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„Wow“, flüsterte Yewan, der wohl Ähnliches empfand wie sie.
„Beeindruckend, nicht wahr?“, meinte Deor. Auch er hatte die Stimme gesenkt. „Kommt, wir fahren auf den See hinaus.“
Am Ufer lag ein mittelgroßes Floß, wohin sie Deor mit knirschenden Schritten folgten. Das Geräusch hallte einsam durch die Nacht. Nachdem sie sich auf die dicht aneinander gebundenen Stämme gesetzt hatten, ließ Deor das Floß mit einer knappen Handbewegung anfahren. Neolyt betrachtete mit großen Augen die funkelnden Wellen, die ihr Gefährt mit der Fahrt in den See schlug. Das Wasser war tiefschwarz und wie mit weißblauen Funken besetzt. Der Himmel schien eine Erweiterung des Sees zu sein, als säßen sie in einer endlos weiten Kugel.
„Gut, wir sind da.“ Deor stoppte das Floß. „Nimm dir schon mal einen Stein“, sagte er zu Yewan, dann fügte er an Neolyt gewandt hinzu: „Ich möchte, dass du versuchst, Magie zu spüren.“
Sie nickte.
Während Yewan und Deor sich leise flüsternd auf den Zauber vorbereiteten, setzte Neolyt sich im Schneidersitz an die Kante des Floßes und entspannte sich, wie Deor es ihr in den letzten Stunden beigebracht hatte. Ihr Atem wurde langsamer, ihr Blick richtete sich in weite Ferne. Die plätschernden Wellen des Sees waren das einzige, was ihre Ohren wahrnahmen, und die einzelnen, klar leuchtenden Sterne verschwammen zu einem Meer aus weißblauem Licht.
Und mit einem Mal spürte sie alles. Es war so groß! Sie fühlte alle Fische und Lebewesen im See, ein ganzes Stück des Waldes, die Berge am anderen Ufer, jede Mücke in der Luft, sogar das Licht der Sterne fühlte sie auf sich gebündelt. Sie spürte alles. Nach Luft schnappend erwachte sie aus der Trance.
„Alles in Ordnung, Neolyt?“, fragte Yewan hinter ihr.
„Ja, alles klar“, erwiderte sie und fuhr sich mit zitternden Fingern über die Augen.
„Hast du etwas gespürt?“
„Ich habe alles gespürt.“
„Alles?“, fragte Deor und trat zu ihnen heran. „Wie meinst du das?“
„Bis über das Ufer hinaus alles, was lebt. Und auch Wasser, Steine und Licht.“
„Licht? Das ist großartig, Neolyt.“ Deor lächelte stolz. „Es gibt manchmal sehr magiegeladene Nächte in den Bergen“, erklärte er, „vor allem hier am See. Und wie es scheint, lässt sich dein sechster Sinn noch um einiges erweitern und ausbilden.“
„Kann ich das jetzt immer machen?“, fragte sie mit glücklich strahlenden Augen.
Doch Deor schüttelte bedauernd den Kopf. „Leider nicht. Aber wenn du den Sinn nur immer trainierst, wird er eines Tages genauso stark oder vielleicht sogar noch stärker sein als jetzt“, fügte er hinzu, als er ihre enttäuschte Miene sah.
„Keine Sorge, so ehrgeizig und schlau, wie du bist, wirst du in einem halben Jahr schon besser sein als jetzt“, sagte Yewan und sie musste lachen.
„So schnell wird es wohl nicht gehen, aber mach dir darüber jetzt keine Gedanken“, riet ihr Deor. „Genieß das Gefühl und behalte es im Gedächtnis.“
Etwas später stieß Yewan einen gedämpften Freudenschrei aus und kam breit grinsend zu Neolyt hinüber, die ihre Finger vom schwarzen Wasser umspielen ließ.
„Ich hab’s geschafft“, erklärte er und hielt ihr etwas hin.
Neolyt stand auf und betrachtete eingehend den Stein in seiner Handfläche. Er war tiefschwarz und schien mit vielen winzigen Sternen besetzt zu sein. „Du hast den Sternhimmel in den Stein gebannt“, flüsterte sie überrascht, als sie einige Sternbindungen erkannte.
