- -
- 100%
- +
Neolyt betrachtete versonnen einen singenden Kerzenhalter, während sie zwei kleine Lichtkugeln schweben ließ. Es fiel ihr inzwischen nicht mehr schwer, mit Magie etwas zu bewirken, weswegen Deor sie oft den Nachmittag über Übungen erledigen ließ, die er erst am nächsten Morgen kontrollierte. Er hatte Yewan beauftragt, sie dabei zu beaufsichtigen.
Mit einem Plopp verschwanden die Lichter und Neolyt sah auf ihren Zettel. Nur noch zwei Aufgaben, dann hatte sie ihre Freizeit. Nachdem sie einige Sekunden lang Yewans Feder fixiert hatte, nahm diese mit einem Puff und einer gewaltigen Rauchwolke die giftgrüne Färbung an, die Neolyt vorschwebte.
„Ohne Ton und Rauch ist es richtig. Und nimm ’ne andere Farbe.“ Yewan zuckte kurz mit der Feder, die wieder braun wurde.
Der Kerzenhalter trällerte noch immer vor sich hin, als Neolyt schließlich laut- und rauchlos die Feder blau färbte.
„Hübsch.“ Er musterte sie amüsiert. „Vielleicht lass ich das so.“ Er zwinkerte ihr zu.
Seufzend legte Elly ihre eigene Feder weg und schraubte das Tintenfass zu.
„Ich muss jetzt los, viel Spaß noch“, erklärte sie nach einem kurzen Blick auf das Gerät an ihrem Arm, dessen Name Neolyt ständig vergaß. Die anderen nickten ihr zu und vertieften sich wieder in ihre Aufgaben.
„Was heißt das hier?“, fragte Neolyt schließlich und streckte Elnar den Zettel hin.
„Da steht, du sollst …“ Er hielt inne und sah sie bedeutungsvoll an, doch sie verstand nicht.
„Was?“, hakte sie darum nach.
Bevor Elnar weitere Andeutungen machen konnte, hatte Yewan sich herübergebeugt und ihm den Zettel aus der Hand gerissen.
„Was heißt das, du sollst wieder üben, Magie zu spüren?“
Einen Moment lang sagte niemand etwas. Nur der Kerzenhalter schmetterte eine dramatisch laute Arie.
„Ich glaube, wir können es ihm sagen“, meinte Neolyt schließlich zu Elnar.
„Aber Deor hat ausdrücklich befohlen, dass das unter uns bleibt.“
„Worüber redet ihr?“, rief Yewan, bevor Neolyt etwas erwidern konnte.
„Ich kann spüren, wo Magie ist“, erklärte Neolyt. „Weil ich Mensch und Wolf bin und es etwas mit … Gähnen zu tun hat“, schloss sie unsicher.
„Mit deinen Genen“, berichtigte Elnar sie. „Die besondere Verteilung an Wolfs- und Menschengenen hat einen Stoff hervorgebracht, der auf Magie reagiert.“
„Und deswegen kannst du Magie spüren?“
„Noch nicht so richtig“, gestand sie, doch Yewan hatte wohl gar nicht zugehört.
„Das ist ja total irre! Und uns wird immer beigebracht, es wäre unmöglich, Magie irgendwie wahrzunehmen.“
„Hey!“, unterbrach Elnar ihn. „Halb so laut wäre auch ausreichend. Wir sind nicht schwerhörig und das muss auch nicht gleich jeder wissen. Besser gesagt, darf das absolut niemand wissen. Am besten erzählst du es auch nicht Deor. Er wird uns guillotinieren, wenn er erfährt, dass du es von uns weißt.“
„Keine Sorge, ich werde schweigen wie ein Grab“, versicherte Yewan, stand auf und versetzte dem Kerzenhalter einen Klaps, woraufhin dieser verstummte.
Gabe oder Fluch.
Wolf und Mensch
Schon zwei Wochen später bestätigten sich Neolyts Zweifel an Yewans Beteuerung, das Geheimnis für sich zu behalten. In einer Pause zwischen zwei Schwertkampfstunden betrat Deor die Halle und eilte auf sie zu.
