Blick auf die Feder und dachte mit aller Kraft: Flieg!
Aber es tat sich nichts.
Flieg!, dachte sie noch einmal, doch die Feder machte keinerlei Anstalten, sich in die Luft zu heben. Enttäuscht suchte Neolyt nach anderen Worten, die die Feder vielleicht dazu bringen würden, sich ihrem Willen zu beugen. Doch auch auf Schweb, Steig auf, Erhebe dich und Beim dreisten Käsemond, jetzt heb endlich deinen Kiel in die Luft! reagierte sie nicht. Trotzig schob sie das Kinn vor. Beim letzten Mal war es ihr ganz leichtgefallen zu zaubern, sogar ohne so einen Stein. Was hatte sie jetzt also falsch gemacht? Konzentrierte sie sich nicht genug?
Neolyt richtete ihren Blick starr auf die Feder und konzentrierte sich so lange auf den kleinen weißen Taugenichts, bis er urplötzlich in Flammen aufging.
Zuerst erschrocken, lächelte sie doch bald ungläubig. Sie hatte gezaubert! Sie hatte tatsächlich Magie gebraucht! Es war zwar nicht ganz das gewesen, was sie hatte erreichen wollen, aber doch Zauberei. Sie nahm sich eine neue Feder und beugte sich konzentriert über den Tisch. Deor hatte gesagt, sie solle sich vorstellen, wie die Feder flog, das konnte so schwer nicht sein. Mit aller Kraft stellte sie sich vor, die Feder würde sich endlich von dem steinernen Tisch erheben. Doch anstatt ihrem Wunsch Folge zu leisten, nahm sie eine knallgrüne Färbung an. Neolyt runzelte die Stirn, ließ sich dadurch jedoch nicht aus der Fassung bringen. Abermals konzentrierte sie sich und die Feder zerfiel zu Staub.
Die nächsten drei Federn explodierten nach wenigen Minuten in gelben, blauen und violetten Flammen, die vierte floss als spärliches Rinnsal davon, die fünfte schrumpfte erst auf die Hälfte ihrer ursprünglichen Größe, um dann wie ein Insekt davonzukrabbeln, und die sechste verwandelte sich mit einem leisen Puff und ein wenig grünem Qualm in eine Primel. Doch Neolyt war begeistert. Zu was sie alles fähig war! Dass die Federn nicht im Traum daran dachten zu fliegen, störte sie nicht.
Doch irgendwann wurde sie der brennenden, bunten und vergrößerten oder verkleinerten Federn müde. Irgendetwas musste sie falsch machen. Vielleicht bestand ein Unterschied zwischen dem Versuch, eine Feder zum Fliegen bringen zu wollen, und sie fliegen zu lassen. Sie nahm den Stein fest in die Hand und stellte sich vor, die Feder hochzuheben. Ohne Mucken erhob sie sich einige Handbreit vom Tisch und blieb dort schweben. Neolyt hob die Hand und berührte sie vorsichtig, woraufhin sie wieder hinabfiel.
„Deor“, rief sie und kurze Zeit später öffnete sich die Tür und ihr Mentor trat ein.
„Hoppla“, sagte er, als er beinahe auf ein Federtier trat. „Interessant, was du alles anstellst, wenn du eine Feder fliegen lassen sollst.“
„Nicht wahr?“ Neolyt strahlte.
„Und hast du auch geschafft, was du machen solltest?“
„Natürlich.“ Neolyt nahm den Stein fest in die Hand und die Feder erhob sich wieder in die Luft.
„Sehr schön.“ Er sah auf ein merkwürdiges Gerät an seinem Handgelenk und notierte dann etwas auf einem Blatt Pergament. „Kaum eine Stunde. So schnell wird die fliegende Feder selten gemeistert. Dann wollen wir mal.“
Abermals ging er zum Schrank hinüber und holte eine weitere Kiste heraus, die er zwischen sich und Neolyt auf den Tisch stellte. In der nächsten Stunde ließ Neolyt die verschiedensten Dinge durch den Raum schweben. Es gelang ihr meist auf Anhieb, die Gegenstände in die Luft zu befördern, und mit jedem Mal wuchsen ihr Stolz und ihre Begeisterung. Sie konnte zaubern! Sie konnte richtig, wahrhaftig zaubern! Und es fiel ihr absolut leicht.
„Mich würde interessieren, wie du die Sachen fliegen lässt“, sagte Deor schließlich und pflückte einen Kerzenleuchter vor sich aus der Luft.
„Mit dem Stein“, sagte sie und hielt den Magiespeicher hoch. Das war doch selbstverständlich.
„Ja, aber was stellst du dir dabei vor?“
„Ich hebe die Sachen hoch“, antwortete Neolyt unsicher. War das falsch?
