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„Na ja … Die kleinen, die wie Ponys aussehen, sind nicht ganz echt, und Einhörner lassen nur Frauen auf sich reiten“, erklärte sie unsicher.
„Richtig. Und weißt du auch, warum das so ist?“
„Ja“, erwiderte Neolyt stolz. „Die Einhörner haben mit Selay, der ersten Einhornreiterin, einen Pakt geschlossen, dass nur Menschen wie sie auf ihnen reiten dürfen. Und die Einhörner haben das sehr ernst genommen und nicht nur ihre reine Seele und ihren klaren Verstand berücksichtigt, sondern auch ihr Geschlecht. So war es doch, oder?“
„Wahrscheinlich, ja“, bestätigte Deor und lächelte. „Und weißt du, woran du ein echtes Einhorn erkennst?“
„Vielleicht am Horn?“, riet Neolyt.
„Nicht ganz. Natürlich gibt es Pferde, die sehr entfernt mit den Einhörnern verwandt sind und einen kleinen Höcker auf der Stirn haben. Aber das sind selbstverständlich keine echten Einhörner. Das erste Merkmal, auf das du achten musst, ist die Fellfarbe. Einhörner nehmen nur Farben von dunklem Grau zu klarem Weiß an. Es soll auch eines mit schwarzem Fell gegeben haben, aber das sind nur Legenden.“
„Warum gibt es keine Einhörner mit einer anderen Farbe?“
„Einhörner sind reine Wesen des Mondlichts und der Nacht. Das wird auch durch ihr Äußeres ausgedrückt.“
„Und sind alle kleinen Einhörner unecht?“
„Auf keinen Fall. Die Größe ist keineswegs ein Kriterium. Dafür allerdings die Augen. Wenn du einem Einhorn in die Augen schaust, merkst du sofort, ob es echt ist oder nicht. Denn in ihren Augen spiegelt sich ihr ganz persönlicher Charakter. Sie können grün sein oder blau, braun, vielleicht schwarz, alles Mögliche, auch gemischt. Aber sie sind wie bodenlose Teiche und nehmen verschiedene Schattierungen an, je nachdem, wie das Einhorn sich gerade fühlt. Wenn du es anblickst, scheint sich seine Stimmung auf dich zu übertragen. Das ist die sicherste Methode, wie du ein echtes Einhorn erkennen kannst.“
„Wer hat denn gesagt, welche Einhörner echt sind und welche nicht?“
Deor lächelte. Ihm gefiel Neolyts Einstellung, die Dinge zu hinterfragen.
„Eine sehr berechtigte Frage. Es ist so, dass Einhörner nicht von Anfang an mit Pferden gekreuzt wurden, um genügend von ihnen zu züchten. Bis vor einigen Jahrhunderten galten sie als unantastbar und wertvoll. Niemand wäre auch nur auf die Idee gekommen, so etwas zu tun. Aus dieser Zeit stammen sehr detaillierte Beschreibungen der Einhörner, aus denen wir schlussfolgern können, wie sie ursprünglich aussahen.“
Neolyt nickte.
Die weitere Stunde verbrachte Deor damit, sie mit den grundlegenden Eigenschaften der Einhörner vertraut zu machen. Außer den Fell- und Augenfarben unterschied man zwischen vier unterschiedlichen Arten des Horns, verschiedenen Körperbauten sowie nach Länge und Dichte der Mähne und des Schweifes.
„Früher wäre es niemals jemandem eingefallen, die Mähne oder den Schweif eines Einhornes auch nur zu berühren. Einhornhaar galt schon immer als unzerreißbar, flammenfest und vor allem kann es einen unsichtbar machen.“
„Einhörner können sich unsichtbar machen?“, fragte Neolyt erstaunt.
„Ja. Sie sind mächtige Zauberwesen, auch wenn das heutzutage immer weniger beachtet wird. Das und eben jene unglaublichen Eigenschaften haben dazu geführt, dass einige Einhornreiter für ein entsprechendes Sümmchen – das bedeutet, sie bekommen sehr viel Geld dafür – ihren Einhörnern Mähne und Schweif stutzen lassen, beziehungsweise manchmal sogar ganze Haare herausreißen lassen.“
„Und wehren sich die Einhörner nicht dagegen?“, fragte Neolyt erschrocken.
