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»Ich kenne es nicht,« entgegnete Friedrich; »aber ich möchte wohl!« »Gut, Doktor! … Das Leben auf der Jacht ist schon die Freiheit, aber noch nicht die Einsamkeit. Man muß doch Schiffsleute um sich haben, man muß ab und zu in einen Hafen, um Kohlen einzunehmen. Man kommt wieder mit Menschen in Berührung, und das ist schmutzig. Aber ich kenne eine Insel in der Südsee, wo man ganz allein ist. Da will ich leben. Es ist ein kleines Felsennestchen im Cooks-Archipel. Die habe ich mir gekauft und mir dort von Leuten aus Rarotonga ein komfortables Haus erbauen lassen. Das Gebäude liegt so versteckt hinter den Felsen, daß man es von keiner Seite bemerkt, wenn man auf dem Meere vorbeifährt. Es sind übrigens auch die Schiffe dort selten. Meine Insel sieht nach wie vor unbewohnt aus… Ich lebe dort mit zwei Dienern, einem stummen Neger, den ich schon in Amerika hatte, und einem Tahitier, den ich im Hafen von Avarua aus dem Wasser zog, als er sich aus Liebesgram ersäufen wollte. Jetzt bin ich auf meiner letzten Reise in Europa, um mir noch einzukaufen, was ich für mein ferneres Leben dort brauche. Namentlich Bücher, physikalische Instrumente und Waffen. Die Lebensmittel versorgt mein Tahitier von der nächsten bewohnten Insel. Er fährt jeden Morgen mit einem Neger im elektrischen Boot hinüber. Braucht man sonst noch etwas, auf Rarotonga ist für Geld alles zu haben, so wie in der übrigen Welt … Verstehen Sie?«
»Ja, Mr. Kingscourt. Nur weiß ich nicht, warum Sie es mir erzählen.«
»Warum, Doktor? Weil ich mir einen Gesellschafter mitnehmen will, um das Sprechen nicht zu verlernen, und um jemand zu haben, der mir die Augen zudrückt, wenn ich sterbe. Wollen Sie der sein?«
Friedrich schwieg und überlegte eine halbe Minute lang. Dann sagte er in festem Tone: »Ja!«
Kingscourt nickte zufrieden und fügte hinzu: »Ich muß Sie aber aufmerksam machen, daß Sie eine lebenslängliche Verpflichtung eingehen. Wenigstens so lange ich lebe, muß es gelten. Wenn Sie mit mir gehen, dürfen Sie nicht mehr zurück. Sie müssen alle Fäden abschneiden.«
Friedrich entgegnete: »Mich bindet nichts. Ich stehe ganz allein in der Welt und habe das Leben vollkommen satt.«
»Einen solchen Mann brauche ich, Doktor. Tatsächlich verlassen Sie das Leben, wenn Sie mit mir gehen. Sie werden nichts mehr vom Guten und Bösen dieser Welt erfahren. Sie sind tot für die Welt und die Welt ist untergegangen für Sie. Paßt Ihnen das?«
»Es paßt mir.«
»Dann werden wir gut zusammenleben. Ihre Art gefällt mir.«
»Eines muß ich Ihnen noch sagen, Mr. Kingscourt: ich bin Jude. Stört Sie das nicht?«
Kingscourt lachte: »Hören Sie? Die Frage ist komisch. Ein Mensch sind Sie, das sehe ich. Ein gebildeter Mann scheinen Sie auch zu sein. Des Lebens sind Sie überdrüssig, das spricht für Ihren guten Geschmack. Alles übrige ist dort, wohin wir gehen, furchtbar gleichgültig … Also schlagen Sie ein!«
Friedrich nahm die dargebotene Hand und schüttelte sie kräftig. »Wann sind Sie reisefertig, Doktor?«
»Jede Stunde.«
»Gut. Sagen wir morgen. Wir fahren nach Triest. Dort ankert meine Jacht … Sie werden sich hier vielleicht noch einiges besorgen wollen?«
»Ich wüßte nicht, was,« sagte Friedrich. »Das ist ja keine Lustreise, sondern ein Abschied vom Leben.«