„Du kannst ihn haben, wenn du willst.“ Er streckte ihr den Stein entgegen.
Neolyt nahm ihn in die Hand und musterte ihn abermals sehr genau. Dann zeigte sie auf eine Verbindung. „Das ist die weiße Wölfin Anuim, nach der meine Mutter benannt worden ist“, erklärte sie und fuhr eine Linie aus Sternen nach. Augenblicklich erklang eine Folge von Tönen, die klar und wunderschön über den See hallte.
„Interessant.“ Deor blickte sie überrascht an. „Eure Sternbindungen entsprechen den magischen Tonfolgen der Sterne. Damit hast du schon mal ein relativ großes Stoffgebiet übersprungen.“
„Aber ich muss die alle lernen?“, fragte Yewan und blickte Deor entgeistert an.
„Die magische Verbindung von Licht und Ton ist sehr wichtig“, erklärte dieser. „Du wirst wohl einige der Folgen lernen müssen. Aber keine Sorge, auch Neolyt wird lernen müssen, wie man mit einem Ton Licht entfacht.“
„Als ob’s das besser machen würde“, murrte Yewan und nahm sich einen nächsten Stein aus dem Rucksack.
Noch einige Stunden lang blieben sie auf dem See. Neolyt spielte Melodien auf dem Sternenstein und Yewan schuf noch drei weitere, bis Deor endlich zufrieden war und er sich von Neolyt ein paar Tonfolgen zeigen lassen sollte. Tatsächlich beherrschte er bereits vier davon, als sie wieder zum Ufer aufbrachen, auch wenn er meinte, sie am nächsten Tag sowieso wieder vergessen zu haben.
Bedauernd sah Neolyt auf den See zurück, als sie wieder in den Wald hineintraten. Das berauschende Gefühl der Weite war vergangen, doch die Nacht hatte noch immer dieselbe unvergleichliche Schönheit.
Erst auf dem Weg im Holzkasten unter die Erde überkam sie eine überwältigende Müdigkeit. Nachdem sie Yewan und Deor eine gute Nacht gewünscht hatte, schlurfte sie zu ihrem Zimmer und ließ sich nach einer kurzen Dusche ins Bett fallen. Wenn sie die Augen schloss, sah sie Sterne leuchten. Und mit einem Mal überkam sie eine schreckliche Sehnsucht nach ihrer Mutter, ihrem Bruder und ihrem Rudel und ihrem Wald. Wie lange würde sie wohl ohne sie aushalten müssen? Und wie sehr würde die Magie sie verändern? Bereits jetzt merkte sie, dass sie nicht mehr dieselbe war. Aber das gehörte zum Älterwerden dazu. Und die Magie war ein Teil ihrer selbst geworden, ein aufregender, machtvoller und wunderbarer Teil.
Sie drehte sich zur linken Seite und rollte sich zu einer Kugel zusammen. Dann schloss sie die Augen und verlor sich im Sternenhimmel.
Sterne sind die Brücken zwischen den Herzen.
Mondschatten
Neolyt atmete tief durch und entspannte sich. Alle Sinne waren geschärft. Nur der sechste muckte noch rum, weswegen sie ihn nicht beachtete. Auch so hörte sie durch ihr Wolfsgehör das Knistern des Flammenzaubers früh genug, um sich wegzuducken und die angreifende Kapsel kampfunfähig zu machen. Sofort folgte ein regelrechter Hagelsturm von Flüchen. Nachdem sie fünfzehn ausgeschaltete Kapseln gezählt hatte, machte sie sich auf einen Angriff des Schwertkämpfers gefasst. Es war ungewohnt, von einer Gefahr zu wissen, bevor man sie wahrnahm, und sie war immer noch unsicher, ob der Ablauf der Prüfung tatsächlich eingehalten wurde, doch im nächsten Moment erklang der Angriffsschrei eines Level-1-Kriegers hinter ihr. Kaum fünf Minuten später durchbohrte sie ihn mit dem Dolch und er verschwand, genauso wie die übrige Umgebung. Sie nahm die Projektionsbrille ab.
„Schön“, sagte Wadne nur und schrieb etwas auf ihren Notizblock.
„Nach so vielen Übungsstunden war das nicht anders zu erwarten“, entgegnete Deor lächelnd.