„Ravela, Deor“, sprach sie die traditionelle Begrüßung der Reiter und stellte die Wasserflasche beiseite. Sie hatte sich trotz Elnars Bitten für die Kämpferausbildung entschieden und auch er hatte eingesehen, dass dies ihrer Natur und ihrem Talent entspräche, was sie nicht ganz verstanden hatte, aber sie war froh gewesen, dass er ihr nicht böse war. Denn inzwischen wurden ihr ihre Freunde unter den Menschen, Elly, Yewan, Elnar und auch Deor, tatsächlich wichtig. Mit anderen redete sie hingegen nach wie vor ungern. Womöglich war es freundlich gemeint, wenn Deas sie gelegentlich ansprach, doch sie fühlte sich stets in die Ecke gedrängt, bedroht.
Sofort erkannte sie, dass Deor nicht gut gelaunt war.
„Ravela, Neolyt“, antwortete er ihr und fuhr ohne Umschweife fort: „Was um alles in der Welt hat euch dazu getrieben, es Yewan zu verraten? Du kennst ihn doch! Du weißt, dass er gern die Ernsthaftigkeit einiger Tatsachen ignoriert.“
„Aber er wird es niemandem verraten“, sagte sie, obwohl sie sich da inzwischen nicht mehr sicher war.
Deors Antwort überraschte sie. „Ja, jetzt wird er kein Wort mehr darüber verlieren. Ich möchte nur, dass auch du und Elnar niemandem mehr davon erzählt.“
Unter seinem eindringlichen Blick kam sie sich noch kleiner vor. Und wieder in die Enge gedrängt. Beinahe automatisch ging sie zum Angriff über.
„Ich würde wirklich gerne wissen, was es mit diesem sechsten Sinn auf sich hat, dass er so geheim bleiben muss!“, brauste sie auf.
Kurz erschrocken, zuckte Deor zurück, dann sah er sie besorgt an. „Du fühlst dich noch immer von Menschen bedroht.“ Es war keine Frage und einen Moment lang schämte Neolyt sich dafür.
„Ich bin ein Wolf und der Mensch war mein ganzes Leben lang ein Feind.“ Ihre Verteidigung fiel nicht annähernd so selbstsicher aus, wie sie gehofft hatte.
„Vergiss nicht, dass du selbst auch ein Mensch bist“, erinnerte Deor sie und wandte sich zum Gehen.
Neolyt blieb allein zurück und betrachtete unsicher und sorgenvoll ihre menschlichen Hände.
Natürlich hatte Deor längst bemerkte, dass Neolyt etwas beschäftigte. Oft hatte sie während der Übungen die Konzentration verloren und zerstreut gewirkt, zweimal sogar hatte sie vergessen, einen Aufsatz für die Zauberwesen- und Pflanzenkunde zu schreiben. Doch immer, wenn er sie gefragt hatte, ob etwas nicht stimme, hatte sie geschwiegen und den Kopf geschüttelt.
Etwa drei Wochen später hatten die Schüler Ausgangstag. Natürlich war ihnen eingeschärft worden, auf keinen Fall Magie anzuwenden, doch da die Zeit kaum reichte, in das nächste Dorf zu gelangen, und die meisten Schüler daher im Wald blieben, hielt sich ohnehin niemand daran.
Gelangweilt schlenderte Yewan unter den kahlen Baumkronen dahin. Er hätte bleiben und seinen Streich weiterplanen sollen, anstatt sich hier draußen in der klirrenden Kälte den Hintern abzufrieren. Nicht mehr lange, dann würde es schneien. Trotzdem tat ihm ein bisschen ungefiltert frische Luft sicherlich gut. Noch maximal eine Stunde, dann würde er sich auf den Rückweg machen. Einer Eingebung folgend schlug er die Richtung zum See ein. Er mochte den Platz, es war ruhig und weit und man hatte endlich seinen Frieden. So gern er sich auch unter das Volk mischte und dort seine Späße trieb, manchmal brauchte er Zeit für sich. Als er zwischen den Bäumen hervor auf den Kiesstrand trat, sah er einen Wolf am Ufer stehen. Es dauerte einen Moment, bis ihm klar wurde, wer das war.
„Neolyt?“, fragte er leise und machte einen Schritt auf sie zu. Die Steine knirschten unglaublich laut unter seinen Füßen und das Geräusch hallte über den See.
