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„Bist du Neolyt?“, fragte es, ohne die Lippen zu bewegen.
Deor hatte davon erzählt, dass sie die Laute durch Magie erzeugen konnten.
Neolyt nickte.
„Mein Name ist Aviom. Ich gehöre sozusagen zu Wadne.“
„Ist sie noch nicht da?“, erkundigte sich Deor.
„Doch“, ertönte Wadnes Stimme von hinten und Neolyt fuhr erschrocken herum. „Ravela.“
„Ravela“, grüßten auch Neolyt und Deor.
„Dann lass ich euch mal ein paar Frauengespräche führen“, meinte Deor und wandte sich zum Gehen.
„Was heißt das? Frauengespräche?“, fragte Neolyt Wadne.
„Er meinte damit, dass Frauen über Einhörner besser Bescheid wissen als Männer, und um Einhörner soll es jetzt ja gehen, oder?“
„Ja.“ Neolyt strahlte.
„Kannst du denn schon sagen, ob Aviom ein echtes Einhorn ist oder nicht?“
Neolyt betrachtete Aviom eingehend. Die Fellfarbe und der typische Glanz stimmten, ein Horn war auch da und die Augen waren tatsächlich wunderbar tiefgrüne Teiche.
„Ja, er ist echt“, meinte sie darum.
Aviom nickte leicht lächelnd.
„Deor hat gesagt, es gäbe nur noch ganz wenige echte Einhörner.“
„Das stimmt leider. Deswegen dürfen wir uns glücklich schätzen, dass Aviom, aber auch Adád, der mit Valria hier ist, unter uns weilen wollen.“
„Es gibt eben doch noch einige Menschen, die Selay genug ähneln, um von uns erwählt zu werden“, erklärte Aviom und zwinkerte Wadne scherzhaft zu.
„Ich würde sagen, wir machen einen kleinen Spaziergang und plaudern dabei ein bisschen“, schlug Wadne vor und Neolyt nickte. Nachdem sie die Weide hinter sich gelassen hatten, begann Aviom, sie über ihr bisheriges Wissen auszufragen.
„Was weißt du über die Entstehung der Einhornreiter, Neolyt?“
Sie wiederholte getreu alles, was sie aus dem Unterricht behalten hatte. Als sie fertig war, schwiegen ihre beiden Begleiter eine Weile, nur Aviom schnaubte dann und wann und sah Wadne seltsam an.
„Das hat Deor dir also beigebracht“, meinte diese schließlich und lächelte.
„Stimmt es denn nicht?“
„Doch, nur einige Details sind nicht ganz richtig. Natürlich weiß Deor, wie es wirklich war, aber er muss dir das beibringen, was in seinem Lehrplan steht.“
Neolyt runzelte die Stirn. „Warum steht es nicht richtig in dem Plan?“
„Weil unsere geschätzten Hochräte und Königin Ivin glauben, die Wahrheit wäre … unangemessen für Kinder im Ausbildungsalter.“
Neolyt nickte langsam. Irgendwie glaubte sie, dass Wadne nicht das meinte, was sie sagte, und diese Angewohnheit der Menschen war manchmal wirklich lästig.
„Und wie ist es wirklich gewesen? Oder darfst du mir das nicht erzählen?“
„Nein, eigentlich darfst du es erst nach der Prüfung erfahren. Aber wir werden es dir jetzt erzählen. Es wird dir wahrscheinlich unbedeutend vorkommen, es ist auch nicht viel, aber es ist trotzdem wichtig, dass du es weißt.“
Abermals nickte Neolyt. Sie hatte das Gefühl, als würde gerade etwas viel Bedeutenderes passieren, als sie verstehen konnte.
„Erst einmal ist Selay nicht von einer anderen Küste gekommen, sie kam aus einer anderen Dimension“, begann Aviom und Neolyt machte große Augen. Bisher hatte sie nur gehört, dass andere Dimensionen wahrscheinlich existierten, und Yewan hatte erzählt, man müsse sehr, sehr mächtig sein, um eine davon zu besuchen. Allerdings verstand sie tatsächlich nicht, warum es so wichtig sein sollte, wo Selay hergekommen war.