„Viele von ihnen sind so lange wie dumme Tiere behandelt worden, dass sie letztendlich auch zu solchen geworden sind. Und die gezüchteten haben sowieso von Anfang an den Verstand eines Pferdes.“
„Aber das ist doch furchtbar“, sagte Neolyt traurig und wütend zugleich. „Unternimmt denn niemand etwas dagegen?“
„Nun, es gibt Schutzorganisationen. Jährlich sollen alle Haushalte, die Einhörner beherbergen, geprüft werden. Aber viele entziehen sich dieser Vorschrift, da sie es sich nicht leisten können, den Einhörnern den Komfort zu bieten, der für sie festgelegt wurde.“
„Was ist Kommfohr?“
„Das bedeutet, dass ihnen viele Annehmlichkeiten zustehen und auch bestimmtes Futter.“
„Aber es geht doch darum, wie man sie behandelt, oder? Wenn man sich das Futter nicht kaufen kann und trotzdem nett zu ihnen ist, dann ist das doch nicht schlimm.“
„Genau das ist das Problem. Letztendlich leiden unter dem Gesetz nur die Unschuldigen.“
„Yewan hat recht, die Räte sind merkwürdig.“ Neolyt schüttelte den Kopf.
Das Zwitschern einiger Vögel erfüllte die Mittagshitze, während Deor einen Moment lang schwieg.
„Es liegt natürlich nicht nur an den Räten“, wandte er schließlich ein. „Man bräuchte solche Gesetze gar nicht, wenn die Einhornreiter noch so ehrbar und gewissenhaft wären wie einst.“
„Aber wieso haben die Einhörner nicht erkannt, dass diese Menschen, die damit angefangen haben, nicht gut zu ihnen waren?“
„Das kann ich dir nicht sagen“, antwortete Deor und aus irgendeinem Grund war sich Neolyt nicht sicher, ob er es tatsächlich nicht wusste oder es ihr nicht verraten wollte.
Am Abend saßen sie in kleiner Runde im Speisesaal, nur wenige ältere Schüler verbrachten die Ferien ebenfalls im Bau. Doch sie hatten keinen Unterricht und konnten jeden Tag so lange sie wollten ohne Aufsicht an die frische Luft. Neolyt setzte sich etwas abseits von ihnen hin und stocherte lustlos in ihrem Eintopf herum. Sie vermisste Elly, Yewan und Elnar. Ohne ihre drei Freunde verfolgte die Langeweile sie auf Schritt und Tritt.
„Ravela, Neolyt, weshalb so trübsinnig?“ Wadne hatte sich ihr gegenüber niedergelassen, allerdings ohne einen Teller.
„Ach, nichts“, meinte sie und versuchte, fröhlicher auszusehen.
„Gut. Ich wollte dich nur fragen, was wir in der nächsten Woche machen wollen. Deor ist nicht da und ich wollte dich eigentlich nicht mit regulärem Unterricht quälen. Wenn du möchtest, könnte ich dir schon einmal die nächste Semesterprüfung abnehmen. Dann würdest du einen Kurs weiterrutschen. Das wäre nicht schlecht, oder?“
„Oh ja, danke. Die meisten Dinge, die wir gerade lernen, hat mir meine Mutter schon beigebracht.“
Einen Moment sah Wadne sie nachdenklich an. „Ich hätte da eine Idee … Ich glaube, ich überrasche dich damit, es wird dir gefallen“, erklärte sie schließlich, lächelte ihr noch einmal zu und stand dann auf.
„Levan, Neolyt“, verabschiedete sie sich.
„Levan, Wadne“, erwiderte Neolyt und nickte ihr, wie es die Höflichkeit gebot, zu. Mit den Umgangsformen der Reiter hatte sie sich schnell anfreunden können, da es ähnliche auch in ihrem Rudel gab und ihre Mutter stets darauf geachtet hatte, dass sie sich gut benahm.
Am nächsten Tag beendete Deor bereits am Vormittag das Thema der Einhörner mit einer kleinen Wissensüberprüfung und gab ihr den Nachmittag frei.