Erschrocken fuhr Neolyt herum und nahm wieder ihre menschliche Gestalt an. Es war das erste Mal, dass Yewan sah, wie sie sich verwandelte, und er war schwer beeindruckt, wie schnell und scheinbar mühelos ihr das gelang.
Ein paar Schritte vor ihr blieb er stehen. Erst jetzt fiel ihm auf, dass sie offenbar geweint hatte, glitzernde Tränenspuren zogen sich über ihre Wangen. Ihr war wohl sein Blick aufgefallen, denn sie drehte sich kurz weg und wischte sich mit dem Ärmel übers Gesicht.
„Alles in Ordnung?“, fragte er und machte einen weiteren unsicheren Schritt auf sie zu.
Neolyt sah ihn an und wandte sich dann ab. Langsam schüttelte sie den Kopf.
„Was … ist denn los?“, fragte er weiter und kam sich dabei schrecklich unbeholfen vor.
Sie antwortete ihm nicht, sondern schaute auf den See hinaus. Er schimmerte silbern im Spiegelbild des wolkenverhangenen Himmels.
„Es regnet gleich“, flüsterte sie schließlich mit brüchiger Stimme.
„Neolyt, du solltest deine Sorgen nicht mit dir allein herumtragen. Das wird dich kaputt machen. Wenn du sie mir nicht erzählen willst, dann vielleicht Elly oder Deor.“
„Ich hab keine Sorgen“, fauchte sie und sah ihn wieder an.
„Deor hat erzählt, dass du oft die Konzentration verlierst und Hausaufgaben vergisst. Das passt nicht zu dir. Irgendwas stimmt nicht.“ Er sah sie eindringlich an und erkannte die plötzliche Angst in ihren Augen.
„Ich weiß nicht, wer ich bin!“, schrie sie ihn an und Tränen rollten ihr über die Wangen, während es mit einem Mal anfing, wie aus Kübeln zu regnen. Mit einer raschen Handbewegung errichtete Yewan einen Schild um sie, doch sie waren bereits bis auf die Haut durchweicht. Neolyt hielt die Arme krampfhaft vor dem Bauch verschränkt und blickte auf einen Punkt knapp über seiner linken Schulter.
„Was meinst du damit?“, fragte er vorsichtig.
„Ich bin Wolf und Mensch! Aber der Mensch ist der Feind des Wolfes! Wie kann ich zwei Gegensätze zugleich sein?“
Unbeholfen trat er noch einen Schritt näher.
„Das musst du nicht. Nicht alle Menschen sind gleich. Du bist ein guter Mensch und du bist mehr als nur eine Freundin der Wölfe. Lass dir von niemandem einreden, dich für eine deiner Seiten entscheiden zu müssen, sei einfach du selbst.“
Sie sah ihn schmerzhaft entgeistert an und im nächsten Moment umarmte sie ihn schluchzend. Unsicher legte er die Arme um sie und klopfte ihr vorsichtig auf den Rücken. Er hatte das Gefühl, etwas Starkes und doch sehr Zerbrechliches zu halten.
„Danke“, sagte sie schließlich und zog geräuschvoll die Nase hoch. Der Regen prasselte auf den Schild und den See, das Geräusch hatte etwas Beruhigendes. „Woher willst du wissen, dass ich ein guter Mensch bin? Ich weiß es selbst nicht einmal. Ich bin doch so selten Mensch.“
„Im Aussehen vielleicht, aber im Wesen bist du immer beides zugleich.“
„Kann man das mit Magie herausfinden?“
„Ich glaube schon, aber ich würde es mir nie erlauben, die Gedanken von jemandem zu lesen, der mir das nicht gestattet hat.“
„Und woher weißt du das dann?“, fragte sie drängender.
„Ich weiß es nicht“, gab er zu. „Aber wie sollte es anders sein? Du hast erzählt, du hättest deinen Bruder gerettet, obwohl es gegen die Gesetze des Rudels war. Und das ist etwas Gutes.“
„Ja“, sagte sie nur. Dann fuhr ein Lächeln über ihr Gesicht. „Danke.“
„Keine Ursache“, erklärte er und grinste.
„Was bist du für ein Mensch?“, fragte Neolyt.