»Immerhin, Doktor, Sie brauchen vielleicht Geld für Anschaffungen. Verfügen Sie über mich.« »Danke, ich brauche nichts, Mr. Kingscourt«
»Haben Sie keine Schulden, Doktor?«
»Ich besitze nichts und schulde nichts. Meine Rechnung ist glatt.«
»Haben Sie keine Verwandten oder Freunde, denen Sie etwas hinterlassen wollen?«
»Niemand!«
»Um so besser! Wir reisen also morgen, … aber wir könnten schon heute miteinander speisen.«
Kingscourt klingelte. Die Kellner deckten auf einen kurzem Befehl den Tisch im Salon und brachten ein reichliches Mahl. Die beiden Männer näherten sich einander sehr rasch in ihren Gesprächen. Friedrich fühlte nach all dem Vertrauen, das ihm Kingscourt so schnell geschenkt hatte, das Bedürfnis, auch seine eigene Geschichte zu erzählen. Er tat es in kurzer und deutlicher Weise. Als er damit zu Ende war, sagte der Amerikaner: »Ich glaube jetzt, daß Sie mir nicht durchgehen werden, wenn ich Sie auf meiner Insel habe. Liebeskummer, Weltschmerz und Judengram — das ist zusammen genug, um auch einen jungen Mann für immer Abschied nehmen zu lassen vom Leben. Nämlich vom Leben mit den Menschen. Selbst wenn man ihnen Gutes tut, wird man von ihnen betrogen und gequält. Die größten Narren sind die Wohltäter. Glauben Sie nicht?«
»Ich glaube, Mr. Kingscourt, daß man beim Wohltun ein angenehmes Gefühl hat … Und da fällt mir etwas ein. Sie haben mir Geld angeboten, falls ich vor meinem Abschied vom Leben etwas hinterlassen wollte. Ich weiß eine Familie in tiefster Not. Der möchte ich helfen, wenn Sie es mir erlauben.«
»Es ist ein Unsinn, Doktor. Aber ich kann es Ihnen nicht verweigern. Ohnehin, es war überhaupt meine Absicht, Ihnen einen Betrag zur Ordnung Ihrer Angelegenheiten zu geben. Machen Sie damit, was Sie wollen. Sind fünftausend Gulden genug?«
»Oh, reichlich!« sagte Friedrich. »Und es ist doch auch für mich ein schöner Gedanke, daß mein Abschied vom Leben nicht ganz ohne Zweck ist.«
5. Kapitel.
Die Stube der Familie Littwak sah bei Tage noch elender aus als bei Nacht. Und doch fand Friedrich Löwenberg diese armen Leute in beinahe rosiger Stimmung, als er bei ihnen eintrat. David Littwak stand vor dem Fensterbrett, auf dem ein aufgeschlagenes Buch lag, und er las darin, während er an seinem mächtigen Butterbrot kaute. Der Vater und die Mutter saßen auf der Streu. Die kleine Mirjam spielte mit Halmen.
Chajim Littwak erhob sich rasch, um den Wohltäter zu begrüßen. Auch die Frau wollte aufstehen, aber Friedrich ließ es nicht zu. Er kniete schnell neben ihr nieder und streichelte das Brustkind, das ihn aus den armseligen Fetzen heraus mit lieblichen Augen anlachte.
»Nun, wie geht es heute, Frau Littwak?« fragte Friedrich.
Die Arme haschte vergeblich nach seiner Hand, um sie zu küssen: »Besser, gnädiger Herr!« sagte sie. »Wir haben Milch für Mirjam und Brot für uns.«
»Zins hab’ ich auch schon gezahlt!« ergänzte Chajim stolz.
David hatte sein Butterbrot hingelegt, stand mit verschränkten Armen da und betrachtete Friedrich festen Auges. »Warum siehst du mich so durchbohrend an, kleiner David?«
»Damit ich Sie nie vergess’, Herr. Ich hab’ einmal gelesen eine Geschichte von einem Manne, der einem kranken Löwen geholfen hat.«
»Androklus!« lächelte Friedrich.
»Er hat schon viel gelesen, mein David,« sagte die Mutter mit schwacher und zärtlicher Stimme.