In der Bibliothek hielt sich zu diesem Zeitpunkt niemand auf und sie war froh, ganz für sich zwischen all den Büchern zu sein. Sie holte den Stein heraus, den Yewan ihr geschenkt hatte, und betrachtete ihn eingehend. Er war zweifelsohne ein Meisterwerk. Viele der darauf abgebildeten Sterne kannte sie gut. Doch einige ganz kleine meinte sie, noch nie vorher gesehen zu haben. Mit einer kleinen, abgerundeten Nadel fuhr sie das Sternbild der Schlange nach und augenblicklich ertönte eine Abfolge klarer, harmonischer Töne.
„Guten Tag“, sagte plötzlich eine vertraute Stimme hinter ihr.
„Guten Tag, Herr Lumis“, sagte sie und drehte sich zu ihm um. Die Bibliotheksbewohner waren vermutlich die einzigen im Bau, die nicht die Umgangsformen der Reiter benutzten, doch Neolyt störte sich nicht daran. Ganz anders als einige der Erwachsenen, die sich bereits darüber ausgelassen hatten, dass die Schüler in der Bibliothek schlechten Einflüssen ausgesetzt wären.
„Würden Sie eventuell gern ein Buch über die Kunst zur Hand nehmen, welche Sie gerade zu praktizieren versuchen?“, fragte er sie und wie immer dauerte es ein wenig, bis sie seinen Satz verstanden hatte.
„Gerne, danke.“
So verbrachte sie den gesamten Nachmittag damit, in verschiedensten Büchern zu stöbern, und konnte nach kurzer Zeit bereits kompliziertere Melodien erklingen lassen. Auch die Art, wie man diese Steine schuf, glaubte sie, mehr oder weniger verstanden zu haben.
Als sie die Bibliothek spät am Abend verließ, fiel ihr ein, was Yewan gesagt hatte, als sie sich zum ersten Mal gesehen hatten. War sie jetzt schon so geworden wie Deors ehemaliger Schüler? War es unnormal, dass sie den Nachmittag in der Bibliothek verbrachte? Sollte sie ihre Zeit sinnvoller nutzen? Und wie konnte sie das tun? Yewan hatte gemeint, er würde den Schwertkampf oder das Reiten üben. Aber sie durfte nicht allein in die Trainingshalle und geritten war sie noch nie.
Tief in Gedanken merkte sie nicht, dass sie den Weg zu ihrem Zimmer eingeschlagen hatte, anstatt zum Speisesaal zu gehen.
„Ravela, Neolyt. Warst du überhaupt schon essen? Ich hab dich gar nicht gesehen“, ließ Wadne sie aufschrecken und da erst merkte sie, wo sie war.
„Ravela. Nein, aber ich hab auch keinen Hunger.“
„Denk daran, dass wir morgen viel Sport treiben wollen“, meinte Wadne. „Ich wollte dir nur noch sagen, dass wir uns vier Stunden vor Mittag in der Trainingshalle treffen.“
Neolyt nickte ihrer Lehrerin zu und schloss die Tür zu ihrem Zimmer auf. Es war dunkel, und auch nachdem sie die Lampen entflammen ließ, wirkte der Raum kühl und verlassen. Neolyt seufzte und ließ sich aufs Bett fallen. Es war merkwürdig so allein. Im letzten Jahr hatte es ziemlich viele Veränderungen gegeben. Das Rudel war sicherlich gerade auf der Jagd, Sommernächte eigneten sich besonders gut zum Hatzen, weil die Beute oft schon schläfrig war und nicht lange durchhielt. Wie es Flit wohl ging? Hoffentlich war er noch am Leben. Sie gähnte. Der Tag in der Bibliothek hatte sie müde werden lassen. Bald darauf war sie fest eingeschlafen.
Erst am nächsten Morgen bemerkte sie, dass sie in ihren Kleidern geschlafen hatte. Ihr war unangenehm warm und sie hatte einen komischen Geschmack im Mund. Doch nachdem sie sich geduscht und ihre Zähne geputzt hatte, war sie hellwach und gespannt auf den Unterricht mit Wadne, die ihr schließlich eine Überraschung versprochen hatte.