„Das werde ich dir sicher nicht so leicht verraten“, antwortete er lachend.
„Aber du weißt, wer ich bin“, widersprach sie und zog die Stirn kraus.
„Das habe ich aber auch selbst herausgefunden“, meinte er, immer noch amüsiert grinsend.
„Aber ich kann das nicht! Ich habe vorher kaum Menschen getroffen und ich weiß nicht, wie man in euren, ich meine, in unseren Gesichtern lesen kann.“
„Das lernst du schon“, versicherte er ihr. „Lass uns ein Stück gehen, da hinten bei der Weide kann man sich gut hinsetzen.“
„In Ordnung.“ Sie sah ihn unsicher an. „Darf ich ein Wolf sein?“
„Du kannst deine Wolfsgestalt annehmen, wann immer du willst.“
Sie nickte dankbar, dann floss ihre menschliche Gestalt zurück in die einer Wölfin. Lächelnd sah Yewan ihr nach, wie sie aus dem Schild hinaus in den Regen lief und über die nassen Steine sprang. Etwas in ihm regte sich, wenn er sie so sah. Aber wusste nicht genau, was.
Sie braucht ihn, doch darf ihn nicht brauchen.
Sternbilder
Zwei Tage später betrat Neolyt nach einem ausgiebigen Frühstück den Unterrichtsraum, in dem Deor bereits wartete. Ein Blick auf den Sonnenmesser an der Wand verriet ihr, dass sie tatsächlich etwas spät dran war.
„Ravela, Neolyt“, begrüßte Deor sie und sie erwiderte seinen Gruß. „Ich habe mir gedacht, dass wir heute mit der Geschichte der Reiter beginnen“, meinte er leichthin und hielt dann inne, als würde er auf eine Reaktion ihrerseits warten.
„Gut“, erwiderte sie daher.
„Dann hat dir Yewan noch nichts darüber erzählt?“
„Nein. Sollte er denn?“
„Auf keinen Fall. Er ist etwas … voreingenommen, was das betrifft“, erklärte Deor vorsichtig.
Neolyt setzte sich auf die Bank und Deor nahm seine gewohnte Position vor der Tafel ein. „Über den Ursprung der Einhorn- und Drachenreiter kursieren nur Legenden, aber eines ist gewiss: Es waren keine Menschen, die damals zu den Einhörnern kamen. In jeder bekannten Legende ist von mächtigen, bereits der Magie begabten Wesen die Rede, die zwar menschenähnliche Gestalt hatten, unsereinem jedoch ansonsten weit voraus waren. Man kann nicht genau sagen, wann der Orden der Einhornreiter gegründet wurde, da es zwischendurch einige Zeitverschiebungen gegeben hat.“
„Was ist eine Zeitverschiebung?“, fragte Neolyt und blickte von den Notizen auf.
„Das hängt mit Dimensionssprüngen zusammen“, erklärte Deor, was Neolyt nur noch mehr verwirrte. „Es bedeutet, dass die Einhornreiter damals mit den Einhörnern in eine andere Welt gereist sind, aber dazu kommen wir später noch.“
Neolyt verstand den Zweck hinter dem Geschichtsunterricht partout nicht. Warum sollte man etwas lernen, was schon längst vergangen war? Das hatte doch keinen Sinn. Man konnte es nicht ändern und es war nicht einmal sicher, ob es überhaupt stimmte.
„Dafür kann man etwas für heute aus der Vergangenheit lernen“, erklärte ihr Elly einige Wochen später, als sich Neolyt darüber in ihrem Zimmer ausließ.
„Ach ja? Und wie soll das gehen? Das wird doch so nie wieder passieren“, meinte Neolyt spöttisch.
„Man kann aus den Fehlern anderer lernen. Wenn zum Beispiel jemand in der Vergangenheit einen Krieg verloren hat, lässt sich im Nachhinein meist genau sagen, warum. Das kann man sich zunutze machen und das nächste Mal den Fehler nicht wiederholen.“
„Warum sollte man Krieg führen?“, fragte Neolyt verblüfft.
