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Jede Menge merkwürdiger Gerüste und Aufbauten standen in einem durch Seile abgetrennten Bereich der riesigen Halle. Neolyt beäugte sie neugierig, doch Wadne belehrte sie, kaum dass sich alle bei ihr in der Mitte ihres mit Sand ausgestreuten Bereiches eingefunden hatten, dass es ihnen strengstens verboten sei, die Halle ohne Aufsicht eines Lehrers zu betreten, und dass sie als Anfänger auch keinen Zutritt zu den Parcours für die älteren Schüler hätten.
„Ihr lauft euch erst einmal ein paar Runden zur Erwärmung ein, dann dehnen wir uns und fangen an. Weiß jemand, warum die Erwärmung wichtig ist?“
Ein paar Schüler meldeten sich.
„Damit wir keinen Muskelkater kriegen“, erklärte ein Junge mit Sommersprossen selbstsicher.
„Tja, wenn’s so einfach wäre.“ Wadne lächelte. „Ich kann euch garantieren, dass ihr euch spätestens heute Nachmittag kaum noch bewegen werden könnt. Mit solchen Aufwärmungen verringern wir die Gefahr einer Zerrung oder Schlimmeres. Deswegen bitte ich euch, das sehr ernst zu nehmen, schließlich will wohl kaum jemand von euch die Trainingsstunden verpassen, oder?“ Sie zwinkerte ihnen zu.
Neolyt sah wieder zu dem Jungen mit der Brille und war sich ziemlich sicher, dass er fast alles tun würde, um sämtliches Training zu versäumen.
Nachdem sie einige Runden gerannt waren und sich mit verschiedenen Übungen gedehnt hatten, verteilte Wadne an jeden einen Holzdolch und stellte sie im Block auf.
„Immer wenn wir eine neue Technik lernen, nehmt ihr diese Aufstellung ein. Es müssten mich alle sehen können.“ Sie stellte sich mit dem Gesicht zu ihnen. „Ich nehme an, dass viele von euch erwartet haben, bereits heute ein Schwert in der Hand zu halten, doch ich muss euch enttäuschen. Ich werde euch erst dann ein Holzschwert geben, wenn ihr ausreichend gut mit dem Dolch umgehen könnt, und bis ihr ein richtiges Schwert bekommt, sollte es noch eine ganze Weile dauern.“ Sie warf den Dolch mit augenscheinlicher Leichtigkeit hoch in die Luft, um ihn wieder aufzufangen, ohne den Blick von ihren Schülern zu wenden. „Es ist wichtig, mit dem Dolch umgehen zu können, da ihr unmöglich ständig ein Schwert mit euch tragen könnt. Er ist klein und doch in der richtigen Hand ebenso gefährlich wie ein Schwert, wenn nicht gar gefährlicher. Außerdem ist es deutlich einfacher, in eng begrenztem Raum mit einem Dolch zu fechten, als ein Langschwert zu verwenden. Selbstverständlich werdet ihr mit einem normalen Dolch nicht viel gegen einen Magier ausrichten können, aber um solche Leute im Notfall bezwingen zu können, habt ihr ja eure Mentoren. Ich weiß, dass ihr das Training anfangs hassen werdet, aber glaubt mir, es ist nur zu eurem Besten.“ Sie lächelte ihnen abermals zu.
Neolyt sah in den Mienen einiger anderer das Missfallen über die kleine Waffe und die Aussicht auf unangenehmes Training, aber ihr machte der Dolch nichts aus. Er wurde wohl von den Menschen wie eine Kralle benutzt und mit Krallen kannte sie sich schließlich besser aus, als mit langen Schwertern.
„Gut, ich werde euch jetzt die Grundstellungen zeigen, ihr macht sie nach und versucht, sie zu halten, bis ich Stopp rufe.“ Wadne drehte sich mit dem Rücken zu ihnen und stellte sich, die Füße etwa schulterbreit voneinander entfernt, parallel und nach vorn gerichtet hin, die Knie leicht gebeugt und die Hände an den Oberschenkeln. „Haben das alle?“ Sie wandte sich ihnen wieder zu und ging durch die Reihen, um ihren Stand zu korrigieren.