„Gut gemacht“, erklärte auch Yewan und klopfte ihr auf den Rücken. „Jetzt hast du’s erstmal hinter dich gebracht.“
„Nein“, widersprach Neolyt. „Morgen habe ich noch die Tierkunde-Prüfung, danach hab ich’s geschafft.“
Yewan nickte und wandte sich zum Gehen. Deor trat zu ihr heran.
„Hast du noch einmal darüber nachgedacht, was ich dir gestern angeboten hatte?“, fragte er.
„Ja“, erwiderte sie.
„Und?“, hakte er nach, als sie nichts erwiderte. Es war eine ihrer merkwürdigen Angewohnheiten, oft nur das zu antworten, wonach gefragt worden war und angedeutete Fragen zu ignorieren.
„Ich dachte, weil ich sowieso nicht zum Rudel darf, ist es wahrscheinlich gut, wenn ich mit der Ausbildung weitermache.“
„Du bekommst natürlich die Wochenenden frei und ich muss auch für eine Woche nach Yalyris. Dich können dann Wadne oder Valria unterrichten. Aber wenn du möchtest, gebe ich dir die Woche frei.“
„Schon in Ordnung.“ Neolyt hatte keine große Lust, eine ganze Woche tatenlos herumzusitzen, denn Elly und Yewan würden mit den älteren Kämpfern ans Meer fahren und Elnar seine Familie besuchen.
Auf dem Weg zum Speisesaal holte sie Yewan ein.
„Wie war deine Geschichtsprüfung?“, fragte sie ihn.
Er lachte laut auf. „Es lief sogar ganz gut“, gestand er dann. „Aber das heißt ja nichts.“
„Dafür, dass du vorher herumgezetert hast wie eine zänkische Elster, bist du jetzt ziemlich gut gelaunt.“
„Natürlich. Nur noch zwei Prüfungen, dann ist das Jahr geschafft und ich hab Ferien.“ Er grinste.
„Stimmt. Und es ist so unfair, dass ich nicht zum Rudel darf“, erklärte sie, obwohl sie den Grund ganz genau kannte. Deor hatte ihr allerdings geraten, sich trotzdem zu beschweren, damit es niemandem auffiel.
„Vielleicht möchte Deor deine Ausbildung so schnell wie möglich voranbringen“, mutmaßte Yewan und zuckte mit den Schultern. „Du hättest das Angebot nicht annehmen müssen.“
„Aber dann hätte ich nur Langeweile gehabt. Da hab ich doch lieber etwas zu tun.“
„Du hättest fragen können, ob du mit ans Meer darfst. Wadne hätte sicher ein gutes Wort für dich eingelegt.“
Sie reihten sich in die lange Schlange an der Essensausgabe ein.
„Deor hätte mir das nie erlaubt“, entgegnete Neolyt. „Weil er mich wirklich schnell ausbilden will, lässt er mir kaum Freizeit“, fügte sie rasch hinzu, um eine einleuchtende Erklärung bemüht, weil Yewan sie überrascht ansah.
„Das war nur eine Mutmaßung“, winkte er ab und fügte naserümpfend hinzu: „Fischsuppe zum Abendbrot. Und ich dachte gerade, der Tag wäre doch ganz gut.“
„Wie sagt Elnar doch immer: ‚Man soll den Tag nicht vor dem Abendbrot loben’ oder so.“ Neolyt grinste und setzte sich neben Elly auf die Bank.
„Es heißt: ‚Man soll den Tag nicht vor dem Abend loben’“, berichtigte Elnar sie, während Yewan zu seiner Linken Platz nahm.
„Ist schon gut.“ Neolyt verdrehte genervt die Augen. Elnar hatte auf seinen Sprachunterricht bestanden, was ihrem Ausdruck wahrscheinlich guttat, aber ganz sicher nicht ihren Nerven.
„Wie viele Prüfungen habt ihr noch?“, wechselte Elly das Thema.
„Zwei“, meinte Yewan.
„Tierkunde“, erklärte Neolyt und Elnar sagte, er wäre bereits fertig und würde übermorgen zu seiner Familie aufbrechen.