„Dann hat nicht das älteste der Einhörner, sondern jenes sie erwählt, das sie im Traum gespürt und auf sie gewartet hat. Und anfangs wurden sogar einige Männer erwählt, bis zweihundert Jahre später einer von ihnen das Tor zur Dimension der Drachen öffnete und die Drachen darauf bestanden, nur Männer zu tragen. Man einigte sich darauf, dass im Gegenzug die Frauen das Privileg erhielten, von Einhörnern getragen zu werden.“
„Und die Kriege? Haben sie wirklich stattgefunden?“
„Ja, zu unserer aller Schande.“
„Warum?“
„Die Ursache ist bis heute nur wenigen bekannt. Manche behaupten gar, Selay selbst hätte sie provoziert.“
„Und stimmt das?“
„Vielleicht, vielleicht auch nicht.“
„Und hat man wirklich damit angefangen, Einhörner mit Pferden zu kreuzen, damit es genug für alle gibt, die Magie benutzen können?“
„Ja, auch das stimmt leider. Viele meiner Schwestern und Brüder darf ich kaum mehr so nennen, weil sie zu so großen Teilen Pferde sind, dass ihnen jeglicher Verstand der Einhörner abhandengekommen ist.“
„Die Armen“, sagte Neolyt, wofür sie erstaunte Blicke erntete. „Na ja, sie können ja nichts dafür, dass sie nur so aussehen, als wären sie Einhörner, und in Wirklichkeit Pferde sind. Das kann doch kein schönes Leben sein, wenn man immer wie in einer Verkleidung lebt.“
Wadne nickte und lächelte. „Das hast du sehr gut erkannt.“
Sie blieben bis zum Mittag im Wald. Wadne demonstrierte Neolyt, wie gut die Verbindung zwischen Einhorn und Reiter war, indem sie Aviom weit vorausschickte und ihm dann zielsicher folgte. Allerdings benötige eine solche Verbindung einige Zeit, bevor sie reife und am Anfang würde man nur wahrnehmen können, wie der andere sich fühle, wenn man ihn berühre, erklärte sie. Doch je länger die Verbindung währte und je mehr sich Reiter und Einhorn vertrauten, desto stärker würde sie werden.
Irgendwann schweifte das Gespräch ab und Wadne brachte Neolyt dazu, von ihrem Rudel zu erzählen, obwohl das bei ihr immer starkes Heimweh verursachte.
Nach diesem Tag setzten sie den Unterricht im Freien fort. Neolyt war Deor dankbar, dass er nicht darauf bestand, im Bau zu bleiben, denn der Wald tat ihr sehr gut.
Fast glaube ich es selbst, doch wie sollte das sein?
Unter dem Spiegel
Doch die Sommerferien fanden schließlich ihr Ende. Elly und Yewan kamen braungebrannt zurück, erzählten von genialen Wellen, genialem Wetter und einem genialen Strand und bedauerten und beneideten Neolyt zugleich, weil sie in den Sommerferien hatte lernen müssen, aber immerhin eine Woche lang Einzeltraining mit Wadne bekommen hatte. Auch Elnar kam drei Tage vor Schulbeginn wieder und hatte allerhand zu erzählen, von neuen Heilmethoden, einem neuen Geschwisterchen und einem neuen Haus, was sich seine Eltern mit Hilfe des jährlichen Zuschusses der Reiter kaufen konnten. Neolyt beneidete ihn darum, bei seiner Familie gewesen zu sein, sie vermisste ihr Rudel stärker denn je.
Dann ging der Alltag wieder los. Die Korridore wurden von Schülern und deren Gelächter und Geplapper erfüllt. Der in den Ferien wie ausgestorbene Bau erwachte zum Leben. Als Willkommensgruß an alle Lehrer wurden von irgendjemandem Momenfalter-Geschöpfe in den Gängen ausgesetzt und noch am Abend schwirrten einige bunt leuchtende Feenkobolde durch die Stockwerke.