„Die Füße parallel, Neolyt“, sagte sie, als sie zu ihr kam, dann stupste sie sie etwas an und nickte. „Ansonsten sehr schön.“
Neolyt hatte keine Ahnung, wie lange sie so stehen blieben, aber sie war es gewöhnt, geduckt zu warten, bis der richtige Zeitpunkt gekommen war, die Beute zu fassen. Schließlich begannen die ersten Knie zu zittern und Wadne erlöste sie.
„Das macht ihr wirklich gut“, erklärte sie und nickte zufrieden. „Als nächstes hätten wir die Grundstellung links, selbes Schema, ich mache es vor und ihr haltet.“ Wieder beugte sie leicht ihre Knie, setzte aber den linken Fuß einen Schritt nach vorn und drehte beide Fußspitzen nach außen, ihr Rücken war gerade durchgestreckt, aber etwas vorgebeugt. Sie hatte den Dolch in der rechten Hand etwa auf Kopfhöhe erhoben und die linke wie zur Abwehr mit dem Ellbogen nach vorn an ihrer Schläfe. So verharrten sie sicherlich zwei Minuten, bis Wadne ihnen das Zeichen zum Auflösen gaben.
„Als letztes gibt es noch die Grundstellung rechts, das ist dasselbe wie links, nur eben seitenverkehrt.“ Sie machte es kurz vor und ging abermals durch ihre Reihen.
Als sie die Starre diesmal lösen durften, hatten Neolyts Arme bereits angefangen zu schmerzen.
„Sehr schön. Aber es kommt ja nicht nur darauf an, die Grundstellungen halten zu können, ihr müsst auch aus ihnen heraus reagieren können. Ihr stellt euch jetzt in die Position, die ich ansage, und wenn ich Feind rufe, springt ihr hoch. Später werdet ihr daraus dann einen Angriff führen, aber springen sollte fürs Erste genügen. Gut, zuerst Grundstellung links!“
Alle stellten sich auf und warteten gespannt. Neolyt wusste, wie lange es dauern konnte, bis der Zeitpunkt günstig war, und wie geduldig man in einer solchen Situationen sein musste. Wenn man zu angespannt wartete, war die Geduld bald aufgebraucht. Schon im Alter von zwei Jahren hatte ihre Mutter sie in der Feinmethodik der Jagd unterwiesen, sie kannte die richtige Mischung aus Geduld und Aufmerksamkeit gut genug, um im richtigen Moment aufzuspringen, als Wadne laut „Feind!“ rief. Die meisten anderen waren zusammengezuckt, doch ein paar waren ebenfalls aufgesprungen. Augenblicklich machte Neolyt sich wieder klein. Sie hasste es, aufzufallen. Vor allem Menschen gegenüber. Immerhin wäre das bis vor Kurzem noch ihr Todesurteil gewesen.
Noch ungefähr fünf Mal ließ Wadne sie aus der rechten oder linken Grundstellung hochschnellen, mal wartete sie unendlich lang, mal kaum eine halbe Minute. Danach übten sie, auf Kommando die einzelnen Grundstellungen einzunehmen und den Dolch sowohl in der linken als auch in der rechten Hand zu führen, denn – wie Wadne es ihnen erklärt hatte – es war äußerst wichtig, dass man nie einseitig wurde, damit man bei einer Handverletzung nicht sofort kampfunfähig war.
Am nächsten Tag wurden sie äußerst früh am Morgen wieder in die Halle bestellt.
„Gewöhnt euch besser dran, eure Tage werden ab heute einen strengeren Ablauf haben als bisher“, begann Wadne. „Exakt fünf Stunden vor Mittag habt ihr euch hier einzufinden, dann absolviert ihr eine Stunde Krafttraining. Nach einer halben Stunde Pause findet ihr euch wieder bei euren Mentoren ein und werdet bis zum Mittagessen, welches eine Stunde nach Mittag stattfindet, in diversen Fächern unterrichtet werden. Danach habt ihr bis drei Stunden nach Mittag Zeit für eure Hausaufgaben und solltet euch dann unverzüglich wieder hier einfinden. Das Dolch- oder später Schwertkampftraining findet bis sechs Stunden nach Mittag statt und fünf Stunden vor Mitternacht gibt es Abendbrot. Der freie Tag in der Woche ist Samstag. Gibt es noch Fragen?“
„Bleibt das bis zum Ende der Ausbildung so?“, sprach ein Mädchen die Befürchtung aller aus.