„Aha, das dachte ich mir. Dann wollen wir mal sehen, ob du auch das hier zum Fliegen bringst.“ Er nahm einen großen Stein aus der Kiste, den Neolyt niemals mit bloßen Händen heben könnte.
Sie konzentrierte sich und spannte den ganzen Körper an, ihre Hände zitterten.
„Warte kurz“, unterbrach Deor sie. „So wirst du es nicht schaffen. Du darfst nicht von deinen physischen Kräften ausgehen.“
„Wovon?“
„Von dem, was du auch ohne Magie tun könntest. Oder eben nicht“
„Ach so.“ Abermals konzentrierte sich Neolyt auf den Stein und stellte sich vor, ihn ganz einfach zu heben. Wackelnd erhob er sich in die Luft.
„Sehr gut“, sagte Deor und sie erschrak so sehr, dass der Stein auf den Tisch zurückfiel und tiefe Risse hineinschlug.
„Oje“, meinte sie und betrachtete sorgenvoll die demolierte Tischplatte.
„Halb so wild“, erklärte Deor lächelnd, hob den Stein auf und fuhr mit der Hand über die Risse, woraufhin diese verschwanden. „Dieser Raum hat schon Schlimmeres erlebt.“
„Wann kann ich so etwas auch machen?“, fragte sie neugierig und fuhr mit dem Finger über die makellos glatte Platte.
„Immer langsam mit den jungen Pferden, du wirst es früh genug lernen. Wichtig ist, dass du zuerst eine der grundlegenden Prinzipien der Magie begriffen hast.“
Neolyt sah ihn fragend an.
„Man muss die Grenzen des Möglichen erweitern. Du kannst nicht zaubern, wenn du nur das, was du physisch auch schaffst, für möglich hältst.“
Ja, das leuchtete ein.
„Du musst also immer davon ausgehen, dass das, was du vorhast, ohne Weiteres möglich ist.“
„Dann kann man mit Magie alles machen?“, fragte Neolyt verblüfft.
„Letztendlich schon, alles ist möglich. Aber jeder muss persönlich seine Grenzen finden. Würdest du alle existierende Magie lenken können, wäre für dich nichts unmöglich. Aber da dem nicht so ist, würdest du spätestens bei dem Versuch, die Zeit zurückzudrehen, scheitern.“
„Man könnte in der Zeit reisen?“
„Für manches höheres Wesen ist Zeit nicht von Bedeutung, sie können sich in der Zeit bewegen, wie wir im Raum. Aber wir werden diese Fähigkeit niemals besitzen.“
„Was sind die anderen Prinzipipen der Magie?“, fragte Neolyt weiter.
„Prinzipien. Und die kann ich dir, wenn du so weitermachst, vermutlich morgen schon erklären“, sagte Deor und blickte wieder auf das Gerät auf seinem Handgelenk. „Du übst jetzt am besten noch ein bisschen mit dem Stein und den anderen Sachen. Probiere doch einmal, mehrere Dinge gleichzeitig fliegen zu lassen, und mach die keinen Kopf, wenn etwas kaputt geht, das ist kein Problem. Ich sag Bescheid, wenn du zum Mittagessen gehen kannst.“
Als Deor zwei Stunden später den Kopf wieder hereinsteckte, hatte Neolyt nur einen Teller und eine versehentlich gläserne Feder zu Bruch geflogen. Sie packte die Sachen in die Kiste und Deor stellte diese in den Schrank zurück. Gemeinsam mit Yewan gingen sie zum Speiseraum.
„Warst du wirklich schon fertig, als du Deor gerufen hast?“
„Wann war das denn?“
„Auf jeden Fall keine Stunde, nachdem du angefangen hattest.“
„Kann sein.“
„Irre!“ Yewan grinste von einem Ohr zum andern. „Sollte ’ne Weile her sein, dass das passiert ist. Ich hab ganze anderthalb Stunden gebraucht, bis das Mistvieh endlich das gemacht hat, was es sollte.“
„Das ist doch nicht viel mehr.“
„Über eine halbe Stunde. Und dabei war ich zwei Jahre älter als du jetzt.“
„Ja schon, aber …“
„So etwas braucht einem nicht peinlich zu sein. Es hat noch nie jemandem geschadet, schlauer zu sein als andere.“
„Aber das hat doch nichts mit Wissen zu tun.“
„Richtig, das ist Intuition, also so etwas wie angeborene Intelligenz.“
Neolyt wurde rot und war froh, dass ihr der Lärm des Speiseraums eine Antwort ersparte. Sie nahm sich einen Teller voll langer, dünner, gelber Fäden mit roter Soße und setzte sich zu Elly, die bereits mit einer komplizierten Technik ihre Fäden aß.