„Menschen haben die blöde Angewohnheit, ständig nach Macht, Geld und Besitz zu streben. Wer ihnen dabei im Weg steht, wird beseitigt“, erklärte Elly und seufzte. „Aber du hast recht, es ist sinnlos.“
Neolyt runzelte die Stirn. Das war noch so eine Sache, wegen der sie am liebsten Wolf geblieben wäre. Aber Yewan lag natürlich richtig, wenn er sagte, dass sie selbst bestimmen konnte, wie und wer sie war. Sie würde nicht einfach so Krieg führen.
Erst einige Wochen später durften die Unterklässler wieder aus dem „Bau“, wie die unterirdische Schule allgemein genannt wurde, hinaus. Drinnen war die Temperatur nach wie vor angenehm warm, doch draußen war es inzwischen kalt genug geworden, dass eine ansehnliche Schneedecke auf den Bäumen und Lichtungen lag. Dieser Ausflug wurde daher deutlich amüsanter als der letzte. Yewan und seine Freunde zettelten eine Schneeballschlacht an und an magischen Tricks wurde dabei nicht gespart. Neolyt tollte in Wolfsgestalt durch das kühle Weiß, wich einem Schneeball aus und erwiderte den Wurf mit einer Lawine aus den Zweigen einer Tanne über Yewans Kopf. Nach ihrer Rückkehr waren alle klitschnass, hatten hochrote Köpfe und grinsten übers ganze Gesicht. Nur Neolyt hatte sich den Schnee aus dem Fell geschüttelt und sah amüsiert lächelnd dabei zu, wie Yewan, Elly und Elnar sich aus ihren nassen Jacken schälten.
„Treffen wir uns nachher in der Bibliothek?“, fragte Yewan schließlich. „Ich hab noch eine Menge zu erledigen und ich glaube, du sitzt auch gerade über den Magieschemen, oder?“, fügte er an Neolyt gewandt hinzu.
„Die hatte ich schon. Wir haben jetzt mit den Momen-Faltern angefangen. Dauert das wirklich bis zum Ende des Jahres?“
„Oh ja, wenn du Glück hast und schnell lernst. Das ist ein riesiges Stoffgebiet, weil auch die ganz kleinen Feen und so mit reingehören.“
„Was für ein Magieschema haben die eigentlich?“
„Geman“, erwiderte er. „Bis gleich!“
Die anderen bogen in den Gang zu den Schülerzimmern ein, während Neolyt den Weg zur Bibliothek nahm. Schon seit Langem war sie nicht mehr allein durch die Gänge gegangen. Sie fühlte sich beobachtet und unsicher. Einzelne Schülergruppen liefen an ihr vorüber und hin und wieder auch Erwachsene. Sie hielt sich lieber dicht an den Wänden, um nicht allzu sehr im Weg zu stehen, zumal sie deutlich kleiner war als die anderen und befürchtete, einfach niedergetrampelt zu werden. Einmal hatte sie bei der Jagd auf eine Hirschherde mit ansehen müssen, wie Karr unter die Hufe der panischen Tiere geraten und einfach untergegangen war. Das würde sie niemals vergessen, weil Karr zeitweilig ihr Lehrer gewesen war und sie und ihre Freundin Manae die Einzeljagd gelehrt hatte.
So in Gedanken versunken merkte sie erst spät, dass jemand ihren Namen rief.
„Neolyt!“ Valria eilte auf sie zu. „Schön, dass ich dich auch einmal sehe. Von Deor und Wadne habe ich schon so viel über dich gehört“, meinte sie und lächelte. „Nur Gutes, natürlich. Du scheinst schnell zu lernen.“
„Ich habe ja auch in den Ferien Unterricht“, erklärte Neolyt, der das Lob unangenehm war.
„Hättest du kurz Zeit? Ich würde mich gern etwas mit dir unterhalten.“
„Ja, aber ich muss bald in die Bibliothek, Elly, Yewan und Elnar warten dort.“
„Es dauert nicht lange, keine Sorge.“
Neolyt folgte ihr in ein kleines, leerstehendes Klassenzimmer. Für einen Moment herrschte Stille.
„Deor hat mir von deiner besonderen Gabe erzählt“, begann Valria schließlich. „Ist es wahr? Kannst du Magie spüren?“
Neolyt fühlte sich unter dem neugierig drängenden Blick unwohl, doch für einen Moment unterdrückte sie ihre wölfische Natur, die ihr mit allen Sinnen den Gegenangriff befahl.