„Nein, natürlich nicht. Sobald ihr euch für ein Profil entschieden habt, bekommt ihr neue Unterrichtspläne“, erklärte Wadne. Neolyt hatte zwar nicht im Entferntesten eine Ahnung, was ein Profil war, aber wenigstens würde nicht für immer jeder Tag wie der andere sein.
„Teilt euch jetzt bitte in Paare ein. Danach klären wir die einzelnen Stationen ab.“
Automatisch trat Neolyt einige Schritte zurück, um niemandem im Weg zu stehen, denn unter den anderen brach natürlich sofort ein kleiner Tumult aus. Vielleicht sollten Paare lieber von Anfang an festgelegt sein, überlegte sie, doch wer wusste, mit wem sie dann trainieren müsste.
Am Ende waren nur noch sie und der schmächtige Junge mit der Brille übrig. Das war gut, denn auch er war offenbar sehr wortkarg und sie hatte ohnehin keine Lust, mit besonders vielen Menschen zu reden. Am besten mit möglichst wenigen. Sie hatte ja schon mit Irla, Deor, Deas, Yewan, Wadne, Valria, Elly und … einer Menge anderen Menschen geredet. Da mussten es nicht zwingend noch mehr werden.
Die erste Übung war einfach und Neolyt verstand nicht, warum ausgerechnet sie damit anfangen sollten, bis er sich an der Übung versuchte.
„Es ist doch wirklich nicht schwierig, die Arme zu beugen und dann wieder zu strecken“, erklärte sie und sah ihm stirnrunzelnd dabei zu, wie er versuchte, sich vom Boden hochzustemmen.
„Ja, aber wenn da noch der ganze Körper mit daraufliegt, ist das deutlich schwieriger“, presste er zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor.
„Das mag sein, aber es ist kein Grund, so zu tun, als sei man ein neugeborenes Rehkitz.“
„Wie bitte?“
„Ich habe gesagt, dass das sein kann, aber kein Grund dafür ist …“
„Ich meinte den Vergleich am Ende“, unterbrach er sie.
„Das Rehkitz? Ich finde das schon passend. Es sieht nämlich genauso aus, dich würde im Wald sicher kein Wolf anfallen.“ Sie hielt kurz inne. „Nein, sowieso nicht, du riechst ja nach Mensch.“
„Ich rieche nach Mensch? Natürlich rieche ich nach Mensch, ich bin ein Mensch, ebenso wie du.“ Die letzten Worte waren mehr Frage als Feststellung.
„Soll das heißen, du bist auch in Wirklichkeit ein Wolf?“, fragte Neolyt erfreut.
Der Junge setzte sich auf und sah sie interessiert an. „In Wirklichkeit ein Wolf?“
Neolyt lief rot an, als sie merkte, wie sehr sie sich verplappert hatte.
„Ich meine … Eigentlich … Jetzt mach schon die Liegestütze weiter.“
Doch der Junge rührte sich nicht.
„Unglaublich, eine äußerst interessante Genmutation. Ich bin übrigens Elnar.“ Er streckte ihr die Hand entgegen und sie nahm sie zögernd.
„Neolyt“, entgegnete sie. „Und jetzt versuch wenigstens eine Liegestütze.“
Mit Elnar war es tatsächlich zum Heulen. Und damit war der wasserreiche, emotionale Ausbruch unter Menschen gemeint und nicht das äußerst effiziente Verständigungssystem der Wölfe. Es war nämlich so, dass er, sobald er einen Liegestütz geschafft hatte, der Meinung war, das würde reichen und sich bei keiner anderen Übung mehr Mühe gab. So hatte Neolyt alle Hände voll zu tun, ihn immer und immer wieder anzuspornen, doch noch wenigstens einen einzigen Klimmzug zu machen.