„Hey, Nel, wie war die Feder?“, fragte sie gut gelaunt, ohne von den Fäden aufzusehen.
„Ging.“
„Wie lang hast du gebraucht?“
„Eine Stunde, ungefähr“, meinte Neolyt und es war ihr wieder peinlich, weil Elly darauf antwortete: „Ging? Das ist absolute Spitze! Ich weiß, dass der Durchschnitt für Hochpotenzialisten bei einer Stunde und sechsunddreißig Minuten liegt. So gut wie du will ich auch zaubern können. Es hat zwei Stunden gedauert, bis meine Feder flog.“
„Was ist das eigentlich?“, fragte Neolyt, um das Thema zu wechseln, und sah skeptisch auf die Fäden.
„Nudeln. Schmeckt ganz gut, aber irgendwann hat man die Nase voll davon.“
„Die Nase?“
Elly gluckste. „Das ist umgangssprachlich und meint, dass du Nudeln nach einer gewissen Zeit einfach nicht mehr essen magst.“
„Aha, verstehe“, sagte Neolyt, obwohl sie sich da nicht so sicher war.
Elly erklärte ihr, wie man mit Tischmanieren Nudeln aß und wie es ohne sie viel mehr Spaß machte.
Am Nachmittag unterrichtete Deas sie wieder im Lesen und Schreiben. Es ging quälend langsam voran, auch wenn der Bibliothekar meinte, sie würde schnell Fortschritte machen.
Nachdem sie sechs Wochen lang jeden Tag geübt hatte, beherrschte sie das Alphabet endlich gut genug, um mit Büchern zu arbeiten und Aufsätze schreiben zu können. Auch im Magieunterricht strengte sie sich an und kam dementsprechend schnell voran. Sie liebte alles, was direkt mit Magie und deren Gebrauch zu tun hatte, auch wenn der theoretische Unterricht teilweise etwas trocken war.
Erst nach zwei Monaten bekam sie einige neue Lieblingsfächer dazu. An einem Montagmorgen lag auf ihrem Schreibtisch ein Zettel, der ihr mitteilte, dass sie sich vier Stunden vor Mittag in der Kampfhalle einzufinden hatte. Entsprechende Kleidung läge in ihrem Schrank bereit.
Während des Frühstücks war sie so aufgeregt, dass sie kaum einen Bissen hinunter bekam. So schnell sie konnte, eilte sie in ihr Zimmer zurück, wo sie auf Elbea traf.
„Erstes Kampftraining?“, fragte sie knapp, ohne aufzublicken.
„Ja“, erwiderte Neolyt, ebenso kurzgefasst, wie sie es sich ihrer Mitbewohnerin gegenüber angewohnt hatte. Hastig schlüpfte sie in die Leinenhose und das feste Hemd aus ihrem Schrank, band den Gürtel zu und zog die leichten Lederstiefel an, die wie angegossen saßen. Seit Wochen hatte sie sich kaum anders bewegt, als zwischen den einzelnen Räumen hin und her, endlich würde sie wieder laufen, springen, reagieren können.
Sie war nicht die Erste, als sie vor der Halle ankam. Dort wartete bereits eine kleine Schar Schüler, die sich aufgeregt miteinander unterhielt. Neolyt blieb am Rand der Gruppe stehen. Noch immer fühlte sie sich unwohl zwischen den Schülern, zumal weder Elly noch Yewan hier waren und alle deutlich älter und größer waren als sie.
Endlich wurde die Tür geöffnet und die Schüler verstummten. Eine junge Frau stand dort, die Hände in die Hüften gestemmt, und betrachtete sie lächelnd. Neolyt hatte noch nie jemanden mit so dunkler Haut gesehen, aber wahrscheinlich war es bei den Menschen wie bei den Wölfen, manche hatten eben dunkles Fell und andere helles.
„Ravela, ich bin Wadne, es freut mich, euch zu eurer ersten Trainingsstunde begrüßen zu dürfen. Wie ihr sicher schon von den älteren Schülern wisst, werde ich euch erst einmal in den Grundtechniken des einfachen Schwertkampfes und des waffenlosen Kampfes unterrichten. Wer das absolviert hat, kann seine weiterführenden Fächer wählen oder ganz aussteigen.“
Hinter sich hörte Neolyt einen erleichterten Seufzer und drehte sich um. Der schmale Junge mit der großen Brille sah etwas verloren in den derben Kampfkleidern aus.
„Dann kommt mal rein“, forderte Wadne sie auf und trat beiseite. Die meisten stürmten sofort hinein, doch Neolyt und der Junge hielten sich zurück. Sie mochte es nicht, mitten zwischen Menschen zu stehen, fühlte sich trotz der zwei Monate, die sie nun schon unter ihnen verbracht hatte, von ihnen bedroht.