Neolyt hatte einen völlig neuen Stundenplan bekommen und legte in der ersten Schwertkampfstunde die Prüfung ab, da sie in den Sommerferien keine Zeit mehr dazu gefunden hatte. Am nächsten Tag setzte sie auch den Unterricht bei Deor fort, der wieder ordnungsgemäß im Klassenzimmer abgehalten wurde. Auch bekam sie gleich am ersten Tag einen Stapel an Hausaufgaben mit, doch das störte sie nicht, da Baumwesen einfach unglaublich interessant waren. Sie gehörten zur Familie der Elementgeister und es gab zwar unendlich viele verschiedene und unterschiedlich mächtige von ihnen, aber Neolyt ließ sich auch von Deas, dem Bibliothekar, nicht davon abbringen, bereits am Wochenende darauf in verschiedensten Büchern nach ihnen zu stöbern, zumal Marcelo Lumis, begeistert von ihrem Lerneifer, ihr ein Buch nach dem anderen zeigte und empfahl. In vielen der Bände waren wunderschöne, detaillierte Zeichnungen der einzelnen Geschöpfe zu sehen und Neolyt verbrachte ihre geringe Freizeit damit, sie zu kopieren, bis sie schließlich feststellen musste, dass ihre Kritzeleien den Abbildungen nicht im Mindesten ähnelten und sie diese frustriert in den Müll entsorgte.
Aus dem Sommer wurde Herbst und aus dem Herbst schließlich der Winter, doch Neolyt bemerkte es kaum, da Deor sie geschickt mit so vielen Aufgaben gleichzeitig beschäftigte, dass sie nie dazu kam, die Ausgangszeiten ihres Jahrgangs wahrzunehmen. Aber sie verübelte es ihm nicht, denn sie wusste, dass er sich Sorgen um sie machte.
Trotzdem war sie froh, als sie endlich einmal wieder die Zeit fand, den Bau für ein paar Stunden zu verlassen. Elly und Yewan waren dabei, Elnar hatte ursprünglich ebenfalls mitkommen wollen, doch jemand hatte eine merkwürdige Vergiftung bekommen, die er sich unbedingt ansehen wollte. Erstaunt betrachtete Neolyt die wenigen weißen Flocken, die vom Himmel herabtanzten, als sie den Bau durch einen der getarnten Ausgänge verließen.
„Es ist schon Schneezeit?“, fragte sie verwundert.
„Ja. Kein Wunder, dass du Stubenhocker das nicht mitbekommen hast“, frotzelte Yewan.
„Was soll ich denn machen, wenn ich so viele Hausaufgaben habe?“
„Ein paar ‚vergessen’“, antwortete er wie aus dem Gewehr geschossen, als wäre das selbstverständlich.
„Aber das geht doch nicht“, wandte sie ein.
„Natürlich, das machen Elly und ich ständig.“
Elly sah ein wenig verlegen drein. „Na ja, nur ganz selten“, meinte sie schließlich.
„Ich mach das nicht“, sagte Neolyt und Yewan zuckte ergeben mit den Schultern.
„Bitte. Aber sag später nicht, ich hätte dir nichts davon erzählt.“
Sie stapften durch den noch niedrigen Schnee bis zum Spiegelsee und ließen sich auf einem der größeren, flachen Steine nieder, von dem der Wind den Schnee wieder heruntergeweht hatte. Tatsächlich pfiff er hier, außerhalb des Schutzes der Bäume, höchst unangenehm, sodass ihre Finger bald taub waren.
„Kommt, lasst uns ein paar Steine fitschen, damit uns wieder warm wird“, schlug Elly vor.
„Was heißt das? Steine fitschen?“, fragte Neolyt.
„Wir zeigen’s dir.“ Elly und Yewan sprangen auf.
Neolyt folgte den beiden neugierig, während sie ein paar Steine aufsammelten und zum Ufer gingen.
„Gut, dass der See keine Wellen schlägt, da klappt das besser“, sagte Elly.
„Aber auch ein bisschen merkwürdig, oder? Bei dem Wind“, warf Yewan ein.
Er erwies sich als ein wahrer Meister darin, die Steine über das Wasser hüpfen zu lassen. Neolyt beobachtete interessiert, wie er einige Schritte Anlauf nahm und den Stein dann gekonnt aus dem Handgelenk warf, der tatsächlich vierzehn Kreise auf der glatten Oberfläche des Sees hinterließ, bevor er unterging.
„Wie machst du das?“, fragte Neolyt und trat zu ihm, während Elly ihrerseits Anlauf nahm und warf, doch ihr Stein sank schon nach dem fünften Sprung.
Yewan drückte Neolyt einen der flachen Kiesel in die Hand. „Du musst ihn so halten, dass der Zeigefinger am Rand anliegt und der Daumen drüber und der Rest drunter ist und dann muss er parallel zum Wasser gehalten werden.“ Er machte es ihr vor und warf den Stein, der zehnmal in weiten Sprüngen über den See hüpfte. Mehr schlecht als recht versuchte sie, es ihm nachzumachen, doch der Kiesel plumpste mit einem lauten Platschen ins Wasser, ohne auch nur einen winzigen Hüpfer getan zu haben.