Schließlich machte er ihr ein paar Tage später in einer Trinkpause ein Angebot. „Na schön, ich werde mich ab heute anstrengen.“
Sie zog überrascht die Augenbrauen hoch. „Na großartig. Hast du endlich eingesehen, dass du nicht besonders lange ohne Muskeln wirst überleben können?“
„Vielen Dank, sehr freundlich, ein paar Muskeln hab ich doch“, entgegnete er, worauf Neolyt ihn skeptisch ansah. „Ist schon gut. Nein, was mich eigentlich dazu bringen würde, wäre die Erfüllung zweier Bedingungen deinerseits.“
„Du weißt doch, dass ich mit den ganzen komischen Sätzen nicht klarkomme. Bitte sag es so, dass auch ein normaler Wol… Mensch es versteht.“
„Normale Menschen können gute Formulierungen verstehen. Aber gut: Wenn ich mich anstrengen soll, dann gibst du mir eine Probe deines Blutes, redest mehr mit anderen Menschen und lässt dich von mir in unserer Sprache unterrichten.“
„Drei Sachen? Wozu brauchst du mein Blut? Und warum sollte ich mehr mit anderen Menschen reden? Wenn sie reden wollen, können sie doch anfangen. Außerdem rede ich schon mit mehr Menschen als Wölfe in meinem Rudel waren, das reicht doch.“
„Dann ist es also in Ordnung, dass ich dir beibringe, facettenreicher zu sprechen?“
„Das machst du mit Absicht, stimmt’s?“
„Tut mir leid, ich konnte der Versuchung nicht widerstehen.“
„Schon gut. Und nein, ich hab das nur nicht eingesehen, weil ja wohl schon zwei Sachen für eine Sache eine Sache zu viel sind und drei dann zwei zu viel wären.“
„Wenigstens rechnen kannst du“, murmelte Elnar. „Überleg doch mal. Du müsstest nur drei Bedingungen erfüllen, aber ich müsste die ganzen Übungen schaffen. Und das sind mehr als drei.“
Neolyt hatte das Gefühl, als hätte er sie gerade zu etwas überredet, was sie eigentlich nicht wollte, und das mit dem, was sie gesagt hatte. Verrückt.
„Ja, stimmt. Na schön. Aber nur, wenn du dir wirklich Mühe gibst.“
„Weiter geht’s, ihr habt jetzt genug gefaulenzt!“ Das Krafttraining wurde nicht mehr von Wadne beaufsichtigt, sondern von einem älteren Schüler, der es offensichtlich genoss, sie herumzukommandieren.
In der halben Stunde nach dem Krafttraining überredete Elnar sie, mit auf die Krankenstation zu kommen.
„Warum jetzt? Nach dem Mittagessen hätte es doch auch gegangen.“
„Wäre.“
„Was?“
„Wie bitte.“
„Ich habe Was? gesagt.“
„Das habe ich gehört, aber richtig heißt es Wie bitte. Und außerdem steht das Partizip zwei von gehen im Konjunktiv mit wäre und nicht mit hätte.“
„Was?“
Elnar blieb stehen, schloss kurz die Augen und drehte sich dann zu ihr um.
„Tu mir wenigstens den Gefallen und sag Wie bitte, wenn du etwas nicht verstanden hast.“
„Aber warum denn? Auf Was? kriegen ich und alle anderen auch immer eine Antwort.“
Elnar wandte sich wieder um und ging wortlos weiter. Neolyt war sich sicher, dass sie irgendetwas gesagt hatte, das ihn verärgert hatte.
Endlich kamen sie auf der verlassenen Krankenstation an.
„Bist du sicher, dass wir hier sein dürfen?“, flüsterte Neolyt. Ihr war der menschenleere Saal unheimlich.
„Natürlich, ich bin Aushilfspfleger, ich darf hier sein, wann immer ich will, bloß nicht nach Nachtruhe.“ Zielstrebig schritt er auf ein kleines Schränkchen zu und kramte darin herum. „Setzt dich schon mal dahin.“
Da er auf nichts gezeigt hatte, nahm Neolyt kurzerhand auf dem ihm nächsten Bett Platz.