„Elnar und Deor sagen das“, entgegnete sie ruhig. „Manchmal fühle ich etwas, aber selten stark.“
„Aber du bist dir sicher, dass es Magie ist, die du spürst. Nicht etwas anderes?“
„Ja, ich erkenne, dass es Magie ist.“
„Gut, gut.“ Valria fuhr sich mit erleichtertem Gesichtsausdruck durchs Haar. „Wenn du wüsstest, was für einen Stein uns vom Herzen fällt“, murmelte sie.
„Wem?“, hakte Neolyt nach.
Etwas an Valrias Lächeln wirkte unecht. „Der kleinen Gruppe von Magieforschern, der ich angehöre“, erklärte sie eine Spur zu hastig, aber das fiel Neolyt nicht auf. „Wir hatten so etwas in einer Berechnung festgestellt und dachten schon, wir müssten alles hinterfragen, was wir bis dato herausgefunden hatten. Aber das langweilt dich sicher nur.“
„Warum darf ich es niemandem erzählen?“, fragte Neolyt. Deor hatte es ihr noch immer nicht verraten wollen.
„Es gibt Leute, die dich deswegen töten würden“, erklärte Valria unverblümt.
Neolyt zuckte erschrocken zurück und ein Knoten der Angst schnürte sich in ihrer Brust. „Töten?“
„Ja. Du brauchst dir keine Sorgen zu machen. Behalt es für dich, dann kann dir nichts passieren.“ Valria lächelte ihr aufmunternd zu.
Am nächsten Morgen war Neolyts Angst so groß geworden, dass sie nicht mehr an sich halten konnte, als sie zu Deor ins Klassenzimmer trat.
„Valria hat mir erzählt, warum niemand wissen darf, dass ich Magie spüre“, platzte sie heraus und Deor ließ vor Schreck ein Tintenfass fallen, das laut splitternd auf dem Boden zersprang und seinen Inhalt überall hin verspritzte.
„Was hat sie dir erzählt?“, fragte er ungläubig.
„Sie würden mich töten, wenn sie es erführen. Irgendwelche Leute“, stieß Neolyt hervor und kämpfte mit den Tränen.
„Oh, Neolyt, es tut mir leid“, sagte er und nahm sie in den Arm. „Ich wollte es dir nicht erzählen. Ich dachte, es wäre zu viel für dich.“
„Aber es ist die Wahrheit? Ich – ich habe solche Angst!“
„Das brauchst du nicht, Neolyt. Wenn du es niemandem erzählst und in unserer Nähe bleibst, kann dir nichts passieren. Wir passen auf dich auf, keine Sorge.“
„Deswegen sollte ich in den Ferien nicht zum Rudel, oder? Aber meine Familie kann doch genauso auf mich aufpassen.“
„Nun, diese Menschen sind der Magie fähig, Neolyt. Du würdest das Rudel in Gefahr bringen, indem du dort hinreist.“
„Nein! Dann will ich dort nicht hin. Ich bleibe hier, ihnen darf nichts passieren.“ Neolyt schluchzte laut.
„Beruhige dich. Die Leute wissen nicht, was du kannst. Sie kennen dich nicht und sie wissen nicht, wo du bist. Du musst wirklich keine Angst haben, nur vorsichtig solltest du in Zukunft sein.“
„Das werde ich bestimmt“, versprach sie.
„Gut. Wollen wir dann mit dem Unterricht anfangen?“, fragte Deor.
Neolyt nickte und wischte sich energisch die Tränen aus den Augen.
Mit einer einzigen Handbewegung reparierte Deor das Tintenfass und ließ die Tinte zurückfließen.
Mit der Zeit verblasste die Bedrohung durch die unbekannten Mörder mehr und mehr. Nur wenn sie schlafen ging, kamen in Neolyt manchmal die Ängste zurück, doch auch dies wurde immer seltener.
Inzwischen hatte sie sich damit abgefunden, an den Wochenenden nicht zu ihrer Familie fahren zu können, und stattdessen genoss sie den zusätzlichen Unterricht. Sie liebte die Magie und jedes neue Wissen war ihr willkommen. Selbst Geschichte ließ sie über sich ergehen und versuchte, wie Elly es ihr geraten hatte, die Kreisläufe zu erkennen, was ihr allerdings kaum gelang.