„Ich muss noch Pflanzenkunde und Beschwörung schreiben und Kampfkünste I hinter mich bringen.“
„Du kämpfst doch gut. Das wird sicher kein Problem“, meinte Yewan leichthin und tunkte das Brot in die Suppe.
„Du hast noch nie gesehen, wie ich waffenlos kämpfe. Das ist eine Katastrophe! Sobald ich die Prüfung hinter mir hab, werde ich es abwählen.“
„Stimmt, ich muss mich noch entscheiden, was ich vertieft fortführe.“
„Du wählst nichts ab?“, fragte Elly ihn überrascht.
„Nein, ich bin in den theoretischen Fächern ein Stück voraus, weil ich so früh angefangen habe. Deswegen hab ich Zeit für die Schwerpunkttrainings.“ Dabei wurde kein Kampfstil vernachlässigt, was ihn später in Xialenóll dazu befähigen würde, ohne Zusatzprüfung die Offiziersausbildung zu beginnen.
Elly schnitt eine neidische Grimasse. „Ich wünschte, ich wäre dafür gut genug.“
„Mach dir nichts draus. Dafür bist du in Geschichte viel besser als er“, tröstete Neolyt ihre Freundin.
„Als ob das etwas wäre, worauf man stolz sein müsste.“ Yewan schnaubte spöttisch.
„Nur weil du etwas nicht kannst, heißt es noch lange nicht, dass es automatisch schlecht oder unnütz ist“, warf Elnar ein.
Nach dem Abendbrot zogen sie sich auf ihre jeweiligen Zimmer zurück. Doch an Schlafen dachte keiner der vier, nicht einmal Elnar. Er sah sich seine Notizen über Heilkräuter an und verbesserte die Zeichnungen. Neolyt übte das Skizzieren der Momenfalter-Skelette und die drei verschiedenen Magieschemen mit den zugehörigen Untergruppen der Momenfalter. Yewan fertigte eine Karikatur Gemals Agensteins an, eines der führenden Hochräte, und lernte nebenbei die magischen Tonfolgen und die Ton-Licht-Tabelle, wobei sein Licht sich abwechselnd dämpfte und erhellte. Elly büffelte Heil- und Giftpflanzen, nachdem sie Septogrammzeichnungen geübt hatte.
Tatsächlich war die Tierkunde-Prüfung für Neolyt am nächsten Tag die schwierigste ihrer bisherigen Prüfungen. Doch obwohl sie für das Magieschema der Glühwichtel länger gebraucht hatte als erwartet, hatte sie am Ende der Prüfung ein relativ gutes Gefühl. Was ihr an diesem Unterrichtsfach nicht gefiel, war, dass von den Zauberwesen immer wieder von niederen Geschöpfen gesprochen wurde. Zum Beispiel wurde bei den Glühwichteln nichts von ihrer Persönlichkeit geschildert. Sie erschienen im Unterricht wie dumme Wesen, die jeden Befehl befolgten, den man ihnen gab.
„Und? Wie war Tierkunde?“, fragte Elnar, der als einziger ihrer Freunde im Aufenthaltsraum saß, als sie hereinkam.
„Wo sind die anderen?“, fragte sie zurück.
„Es ist äußerst unhöflich, auf eine Frage mit einer Gegenfrage zu antworten oder diese schlichtweg zu ignorieren“, merkte er an.
„Ja, ja, Tierkunde war in Ordnung. Wo sind sie denn nun?“ Sie sah sich suchend im Raum um.
„Ich weiß es nicht“, gestand Elnar. „Ich habe sie seit dem Frühstück nicht gesehen und dabei hat keiner von ihnen heute eine Prüfung.“
In diesem Moment kam Elly mit besorgtem Gesicht herein.
„Was ist los?“, fragte Neolyt.
„Ich schwöre, ich habe versucht, ihn aufzuhalten, aber er ließ sich partout nicht davon abbringen“, erklärte Elly und ließ sich erschöpft in einen Sessel fallen.
„Was hat Yewan denn gemacht?“, wollte Neolyt wissen.
„Er lässt die Hochräte als Karikaturen im zweiten Stock an den Wänden herumlaufen.“
„Er macht was?“, fragten Elnar und Neolyt gleichzeitig, doch aus unterschiedlichen Gründen.