„Gut.“ Er kam mit einer Schlaufe und einem etwas kleineren gläsernen Behälter wieder. „Leg dir das mal um den Oberarm und zieh es ein bisschen fest.“
Es war nicht besonders angenehm, aber Neolyt tat, wie ihr geheißen. Währenddessen nahm Elnar ein Glasröhrchen und eine lange Nadel, die Neolyt misstrauisch beäugte.
„Hast du vor, mir damit in den Arm zu pieken?“
„Natürlich. Oder hast du gedacht, ich schlitze dir die Hauptschlagader auf?“ Er lachte, als wäre das eine unglaublich lächerliche Vorstellung.
„Die was?“, hakte Neolyt nach.
„Die Hauptschlagader. Glaub mir, das willst du nicht erleben.“
Neolyt glaubte ihm. Aber hauptsächlich, weil sie selbst nicht die geringste Ahnung davon hatte.
Es piekte etwas, als er die Nadel in die Haut steckte, und ein dünnes, rotes Rinnsal floss in das schmale Glasröhrchen.
„Gut, das war’s schon“, erklärte Elnar, zog die Nadel heraus und drückte ein Stück Stoff auf die Armbeuge. „Ich werde dir erzählen, was ich herausgefunden habe. Aber jetzt müssen wir uns beeilen.“
Im Gehen stopfte er das Glasröhrchen, das er mit einem Korken verschlossen hatte, in seine Tasche.
Mit nur wenigen Minuten Verspätung erreichte sie Deors Klassenzimmer.
Die Magie lief ausgesprochen gut. Auch in den anderen Fächern lernte sie schnell. Elnar gab sich in den Trainingsstunden tatsächlich ausgesprochene Mühe und Neolyt wich nicht mehr jedem Gespräch aus, auch wenn sie immer noch nicht verstand, was das bringen sollte. Zu ihrem Glück war Elnar noch nicht dazu gekommen, den angedrohten Sprachunterricht zu beginnen, doch wann immer er ihr über den Weg lief und ihr eine seiner Meinung nach sprachverunstaltende Redewendung entschlüpfte, korrigierte er sie und hängte gleich noch einen Vortrag über etwas, was er Grammatik nannte, dran. Doch alles in allem war er ein netter Kerl.
Vier Wochen später eröffnete Wadne ihnen nach einer besonders guten Trainingsstunde, dass sie von nun an auch mit dem Schwertkampf anfangen würden. „Aber glaubt bloß nicht, ihr wärt den Dolch für immer los.“ Mit einem Kopfnicken verabschiedete sie sie.
„Und ich dachte schon, jede Anstrengung sei umsonst“, meinte Elnar beim Hinausgehen. „Ich habe übrigens etwas äußerst Interessantes herausgefunden. Vielleicht kommst du heute Abend nach dem Abendbrot einmal mit Deor im Krankensaal vorbei.“
„Ich sag ihm Bescheid. Was hast du herausgefunden?“, hakte sie nach, doch Elnar lächelte nur geheimnisvoll und bog in den Gang der Bibliothek ab.
Neolyt hatte nicht den blassesten Schimmer, wo Deor zu dieser Tageszeit sein könnte, und ging daher erst einmal auf ihr Zimmer, um die Hausaufgaben zu erledigen, die sich inzwischen angesammelt hatten.
Als es Zeit für das Abendessen wurde, hatte Neolyt gerade die Hälfte der Hausaufgaben erledigt. Ihre langsame Handschrift war ihr noch immer hinderlich. Sie träumte noch davon, einmal so schnell wie Elly schreiben zu können, obwohl sie gesagt hatte, es wäre besser, langsam und inhaltsreich als schnell und inhaltslos zu schreiben. Vermutlich hatte sie recht, aber es kostete auch eine Menge Nerven, jeden Buchstaben einzeln malen zu müssen.
Zu ihrem Glück war Deor zur selben Zeit im Speisesaal wie sie. So konnte sie ihm gleich von Elnar erzählen.
„Du hast jemandem dein Blut gegeben?“
„Ja. Ist das schlecht?“, fragte sie, von seiner Miene verunsichert.
„Nun, wenn er es nicht allzu vielen Leuten erzählt hat, eher nicht.“
Auf dem Weg zum Krankensaal schwiegen sie beide. Deor wirkte angespannt und Neolyt hatte das Gefühl, einen unnötigen Fehler gemacht zu haben, und hielt lieber den Mund.