Nach dem Frühstück lief sie zur Trainingshalle hinüber, um sich schon einmal aufzuwärmen.
„Ravela, Neolyt. Nun, wenn du jetzt schon hier bist, können wir gleich anfangen“, meinte Wadne mit einem kurzen Blick auf das Gerät an ihrem Handgelenk. „Ich würde sagen, du legst zuerst die nächste Semesterprüfung ab. Dann haben wir das hinter uns und können mit unserem kleinen Projekt beginnen.“ Bei den letzten Worten lächelte sie geheimnisvoll.
Neolyt setzte die Projektionsbrille auf und nahm sich eines der Simulationsschwerter. Sicherlich würde sie nur Gegner haben, die nacheinander auftraten, aber noch auf dem Level-1-Niveau waren. Sie hatte die Vorbereitungen auf die Prüfung schon oft durchgekämpft, auch wenn das Semester noch nicht begonnen hatte.
Einen Moment lang musterte sie die Umgebung. Anders als in den Übungsstunden war sie nicht in neutralem braun gehalten, sondern in weiß. Das war merkwürdig. Doch schon kündigte sich der erste Krieger durch den typischen Schrei an. Ihn hatte sie in wenigen Minuten ausgeschaltet und wartete aufmerksam auf den nächsten. Einige Sekunden lang geschah überhaupt nichts, dann hörte sie abermals den Schrei eines Kriegers und machte sich bereit. Anstelle eines Kriegers tauchten jedoch mit einem Mal die restlichen neun gleichzeitig auf und griffen sie an. Trotz des ersten Schocks versuchte sie, sich so gut wie möglich zu wehren und schaffte es tatsächlich einige Minuten lang, sie auf Abstand zu halten. Doch schließlich hatten sie sie in die Enge getrieben. Instinktiv nahm sie ihre Wolfsgestalt an und sprang einem der verbliebenen fünf an die Kehle, ohne daran zu denken, dass ihre Zähne während der Simulation nichts ausrichten konnten. Tatsächlich sprang sie einfach durch Krieger hindurch und zu ihrem Pech drehte der sich schnell um und traf sie mit seinem Schwert.
„DURCHGEFALLEN“, leuchtete in großen, roten Buchstaben über den Bildschirm.
Verärgert nahm Neolyt die Brille ab und sah in Wadnes schuldbewusstes Gesicht.
„Tut mir Leid, Neolyt, aber wenn ich dir gesagt hätte, dass ich eine Zufallsprojektion eingelegt habe, wärst du nicht so überrascht gewesen. Ich wollte nur testen, wie schnell du dich im Notfall in einen Wolf verwandeln und reagieren kannst“, erklärte sie schnell.
„Dann war das nicht die Semesterprüfung?“
„Nein, die kannst du morgen früh oder, wenn du möchtest, auch heute Abend schon machen. Das war nur ein kleines Experiment meinerseits.“
„Gut, ich habe schon gedacht, ich hätte alle Übungen wieder verlernt.“
„Nein, keineswegs, du hast dich sehr gut geschlagen“, versicherte ihr Wadne.
„Danke. Was machen wir denn jetzt eigentlich?“, hakte Neolyt noch einmal nach.
„Nun, da so schönes Wetter draußen sein soll, habe ich mir gedacht, wir gehen hinaus.“ Wadne zwinkerte ihr zu und blieb geheimnisvoll.
Gemeinsam packten sie ein paar Übungswaffen in eine dafür vorgesehene Tasche und machten sich auf den Weg zu einem der Aufzüge. Klappernd bewegten sie sich nach oben, bis sich die Türen endlich öffneten und sie über eine kleine Treppe ins Freie gelangten. Unter einer großen Eiche mit dickem Stamm und weitem, Schatten spendendem Blätterdach setzte Wadne die Tasche ab und nahm einen Dolch heraus.
„Damit kämpfst du am liebsten, oder?“
Neolyt nickte.