„Das klappt nie beim ersten Versuch“, tröstete er sie. „Hier liegen genug Steine, mit denen du üben kannst.“
Sie übten noch lange, und auch wenn Neolyt es partout nicht schaffen wollte, einen Stein zum Hüpfen zu bringen, befand sie den Tag eindeutig als den besten des bisherigen Schuljahres.
Irgendwann wurde ihnen langweilig und sie wanderten um den See herum. Ungefähr am gegenüberliegenden Ufer stand ein Baum, der seine kräftigen Äste weit über das Wasser hinausstreckte. Sie ließen sich einige Schritte vom Ufer entfernt über den sachten Wellen nieder und ruhten sich aus. Yewan lehnte sich mit dem Rücken gegen eine Wölbung des Astes und sah in die kahle Baumkrone hinauf.
„Es tut gut, endlich mal entspannen zu können“, meinte er und Elly und Neolyt nickten zustimmend.
Elly hatte ihre langen blonden Haare zu zwei Zöpfen geflochten, die ihr über den Rücken fielen und an den einige Schneeflocken hingen. Sie rieb ihre Hände und blies hinein, natürlich hatten sie vergessen, die Handschuhe mitzunehmen. Auch Neolyt konnte ihre Finger kaum noch spüren, aber sie wollte gern noch etwas bleiben, deswegen sagte sie nichts.
Yewan hatte seinen Blick vom grauen Himmel abgewandt und ließ ihn nun über das Wasser gleiten, bis er plötzlich aufsprang und wie gebannt hinabstarrte.
„Da war etwas“, sagte er leise. „Etwas ziemlich Großes.“
Neolyt sah ihn an, unsicher, ob er sie wieder einmal auf den Arm nahm, doch ein Blick zu Elly verriet ihr, dass auch diese etwas gesehen zu haben schien.
„Wie sah es aus?“, fragte sie.
„Ich weiß nicht. Wie ein großer Schlauch, aber doppelt so dick wie der Baum da.“ Yewan deutete auf den Stamm, dem der Ast entspross, auf dem sie saßen. Elly nickte.
„Es könnte eine Spiegelung gewesen sein“, wandte sie ein, doch Yewan schüttelte den Kopf.
„Es war da“, beteuerte er. „Lasst uns gehen.“
Schweigend traten sie den Rückweg an und sahen nur hin und wieder kurz auf den See, gespannt, ob noch etwas passieren würde, und sich gleichzeitig davor fürchtend.
Es war schon dunkel, als sie über eine Stunde zu spät in den Bau kamen, und sogar Neolyt sah Deor an, dass er erleichtert war, auch wenn er versuchte, ihnen eine strenge Ermahnung zu erteilen. Danach hörte Neolyt ihn noch leise mit Yewan reden, den er beiseite genommen hatte. „Vor allem von dir hätte ich mehr erwartet. Du weißt, dass es für sie draußen ohnehin gefährlich ist, und dass du zwar auf sie aufpassen sollst, aber im Ernstfall nicht viel ausrichten kannst. Besser gesagt, gar nichts!“
„Ja, Deor.“ Es klang ausnahmsweise tatsächlich zerknirscht.
„Du solltest dafür sorgen, dass es nicht dazu kommen kann, dass sie sie erwischen. Es ist so unglaublich verantwortungslos, was du getan hast. Wenn sie dir egal ist, dann sag es, dann finde ich jemand anderen, der das gewissenhafter erledigt.“
„Sie ist mir nicht egal!“, fuhr Yewan auf.
„Dann beweise es“, erwiderte Deor.
Yewan senkte den Blick und nickte.
„Gut, aber wenn so etwas noch einmal passiert, müssen wir neu planen.“
„Ja.“
„Morgen Nachmittag reden wir noch einmal in Ruhe darüber. Hier sind mir zu viele Ohren in der Nähe.“
Neolyt fiel auf, dass auch sie gelauscht hatte, und dass Deor, wenn er es gewusst hätte, es nicht gutgeheißen hätte.
„Was hat er dir gesagt?“, fragte sie Yewan deshalb, auch wenn sie sich dabei irgendwie falsch fühlte.
Er lächelte nur und meinte: „Ist nicht so wichtig.“
Sie sollten ihr vertrauen.
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