Einige Wochen später kam Yewan mit breitem Grinsen auf sie zugelaufen.
„Hey, Neolyt. Ich habe im Unterricht gerade mit Astronomie angefangen und Deor meinte, solange wir einen so klaren Sternenhimmel hätten, sollten wir das ausnutzen. Deshalb gehen wir heute Abend an den Spiegelsee und schauen uns die Sternbilder an. Er sagte, heute könne ich vielleicht endlich einen Sternenstein herstellen.“
„Das freut mich für dich“, antwortete Neolyt, die nicht verstand, warum er ihr das erzählte.
„Stimmt, das Beste hatte ich vergessen: Du darfst mitkommen.“ Er sah sie erwartungsvoll an.
„Wenn es so gut ist, wie du es erzählst, kann’s wohl nicht schaden“, meinte sie. Es würde schön sein, einmal wieder an die frische Luft zu kommen, den letzten Ausgang hatte sie verpasst, weil Deor ihr Unmengen an Hausaufgaben aufgegeben hatte. Sie vermutete, dass das Absicht gewesen war, um sie nicht in Gefahr zu bringen.
Am Abend trafen sie sich vor dem Eingangsraum der Lehrer.
„Hätte ich auch so etwas mitnehmen sollen?“, fragte Neolyt mit einem Blick auf die schwarzen Rucksäcke, die Deor und Yewan trugen.
„Nein, das ist Unterrichtsmaterial. Du bist nur als Zuschauerin dabei“, erklärte Yewan.
Über ihre normalen Kleider zogen sie dunkle Jacken und Hosen, die zwar dünn waren, aber dennoch wärmten. Danach gingen sie einen langen, niedrigen Gang entlang, der zu einem der Holzkästen führte, der sie an die Oberfläche transportieren würde. Unruhig trommelte Neolyt mit den Fingern auf den Griff im Innern des Kastens. Ihr war nicht wohl bei dem Gedanken, nur von einer merkwürdigen Seilverknotung gehalten zu werden.
„Haben Wölfe eigentlich eigene Sternbilder?“, fragte Deor und brach damit die Stille.
„Ich weiß nicht“, antwortete Neolyt. „Wir haben Sternbindungen, aber das ist wahrscheinlich das Gleiche.“
„Und was für Bilder sind das?“
„Viele Tiere und Bäume. Und ein paar Menschen, die wegen besonderer Taten in die Heldenwälder gekommen sind“, erklärte sie.
„Dann habt ihr also auch eine eigene Religion?“ Deor wirkte erstaunt.
„Was ist eine Rehlegion?“
„Eine Religion ist sozusagen das, woran man glaubt, was nach dem Tod geschieht, und wer das leitet, was wir tun“, versuchte Deor etwas umständlich, sich in Worte zu fassen.
„Ach so. Na ja, einige glauben daran, aber eigentlich ist es uns egal, solange wir überleben.“
„Und was ist mit den Sternbildern?“
„Es sind Geschichten. Ich weiß nicht, ob sie stimmen.“
Sie waren oben angekommen und Deor öffnete die knarzende Schiebetür. Draußen war es noch kühl, doch Schnee lag nicht mehr. Durch die kahlen, von der Nacht geschwärzten Äste der Bäume funkelten vereinzelt Sterne. Neolyt konnte sehen, dass sich Deor und Yewan durchaus Mühe gaben, sich leise zu bewegen, um die stille Schönheit der Nacht nicht zu stören. Doch umsonst, selbst eine taube Maus hätte sie gehört.
Scheinbar endlos schritten sie durch den tiefdunklen Wald, bis er sich schließlich lichtete und sie hinaus auf einen Kiesstrand traten. Der Anblick verschlug Neolyt den Atem. Ihre Mutter hatte sie noch nie mit aufs Sterneneis genommen, aber sie hatte Geschichten von den Hochjährigen gehört. Niemals jedoch hätte sie sich so etwas vorstellen können. Der Himmel war unglaublich klar, es schienen mehr Sterne als gewöhnlich und der ruhige, glatte See spiegelte sie zu Tausenden wider.