„Dann erkläre ich dir jetzt, was ich vorhabe. Deor hat mir erzählt, dass du nicht nur Mensch, sondern auch ein Wolf bist. Und ein Wolf ist in erster Linie ein Raubtier, hat also, so vermute ich, auch seine eigenen Angriffs- und Verteidigungstechniken. Liege ich da richtig?“
„Ja.“
„Ich finde, es wäre interessant, deine menschlichen und wölfischen Fähigkeiten zu vereinen. Das ergäbe einen ganz neuen Kampfstil. Ich habe so etwas auch noch nie gemacht, aber einen Versuch wäre es wert, oder?“
„Auf jeden Fall“, pflichtete Neolyt ihr begeistert bei. Das war genau das, was sie brauchte, etwas, in dem sie Mensch und Wolf zugleich sein konnte. Vielleicht war es ihr dann auch möglich, es auf andere Situationen zu übertragen.
Die erste Unterrichtsstunde lief etwas chaotisch ab, da sie keinen genauen Ansatzpunkt hatten. Doch bereits am zweiten Tag machten sie einige Fortschritte, indem sie vorgingen, wie sie es sonst im Unterricht auch taten, und mit einzelnen Angriffen oder Verteidigungen begannen. Neolyt hatte dafür den Dolch gewählt, da dieser sich am leichtesten mit den wölfischen Taktiken verbinden ließ.
„Würdest du es schaffen, dich im Sprung zu verwandeln?“, fragte Wadne am Vormittag des dritten Tages.
„Ich kann es versuchen“, meinte Neolyt. Sie ging etwas in die Knie und machte sich zum Sprung bereit. Dann schnellte sie hoch und nahm im gleichen Moment ihre Wolfsgestalt an. Doch die Verwandlung vollendete sich erst, als sie bereits wieder mit allen Pfoten auf dem Boden stand.
„Schon nicht schlecht, aber das musst du schneller hinbekommen.“
Neolyt sprang. Es war anstrengend und mühselig und am Abend brannten ihre Beinmuskeln höllisch, doch am Ende des Tages schaffte sie einen perfekten Sprung mit darin enthaltener Verwandlung. Außerdem gelang es ihr bereits ansatzweise, damit Wadnes Deckung zu durchbrechen, auch wenn sie vermutete, dass ihre Lehrerin das absichtlich zugelassen hatte.
Am Nachmittag des nächsten Tages ließ Wadne Neolyt für kurze Zeit allein trainieren, da sie die Kampfstöcke in der Halle vergessen hatte. Das Licht unter der Eiche war beruhigend grün-golden und Neolyt genoss die von Gezwitscher und Laubrauschen erfüllte Stille. Wadne war noch nicht wieder da und sie hatte sich erlaubt, eine Pause einzulegen, da es sie noch immer anstrengte, sich so schnell zu verwandeln, ganz abgesehen davon, dass auch das Kampftraining sie stark beanspruchte. Sie hatten begonnen, mit teilweiser Verwandlung zu arbeiten, wovon sie vorher nicht einmal gewusst hatte, dass sie so etwas überhaupt konnte.
Als sie mehrere Äste knacken hörte, setzte sie sich abrupt auf. Wadne hatte keine Pause erlaubt und sie wollte das Risiko nicht eingehen, von ihr erwischt zu werden.
Das Rascheln verstummte. War das wirklich Wadne gewesen?
Auf einmal überfiel Neolyt die Angst. Deor hatte doch gesagt, sie solle sich nicht allein außerhalb des Baus aufhalten. Was geschah, wenn jetzt jemand von denen kam, die sie töten wollten? Sie tastete nach dem Dolch an ihrem Gürtel und stellte sich mit dem Rücken zur Eiche. Ein nützlicher Zauberspruch wollte ihr nicht einfallen, ihr Kopf war wie leergefegt. Vor ihr bewegten sich laut raschelnd die Äste eines Busches und ihre Finger schlossen sich krampfhaft um das Heft des Dolches. Dann war es wieder eine ganze Weile lang still. Vielleicht hatte sie sich ja geirrt und überreagiert. Es war wahrscheinlich nur der Wind oder ein Reh gewesen. Sicherheitshalber hielt sie ihre Wolfsnase in die Luft, auch wenn sie inzwischen wusste, dass man den Geruch abschirmen konnte. Sie roch nichts Auffälliges, keine Menschen, keine Drachen und auch keine Einhörner. Aber auch kein Reh oder ein anderes Tier, was groß genug gewesen wäre, solch einen Lärm zu veranstalten.