„Das heißt, dass er komisch verzerrte Bilder der höchsten Reiter in unserer Gesellschaft dort entlanglaufen lässt“, erklärte Elly an Neolyt gewandt und fügte an Elnar hinzu: „Ja, er macht das wirklich. Ich glaube, das ist seine selbsterdachte Aufnahmeprüfung in den Kreis der Unruhestifter, wie sie sich so fantasievoll nennen.“
„Was für ein Kreis?“, fragte Neolyt.
„Eine Gruppe von Schülern, die für den Unsinn hier im Bau verantwortlich sind.“
„Aha.“ Neolyt musste grinsen. „Es hat fast zwei Jahre gedauert, bis Yewan zu ihnen gegangen ist?“
„Ob du’s glaubst oder nicht, am Anfang soll er recht vernünftig gewesen sein“, meinte Elly und auch sie musste lächeln.
„Na ja, dann schauen wir uns das mal an, oder?“, schlug Neolyt vor und erhob sich.
„Ich hab es mir schon ansehen müssen“, erklärte Elly und lehnte sich demonstrativ in ihrem Sessel zurück.
„Na schön.“ Elnar stand ebenfalls auf und nahm seine Tasche. „Es kann sicherlich nicht schaden, die Kunstwerke einmal in Augenschein zu nehmen.“
Sie eilten den Gang entlang zum Treppenhaus und konnten das Gelächter bereits eine Etage früher hören. Die Bilder sahen tatsächlich gut aus, auch wenn die Figuren merkwürdige Proportionen besaßen.
„Oh nein“, sagte Elnar nur, als er sie sah. „Wenn herauskommt, dass er das war, wird er womöglich Ärger von ganz oben bekommen. Wie kann man nur so unvorsichtig sein?“
„Es ist ganz einfach“, erklärte eine Stimme hinter ihnen und als sie sich umwandten, stand dort Yewan und sah unverhohlen selbstzufrieden drein.
„Ach ja? Und wie hat sich der Großmeister des Unsinns abgesichert?“, wollte Elnar wissen.
„Es ist ganz einfach“, wiederholte Yewan und machte sich auf den Weg zu einer Gruppe von Schülern, die anerkennend die Projektionen begutachteten.
Ganze sieben Stunden blieben die Karikaturen an den Wänden, bis schließlich einer der Lehrer einen passenden Gegenzauber gefunden hatte und sie verschwinden ließ.
Am Abend wurden alle in den Speiseraum beordert. Die Lehrer machten ernste Gesichter und Neolyt hatte das Gefühl, dass Yewan sich wohl doch etwas übernommen hatte.
„Ihr wisst, dass heute im Korridor des zweiten Stockes Karikaturen an die Wände projiziert worden sind“, begann Valria. Einige Schüler lachten. „Wir möchten den Verantwortlichen bitten, sich freiwillig zu melden“, fuhr sie fort und sah in die Runde. Ihr Blick blieb an Yewan hängen.
„Warum sollte der Verantwortliche das tun?“, fragte dieser herausfordernd.
„Weil sonst alle Schüler die Konsequenzen tragen müssen“, erwiderte Valria knapp.
„Gut, dann melde ich mich freiwillig als Verantwortlicher“, erklärte Yewan und machte sich auf den Weg nach vorn.
„Was hast du zu deiner Verteidigung zu sagen?“, fragte Valria ihn, als er bei ihr angelangt war.
„Ich sehe keinen Grund, mich zu verteidigen.“
„Du hast soeben zugegeben, für die Karikaturen im zweiten Stock verantwortlich zu sein“, rief sie ihm ins Gedächtnis.
„Es war ein Versehen. Ich habe Projektionszauber geübt und dabei ist mir dieses kleine Missgeschick passiert, wofür ich aufrichtig um Entschuldigung bitte.“ Der belustigt sarkastische Unterton in seiner Stimme strafte seine Worte Lügen.
„Und weswegen hast du deine Projektionszauber an Karikaturen geübt?“
„Das sind Gnome!“, rief er in gespielter Empörung aus und alle fingen prustend an zu lachen. „Ich finde nicht, dass sie auch nur im Entferntesten irgendjemandem ähneln“, fügte er hinzu und lächelte.