Friedrich stand auf, legte die Hand auf den runden Kopf des Knaben und scherzte: »Bist du am Ende der Löwe? Juda hatte einst einen Löwen …«
David entgegnete beinahe trotzig: »Was Juda gehabt hat, kann es wieder haben. Unser alter Gott lebt noch.«
Frau Littwak rief klagend: »Nit amal ein’ Sessel können wir Ihnen anbieten, gnädiger Herr!«
»Nicht nötig, liebe Frau. Ich wollte nur nachsehen, wie es Ihnen geht, und — etwas bringen. Sie sollen diesen Brief erst öffnen, nachdem ich fortgegangen bin. Er enthält eine gute Empfehlung, die euch im Leben nützen wird. Sie müssen sich gut nähren, Frau Littwak, damit Sie dieses schöne, kleine Mädel zu einer braven Frau erziehen, wie Sie selbst sind.«
»Mehr Glück soll sie haben!« seufzte die Frau.
»Und diesen guten Jungen lassen Sie etwas Tüchtiges lernen. Gib mir deine Hand, Bürschchen! Versprich mir, daß da ein ordentlicher Mensch wirst.«
»Ja, das verspreche ich Ihnen.«
Was der Bub für merkwürdige Augen hat, dachte sich Friedrich, als er die kleine Hand schüttelte. Dann legte er den umfangreichen Brief auf das Fensterbrett und wollte gehen.
»Entschuldigen Sie, gnädiger Herr,« sprach ihn Chajim Littwak bei der Tür an, »is in den Brief vielleicht eine Empfehlung an der Kultusgemeinde?«
»Ganz richtig,« entgegnete Friedrich. »Das wird Sie auch der Kultusgemeinde empfehlen.«
Und rasch ging er hinaus, die Treppen lief er hinunter, als fühlte er sich verfolgt. Vor dem Tore hielt sein Fiaker, eilig stieg er ein und rief dem Kutscher zu: »Schnell fahren!«
Die Pferde zogen an. Es war die höchste Zeit. Eine Minute später keuchte David atemlos aus dem Tore hervor, spähte nach allen Richtungen, und als er keine Spur mehr von dem Helfer entdecken konnte, fing er bitterlich zu weinen an. Friedrich sah es durch das Guckloch in der Rückwand seines Wagens, und er freute sich, daß es ihm gelungen war, den Dankesergüssen zu entgehen. Mit den fünftausend Gulden war diese Familie hoffentlich gerettet.
Im Hotel erwartete ihn Kingscourt mit breitem Lachen: »Haben Sie also Ihr gutes Werk getan, Doktor?«
»Sie könnten mit mehr Recht sagen, daß es das Ihrige sei. Es war Ihr Geld, Mr. Kingscourt!«
»Oho! Dagegen verwahre ich mich aber schon ganz entschieden. Ich hätte nicht einen Heller hergegeben, um Menschen Gutes zu erweisen. Ich habe nichts dagegen, daß Sie ein Narr der Nächstenliebe sind — ich bin keiner mehr. Das war Ihr Handgeld, damit konnten Sie machen, was Sie wollten.«
»Auch recht, Mr. Kingscourt!«
»Ja, wenn Sie mir gesagt hätten, daß Sie für Hunde oder Pferde oder sonst ein anständiges Vieh was Mildes vorkehren möchten, da hätten Sie mich dazu haben können. Aber Menschen? Nee, kommen Sie mir mit der Sorte nicht. Die ist oberfaul. Die ganze Vernunft besteht darin, daß sie niederträchtig sind … Da war neulich in den Blättern zu lesen, daß eine alte Dame ihr Vermögen ihren Katzen hinterlassen hat. Sie befahl in ihrem letzten Willen, daß ihr Haus in so und so viele feine Appartements für das Katzenvolk eingeteilt werde, mit Pflegepersonal und so weiter. So’n Kerl von Zeitungsschreiber hat dazu die blödsinnige Bemerkung gemacht, die Alte sei wahrscheinlich verrückt gewesen. Solch ein Hornochse! Nicht verrückt war sie, sondern riesig gescheit. Eine Demonstration gegen das menschliche Geschlecht, und insbesondere gegen ihre lumpige, erbgierige Verwandtschaft wollte sie machen. Den Tieren, ja — den Menschen, nein! Sehen Sie, das kann ich der alten Dame innigst nachfühlen, Gott habe sie selig!«
Das war Kingscourts Lieblingsthema, und darin entwickelte er eine unerschöpfliche Verve.