„Sei gegrüßt, Lunornaila“, hörte sie plötzlich eine Stimme hinter sich und fuhr zusammen. Ganz langsam spähte sie hinter dem Stamm hervor, den Dolch fest umklammert, auf alles gefasst, auch wenn die Angst ihr fast den Atem nahm.
Sie hätte alles erwartet, nur nicht das, was sie sah. Es war ein Pferd. Ein silbergraues Pferd mit dunkelblauen Augen, mit denen es sie aufmerksam ansah.
„Hast du geredet?“, fragte Neolyt schließlich verblüfft, nachdem sie sich einigermaßen gefasst hatte.
„Natürlich.“
„Wer bist du?“
„Das ist eine schwierige Frage. Möchtest du lieber meinen Namen wissen?“, entgegnete das Pferd.
„Ja“, sagte Neolyt, denn das hatte sie gemeint.
„Mondschatten werde ich von den meisten genannt, aber das ist nur einer von vielen Namen. Du hingegen hast nur einen. Neolyt Lunornaila.“
„Was bedeutet das? Warum nennst du mich Luno…“
„Lunornaila? Das heißt in deiner Sprache Wolfstochter. Und das bist du doch, nicht wahr?“, fragte Mondschatten und trat einen Schritt näher.
Neolyt nickte.
Eine Weile lang schwiegen sie und musterten sich gegenseitig.
„Was machst du hier?“, fragte Neolyt schließlich.
„Ich habe dich gefunden.“
„Warum wolltest du mich finden?“
„Manches ist schlecht, wenn es zur falschen Zeit ausgesprochen wird“, antwortete Mondschatten geheimnisvoll. „Aber was hast du so ganz allein im Wald zu suchen?“
„Eigentlich bin ich gar nicht allein, aber Wadne ist in den Bau gegangen, weil wir die Kampfstöcke vergessen haben.“
„Sie ist schon wieder da“, meinte Mondschatten, den Blick auf etwas hinter ihr gerichtet. Doch als sie sich umdrehte, war da niemand.
„Da ist doch gar …“ Aber das graue Pferd war verschwunden.
„Was machst du da, Neolyt?“, fragte Wadne hinter ihr.
„Da war ein Pferd. Es hat gesagt, es heißt Mondschatten.“
Einen Moment lang sah Wadne sie ungläubig an, doch dann nickte sie.
„Gut, machen wir weiter.“
Am Abend tat Neolyt alles weh, weil sie noch nie vorher mit einem Stock gekämpft hatte und viele Treffer hatte einstecken müssen. Kaum, dass sie sich gewaschen und hingelegt hatte, fiel sie in einen tiefen, aber unruhigen Schlaf.
Sie ist wieder an der Eiche, es ist Nacht, silberweißes Mondlicht sickert durch das Laubdach und malt verschlungene Muster auf den Waldboden. Wie am Tag auch raschelt es in den nun dunklen Büschen neben dem Baum und das graue Pferd tritt hervor. Mondschattens Fell schimmert im Licht wie Silberfäden.
„Sei gegrüßt, Mondschatten“, sagt Neolyt, doch kaum ein Wispern dringt über ihre Lippen.
Das Pferd antwortet nicht und trottet vorbei, als habe er sie nicht bemerkt. Mondschatten sieht älter aus und müder als am Tag zuvor, beinahe etwas traurig. Schweigend folgt sie seinem langsamen Schritt, während die Eiche und auch die ihr vertraut gewordenen Büsche und anderen Bäume verschwimmen. Nur noch ein Gemisch aus blauschwarz und silberweiß umgibt sie. Doch es stört sie nicht, sie folgt einfach dem matt schimmernden Fell, und als sich die Umgebung wieder verfestigt hat, weiß sie nicht mehr, wo sie ist.
„Wohin gehen wir?“, wagt sie, ein zweites Mal ihre Stimme zu erheben, doch abermals dringt kaum ein Laut aus ihrem Mund heraus.