„Da seid ihr ja“, begrüßte Elnar sie. Er wirkte aufgeregt. „Guten Abend, Meister Deor.“
„Wie vielen Leuten hast du schon erzählt, was du herausgefunden hast?“, fragte Deor ohne Umschweife.
„Niemandem. Ich dachte mir, dass du es zuerst erfahren willst.“
„Sehr gut, das sollte am besten auch so bleiben. Dann zeig mal her.“
Elnar ging voraus und bedeutete ihnen, ihm bis zu einem merkwürdigen, kompliziert aussehenden Gerät aus Metall und Glas zu folgen.
„Was ist das?“, fragte Neolyt und betrachtete interessiert die vielen verschlungenen Metallröhren.
„Man nennt es Mikroskop. Damit kann man kleine Dinge bis auf das Hundertfache vergrößern. Ich habe damit und noch mit einigen anderen Geräten dein Blut untersucht, und was dabei herausgekommen ist, werdet ihr nicht glauben.“ Er hielt eine kleine Glasplatte hoch. „Hier sind ein paar Tropfen deines Blutes drauf, versetzt mit einer speziellen Lösung. Und jetzt schaut euch das einmal an.“ Er legte die Glasplatte in einen Schlitz des Gerätes ein, es surrte und summte einige Momente lang, dann trat Deor näher heran und sah in zwei der Röhren hinein.
„Womit hast du ihr Blut versetzt?“, wollte er wissen und sah Elnar an.
„Das ist Aleniktramenograpenolftan.“
„Aber im Blut ist nichts, was durch AMP grün gefärbt würde.“
„Das habe ich mir auch gedacht, deshalb habe ich etwas nachgeforscht. Und wenn man zu der Lösung hier noch passive Magie hinzufügt“, er nahm das Plättchen wieder heraus und tropfte eine farblose Flüssigkeit darauf, „und das erneut durch das Mikroskop betrachtet, kann man eine äußerst interessante Veränderung beobachten.“
Abermals sah Deor in die Röhren. Als er wieder aufsah, nickte er anerkennend. „Du bist noch Anfänger, oder? Wie kommt es, dass du so viel über solche Sachen weißt?“
„Mein Vater ist Heiler und berühmt für seine Forschungen. Außerdem ist Meisterin Karame meine Mentorin, so hatte ich von Beginn der Ausbildung an Zugang zu allen Instrumenten.“
„Ich hoffe doch, unter Aufsicht, nicht wahr?“, fragte Deor mit hochgezogenen Augenbrauen.
„Nicht direkt. Ich habe einen Schlüssel zu den Räumen. Meisterin Karame meinte, man könne mir vertrauen.“
„Dann weiß sie von der Blutprobe?“
„Nein. Wie gesagt, ich hielt es für besser, zuerst dich und Neolyt von den Ergebnissen in Kenntnis zu setzen“, erklärte Elnar mit fester Stimme, doch in seinen Zügen spiegelte sich Unsicherheit. „Hätte ich es ihr erzählen sollen?“
„Ich werde das tun. Du wirst niemandem mehr ein Sterbenswörtchen davon sagen, verstanden? Ich kann entscheiden, wer es erfährt, du behältst es einfach für dich.“
„Kein Problem“, entgegnete Elnar, doch sein Blick zeigte offene Neugier.
„Was ist denn mit meinem Blut?“, platzte Neolyt endlich heraus. Sie hielt ihre Unwissenheit nicht mehr aus.
„Du kannst aufgrund der besonderen Genkombination von Wolf und Mensch Magie spüren. Das ist eine äußerst ungewöhnliche und seltene Gabe, und damit niemand auf die Idee kommt, sie für seine Zwecke zu missbrauchen, halten wir es geheim.“
„Aha“, antwortete Neolyt, obwohl sie nicht alles verstanden hatte. „Ich habe aber noch nie Magie gespürt. Wieso wusste ich nicht, dass ich das kann?“
„Vermutlich, weil du bisher noch kaum mit Magie zu tun hattest und erst seit ein paar Monaten in der Lage bist, sie zu kontrollieren. Auf jeden Fall sollten wir die Ausbildung dieses Sinnes mit in unseren Unterricht einbinden.“
Bereits zwei Monate später gelangen die Konzentrationsübungen dazu immer besser. Neolyt hatte inzwischen ebenso wie viele der Anfänger die Grundprüfung im Schwertkampf bestanden, sogar Elnar hatte es mit Ach und Krach geschafft. Nun standen sie vor der Profilwahl.