Valria schien kurz aus der Fassung zu geraten. „Ja, nun … Dann … wollen wir hoffen, dass es bei einem Missgeschick bleibt, Yewan Arcelon“, sagte sie schließlich.
Die Schülerschaft brach in mehr oder weniger gedämpfte Jubelrufe aus und Neolyt war sich sicher, dass Yewan seinen Platz im Kreis der Unruhestifter bereits eingenommen hatte. Ihr Blick wanderte weiter zu Valria und den übrigen Lehrern, die sich auf dem Podest eingefunden hatten. Zu ihrer Überraschung blickte sie weder missbilligend noch wütend, im Gegenteil, um ihre Mundwinkel spielte ein leises Lächeln. Und als Yewan an Deor vorbeiging, nickte dieser ihm anerkennend zu. Merkwürdig. Neolyt hatte immer gedacht, für Unerlaubtes würde man bestraft werden. Aber scheinbar traf das nur zu, wenn man keine solche Rede wie Yewan halten konnte.
Breit grinsend gelangte er schließlich bei ihnen an. „Na? War das genial?“
„Aber ist es nicht selbstverständlich, dass das Karikadingsda sind und du das mit Absicht gemacht hast?“, fragte Neolyt, bevor jemand anderes etwas sagen konnte.
„Das mag sein, aber sie können es nicht nachweisen.“ Sein Grinsen wurde noch breiter. „Und wenn sie behaupten würden, die ‚Gnome’ sähen aus wie die Hochräte, würden sie öffentlich die Hochräte beleidigen. Das können sie sich nicht leisten.“
Neolyt nickte. Sie glaubte, es verstanden zu haben.
„Ist dir eigentlich klar, wie gefährlich das ist?“, fragte Elly. Sie sah überhaupt nicht fröhlich aus.
„Was soll schon passieren? Es konnte nichts schiefgehen.“
„Warum machst du so etwas überhaupt?“
Neolyt wunderte sich über die Frage. Elly hatte doch selbst gesagt, es wäre die Aufnahmeprüfung für diesen Kreis der Unruhestifter.
„Aus Spaß an der Freude natürlich“, erwiderte Yewan. „Was denkst denn du?“
„Vielleicht, um die Hochräte zu kritisieren?“
Sie reihten sich relativ weit hinten in der Essensschlange ein, doch da Yewan bei ihnen war, kamen sie schnell voran, er war der Held des Abends.
„Also? Wolltest du damit die Hochräte kritisieren?“, hakte Elly nach, als sie sich an einen Tisch setzten.
„Ja, natürlich, sonst hätte ich andere Karikaturen genommen.“
„Ich verstehe nicht, was du gegen sie hast“, erklärte sie aufgebracht. „Sie führen das Land so gut es geht und du hackst ständig auf ihnen herum. Würdest du es besser als sie machen?“
Neolyt wunderte sich über die heftige Reaktion der Freundin. Normalerweise war Elly für jeden Spaß zu haben, viel eher hätte sie von Elnar zurechtweisende Worte erwartet, doch er war ungewöhnlich still.
„Kein Wunder, dass du sie verteidigst. Schließlich bist du in ihrem Schatten großgezogen worden. Ihr Weißstadt-Kinder wisst doch gar nicht mehr, was Recht und was Unrecht ist“, sagte Yewan leichthin, doch Elly schienen die Worte tief getroffen zu haben.
„Und du … du bist doch bloß ein unzivilisierter Piliar!“, fauchte sie.
„Du nennst es unzivilisiert, ich nenne es frei.“
„Als wärt ihr frei!“, schnaubte sie. „Euer Namato hat doch immer noch absolute Macht über euch alle! Und da beschwerst du dich über die Hochräte!“
„Mein Dorf liegt nicht im Machtgebiet des Namatos. Es ist seit Jahrzehnten unter Ivinscher Herrschaft“, erklärte Yewan ruhig.
Neolyt verstand kein Wort.
„Was ist ein Namato?“, fragte sie flüsternd Elnar, während Elly Yewan etwas Bissiges erwiderte.