Friedrich Löwenberg ordnete seine geringen Angelegenheiten. Er war damit am anderen Tage fertig. Seiner Quartierfrau sagte er, daß er einen Ausflug auf den Großglockner unternehme. Sie entsetzte sich darüber: Mitten im Winter! Man höre so viel von Bergunfällen.
»Schön,« meinte Friedrich mit melancholischem Lächeln, »wenn ich in acht Tagen nicht wiederkomme, so können Sie mich als vermisst bei der Polizei melden. Dann bin ich wohl in einer Felsenspalte besorgt und aufgehoben. Meine Habseligkeiten, die da sind, vermache ich Ihnen.«
»Reden Sie nicht so sündhaft, Herr Doktor!«
»Ich mache ja Spaß!« rief er. Mit dem Abendzuge verließ er in Kingscourts Gesellschaft Wien. Er war nicht wieder in das Cafe Birkenreis gegangen und wußte nicht, daß der kleine David Littwak Nacht für Nacht vor der Tür stundenlang auf ihn wartete.
Im Hafen von Triest schaukelte sich die schmucke Jacht Mr. Kingscourts auf den Wassern. Die beiden machten noch ihre letzten Einkäufe für die lange Reise, und eines hellen Dezembertages lichteten sie die Anker und steuerten südwärts, ostwärts. Friedrich wäre wohl unter anderen Umständen von der Meeresfreiheit tief beglückt gewesen; so aber verdankte er der sonnigen Fahrt nur eine geringe Erleichterung seines Grames.
Kingscourt war freilich ein prächtiger Mensch, gutmütig bei aller seiner Prahlerei mit Menschenhaß, und liebenswürdig und zartfühlend. Wenn er Friedrich in trüben Stimmungen sah, bemühte er sich mit allen möglichen Scherzen, ihn aufzumuntern. Er ging mit ihm um, wie mit einem kranken Kinde. Da pflegte Friedrich wohl zu sagen: »Wenn unsere Schiffsleute uns beobachten, müssen sie eigentlich eine ganz falsche Vorstellung bekommen. Sie werden mich für den Herrn, und Sie für den Gast halten, den ich mir eingeladen habe, um mir die Zeit zu vertreiben. Ach, Mr. Kingscourt, Sie hatten sich auch einen lustigeren Gesellen aussuchen können als mich!«
»Mein Lieber, ich hatte keine Wahl!« antwortete Mr. Kingscourt mit grimmigem Ernst. »Einen Lebensüberdrüssigen mußte ich haben, und die sind in der Regel keine guten Gesellschafter. Aber Sie werd’ ich schon noch heilen. Sie werden mir doch noch ganz anders dreinschauen, bis wir erst das Menschengesindel ganz hinter uns haben. Da werden Sie auch noch so ein vergnügter Kerl werden, wie ich. Bis wir auf unserer seligen Insel sind, hol’ mich der Deibel, wenn’s nicht wahr ist!«
Die Jacht war sehr behaglich mit allem amerikanischen Komfort eingerichtet. Friedrich hatte einen ebenso schönen Schlafsalon, wie Kingscourt selbst. Der gemeinschaftliche Speiseraum war mit einer wahren Pracht ausgestaltet, und wenn sie abends nach dem Essen unter dem freundlich stetigen Lichte der elektrischen Deckenlampe beisammen saßen, verflogen die Stunden unter den besten Gesprächen. Es war auch eine gewählte kleine Bibliothek an Bord, aber zum Lesen kam man gar nicht, so abwechslungsreich vergingen die Meerestage. Kingscourt war immer beflissen, seinen Gefährten zu zerstreuen. Man hatte bei lebhafterem Wogengange die Insel Kreta passiert, da rückte er plötzlich mit einem Vorschlag heraus: »Sagen Sie ’mal, Doktor, hätten Sie denn keine Lust, noch Ihr Vaterland zu sehen, bevor wir von der Welt Abschied nehmen?«
»Mein Vaterland?« staunte Friedrich. »Sie wollten noch einmal nach Triest zurückkehren?«
»I bewahre!« schrie Kingscourt. »Ihr Vaterland liegt ja vor uns, Palästina!« »Ach, so ist das gemeint? Sie irren sich. Zu Palästina habe ich keinerlei Beziehung. Ich war nie dort. Es interessiert mich nicht. Meine Vorväter sind seit achtzehnhundert Jahren weg. Was habe ich da zu suchen? Ich glaube, nur die Antisemiten können behaupten, daß Palästina unser Vaterland sei …«
Aber während er dies sagte, fiel ihm David Littwak ein. Da fügte er hinzu: »Außer von Antisemiten habe ich es nur noch von einem kleinen Judenjungen sagen hören, daß Palästina unser Land wäre. Wollten Sie mich damit necken, Mr. Kingscourt?«
»Da soll doch gleich ein Donnerwetter reinschlagen, wenn ich Sie geuzt habe. Das hab’ ich ganz ernst gemeint. Wahrhaftig, ich verstehe euch Juden nicht. Ich wär’ auf so etwas furchtbar stolz, wenn ich ein Jude wäre. Und ihr schämt euch wohl gar dessen. Da könnt ihr euch nicht wundem, wenn man euch verachtet — die Anwesenden natürlich ausgeschlossen.«
»Herr von Königshoff, sind Sie vielleicht ein Antisemit?« sagte Friedrich empört. Zum erstenmal redete er ihn mit seinem deutschen Namen an, er wußte selbst nicht warum.