„Du solltest das Profil Krieger wählen“, bekräftigte Yewan zum wiederholten Mal. Sie waren auf dem Weg in die Bibliothek, um ihre Hausaufgaben zu erledigen.
„Ja, du bist wirklich gut. Zumindest sagt das deine Prüfungsurkunde“, erklärte Elly und wedelte mit dem Pergament vor Neolyts Nase herum.
Diese schnappte es ihr aus den Fingern und betrachtete konzentriert die geschwungenen Buchstaben. Noch immer bereitete ihr das Lesen Schwierigkeiten, vor allem bei Handschriften, doch von Woche zu Woche ging es besser.
„Hab ich dir nicht erst letzte Woche gesagt, dass du nicht ständig an meinen Schreibtisch gehen sollst?“, fragte sie Elly.
„Ja, aber du sagtest, dein Ergebnis wäre in Ordnung, da wollte ich wissen, wie gut es wirklich war“, verteidigte die sich und grinste zwinkernd.
„Aber die Sterblichkeitsrate der Krieger ist um vierzig Prozent höher als die der Heiler. Das bedeutet, dass jeder neunzehnte Krieger eines unnatürlichen Todes stirbt“, gab Elnar zu bedenken
„Ach komm schon, Elnar“, widersprach ihm Yewan. „Die Statistiken sind immer noch vom Simeb-Krieg beeinflusst. Und es ist wirklich kein Wunder, schließlich kämpfen Heiler nicht.“ Die letzten Worte sprach er mit deutlicher Herablassung aus.
„Sie kämpfen oft gegen gefährlichere Gegner als die Krieger“, konterte Elnar. Für ihn war klar, er würde das Profil Heilung wählen, alles andere kam nicht in Frage.
„Ja, Schnupfen und Magenverstimmung“, spottete Yewan. Neolyt hatte das Gefühl, dass die beiden nicht besonders gut miteinander klarkamen. Sie war sich dabei jedoch nicht sicher, Menschen waren so viel undurchschaubarer als Wölfe.
„Oder auch Cholera und Schnepfenpest“, entgegnete Elnar todernst.
Bei dem letzten Wort prustete Elly laut los. „Schnepfenpest?“
„Ganz richtig, das ist eine tödliche Krankheit, die durch Schnepfen übertragen wird und nur äußerst schwer heilbar ist.“
„Was sind Schnepfen?“, fragte Neolyt dazwischen.
Es war Yewan, der ihr antwortete: „Die gehören zur Familie der Gnomenfeen, fiese kleine Viecher.“
Sie hatten mittlerweile die Bibliothek erreicht und warteten am Eingang auf Deas, der gerade aus einem der Gänge kam, um sie ins Besucherbuch einzutragen.
„Na ja, solange du nicht zu den Räten gehst, hast du meine volle Unterstützung“, erklärte Yewan und lachte.
„Was du nur ständig gegen Ratssprecher hast“, bemerkte Neolyt verwirrt. „Sie haben dir doch gar nichts getan.“
„Nein, aber du wirst es spätestens dann verstehen, wenn in Geschichte der Aufstand der Piliar behandelt wird. Solche Ignoranz muss man erst einmal zustande bringen.“ Er schüttelte den Kopf.
Die Ratssprecher mussten damals etwas falsch gemacht haben, soviel verstand Neolyt, doch trotz Elnars ständigen Belehrungen gab es Fremdwörter, die sie nach wie vor nicht kannte. „Was bedeutet Ignoranz?“, fragte sie darum.
„So viel wie etwas nicht beachten“, erklärte Yewan und schlenderte, nachdem Deas sie eingetragen hatte, weiter bis zu seiner Stammecke, die inzwischen auch oft von Elnar, Neolyt und Elly in Beschlag genommen wurde.