Sie erreichen eine große Lichtung. Die langen, dünnen Halme, die im Mondlicht glänzen, reichen ihr bis über die Hüften. Kein Lüftchen regt sich, eine gespannte, drückende Stille liegt über allem. Wie Wasser teilt sich das Gras vor ihnen und hier und da flattern kleine Wesen auf, in denen sie Elfenfalter erkennt. Sie lassen sich auf Mondschattens Rücken nieder, der stehen geblieben ist und zum Himmel hinaufsieht. Sie folgt seinem Blick, kann aber nichts Ungewöhnliches entdecken, nur Sterne funkeln vom Himmel herab, Sterne, die sie nicht kennt. Ein fremder Himmel.
Worauf warten sie nur?
Es ist so ruhig, dass sie am liebsten schreien würde, um diese erdrückende, gespenstige Stille zu zerbrechen, aber sie schweigt. Etwas wird gleich passieren. Das weiß sie.
Und dann ist es so weit.
Grelles Licht überflutet den Himmel. Weit entfernt ist eine Säule aus diesem Licht zu sehen, die eine Kuppel auszusenden scheint. Doch bald muss sie den Blick abwenden, weil das weiße Strahlen in ihre Augen sticht. Aber Mondschatten sieht noch immer hinauf und ist so gebannt, dass sie nicht an sich halten kann und ebenfalls wieder nach oben blickt. Einzelne weiße Punkte rasen zu der Lichtsäule. Sie sehen aus wie Sternschnuppen. Auch Mondschatten beginnt zu leuchten. Oder spiegelt sein Fell das weiße Licht? Unmöglich, denn es wird immer heller und mit einem Mal löst es sich von ihm und steigt auf zu den anderen Lichtern, weit hinauf.
Staunend verfolgt sie das Schauspiel. Was ist das nur? Ihr Blick fällt erneut auf Mondschatten. Sein Fell ist nicht mehr silbern. Es sieht eher aus wie Stein. Er regt sich auch nicht mehr. Langsam und immer wieder zögernd tritt sie näher und streckt die Hand aus.
Dann wird alles dunkel …
Als Neolyt am nächsten Morgen erwachte, hatte sie das Gefühl, irgendetwas Wichtiges geträumt zu haben. Aber als sie versuchte, es sich ins Gedächtnis zu rufen, sah sie nur blau, schwarz und weiß, was ihr nicht besonders wichtig vorkam.
So reine, gute Wesen - wer hat sie verraten?
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Irgendwann war die Woche vorbei und Deor kam wieder, um sie zu unterrichten.
„Ravela, Neolyt“, begrüßte er sie. „Wir hatten das Thema zwar beendet, aber ich dachte, wir könnten noch einmal die ganze Theorie um die Einhörner mit Fakten belegen.“
Neolyt machte große Augen. Sie wusste, dass Schüler die Drachen und Einhörner der Erwachsenen nur selten und dann auch nur aus der Ferne zu Gesicht bekamen und war erstaunt über Deors Angebot. Natürlich nickte sie begeistert. Sie gingen durch die Lehrergänge, die für Schüler normalerweise streng verboten waren, zu den Stallungen der Einhörner. Aus hellem, gut gepflegtem Holz waren die großzügigen und sauberen Boxen gefertigt, doch kein Einhorn war darin zu sehen.
„Sie sind wohl gerade auf der Weide“, meinte Deor und führte sie weiter durch den langen Gang, bis sie schließlich durch ein ebenfalls hölzernes Tor nach draußen traten.
„Oh!“, sagte Neolyt nur. „Sie sind so schön!“
Deor lächelte und nickte. In der Tat waren die Wesen, die dort auf der Wiese standen und von denen einige neugierig zu ihnen hinüberschauten, ausgesprochen schön. Das meist graue, hin und wieder auch weiße Fell schimmerte gepflegt im Sonnenlicht. Einige waren zierlich, andere kräftig, und jedes von ihnen hatte ein langes Horn auf der Stirn, was ihnen zusätzlich Anmut, Erhabenheit und den Eindruck von Weisheit verlieh.
Ein weißes Einhorn näherte sich ihnen und blieb einen Schritt vor Neolyt stehen, um sie neugierig zu betrachten. Es neigte kurz das Horn und Deor bedeutete ihr, ebenfalls den Kopf zu neigen.