„Eine Art König. Oder für dich vielleicht Rudelführer.“
„Ach so. Und Piliar?“
„Ein Volk in Yalyris. Es gehört zu den unabhängigen Reichen, die nicht unter der Oberherrschaft der Reiter stehen. Und bevor du fragst: Ivin ist die derzeitige Königin der Reiter und ‚unzivilisiert’ bedeutet so viel wie wild oder schlecht erzogen.“
Neolyt nickte dankbar.
Elly und Yewan redeten den ganzen Abend über kein Wort mehr miteinander.
„Was ist mit ihr?“, wollte Neolyt schließlich von Yewan wissen. Elly hatte sich einige Tische weiter hingesetzt und beschäftigte sich mit Lernen.
„Sie ist im Randviertel von Xialenóll, der Hauptstadt der Einhorn- und Drachenreiter aufgewachsen. Die Kinder werden dort sehr streng politisch erzogen.“
„Und die Stadt ist weiß?“
„Ja, der Hauptteil der Stadt ist vollkommen aus weißem Fels gehauen. Nur die Außenbezirke bestehen aus normalen Gebäuden. Und weil ich jetzt ihre ach so tollen Hochräte angegriffen habe, ist sie sauer.“
„Aber du hast sie doch gar nicht angegriffen“, meinte Neolyt verwundert.
„Es gibt auch andere Arten, jemanden anzugreifen, als mit dem Schwert oder den körperlich gegebenen Waffen“, erklärte er.
„Aber es war doch nur ein Spaß.“
„Natürlich. Allerdings solltest du das lieber ihr erklären, nicht mir.“
Neolyt sah zu ihrer Freundin hinüber. „Vielleicht lieber morgen“, wandte sie ein.
„Ja, da besteht die Möglichkeit, dass sie dich nicht gleich als unzivilisierte Wilde abschreibt.“
Sie sah Yewan bestürzt an.
„Hey, das war ein Witz.“ Er lächelte.
„Aber es stimmt doch, oder? Ich wusste nicht einmal, wie man richtig isst, als ich hierherkam.“
„Es ist nichts Schlechtes daran, die Freiheit zu kennen und sich nicht den Fesseln der Gesellschaft und des guten Benehmens unterworfen zu haben“, erklärte er.
„Wenn du meinst …“
In den nächsten Tagen hatte Neolyt alle Hände voll zu tun, Elly dazu zu bringen, wieder ein Wort mit Yewan zu reden. Doch als die beiden nach bestandenen Prüfungen mit ihrer Schwertkampfklasse ans Meer fuhren, herrschte immer noch eisiges Schweigen zwischen den beiden.
Neolyt blieb allein zurück und war froh, durch die Ausbildung abgelenkt zu werden. Sie hatte schreckliches Heimweh und da sie nun vollkommen allein in dem Zimmer war, wuchs das Gefühl der Einsamkeit.
Elbea hatte schon vor Tagen ihre Abschlussprüfungen bestanden und war gemeinsam mit einigen anderen nach Xialenóll gereist, um dort die Einhornprüfung abzulegen und schließlich von einem solchen erwählt zu werden. Neolyt hatte erst wenige Blicke auf „echte“ Einhörner erhaschen können, doch viel mehr als einen gehörnten Kopf oder einen steingrauen Schweif hatte sie nicht gesehen. Gerne würde sie einmal ein Einhorn genau betrachten und berühren. Sie hatte natürlich schon viel über sie gehört und wusste, dass sie die Wesen bald auch im Unterricht kennenlernen würde, aber Bilder in Büchern sahen meistens anders aus als die Wirklichkeit. Deshalb freute sie sich, als Deor ihr eröffnete, dass sie die Baumwesen nach hinten verschieben und stattdessen direkt mit den Einhörnern anfangen würden.
„Dein Ferien-Unterricht soll dir schließlich ein bisschen Spaß machen“, meinte er und lächelte.
Neolyt fand es sehr nett, dass er sich Mühe gab, ihr mit dem Unterricht nicht die Ferien zu veröden, wusste er doch, weswegen sie nicht zum Rudel konnte.
„Was weißt du über Einhörner?“, begann Deor. Sie hatten den Unterricht nach draußen verlegt und saßen unter einer ausladenden Weide am See, deren dicht belaubte Äste sie vor den heißen Sonnenstrahlen schützten.