Kingscourt lächelte: »Nu regen Sie sich auf, mein Sohn! Daß ich ’n allgemeiner Menschenfeind bin, das war Ihnen sozusagen schnuppe. Daß ich aber unter andern auch die Jüdischen nicht mag, das nehmen Sie mir geschwind übel. Trösten Sie sich. Doktorchen, ich hasse die Juden nicht mehr und nicht weniger als die Christen, Mohammedaner und Feueranbeter. Alle zusammen keinen Schuß Pulver wert. Ich verstehe den guten ollen Nero: ein einziger Hals, und dann mitten durch mit einem Hieb. Oder nein: noch schöner ist es, daß die Lumpenbande leben bleibt, und daß sie sich langsam gegenseitig zu Tode ärgern.«
Friedrich war schon versöhnt: »Ich war dumm. Daß Sie mich mitnahmen, war doch der beste Beweis.«
Kingscourt sagte: »Da fällt mir ’ne Sache ein, die ich einmal mit einem Ihrer Landsleute oder Glaubensbrüder oder — hol’ mich der Deibel — kurz mit einem Juden hatte. Es war im Re’ment. Wir hatten da so ’nen Freiwilligen — Cohn hieß die Kreete, ein jemein … Entschuldigen Sie! Dieser Cohn war ’n ganz verflucht krummbeiniges Subjekt — wie für die Kavallerie geschaffen. Es war einmal in der Reitstunde. Ich ließ die Schweinehunde Barriere springen. Das heißt, ich wollte; sie wollten nicht oder konnten nicht. War auch ’n bißchen hoch. Na, ich habe sie traktiert, wie’s sich für solche gottverlassene Schweinebande geziemt. Damals konnte ich noch fluchen, hol’ mich der Deibel! Seitdem hab’ ich’s verlernt … Ich gab ihnen zu verstehen, so durch die Kavall’rieblume, daß ich sie für das zitterlichste Lumpenpack hielte. Und den Cohn holte ich mir besonders. ,Sie sind wohl ein besserer Wechselreiter?’ höhnte ich ihn. Da schoß dem Juden das Blut ins Gesicht, und er ritt an. Stürzte aber und brach sich den Arm. Das hat mich dann eine Weile gewurmt. Wozu hat so ’n Aas auch Ehrgefühl?«
»Sie meinen, ein Jude sollte kein Ehrgefühl haben?« »Nee, so was! Sie verdrehen mir ja das Wort im Mutterleibe … Übrigens, wenn die Juden Ehrgefühl haben, warum lassen sie sich alle die Bübereien gefallen?«
»Was sollten die Juden tun, Mr. Kingscourt?«
»Was? Ja, das weiß ich nicht. Irgendwas, wie mein Cohn in der Reitschule, ich habe doch mehr Respekt vor ihm bekommen.«
»Weil er sich den Arm gebrochen hat?«
»Nein, weil er mir seinen Willen gezeigt hat … Ich, wenn ich an eurer Stelle wäre, ich würde irgendwas Mutiges, Großes unternehmen, daß auch die Feinde vor Staunen die Mäuler aufreißen müßten. Vorurteile, mein Lieber, wird’s immer geben. Das Menschenpack nährt sich von Vorurteilen, von der Wiege bis zum Grabe. Also, da man die Vorurteile nicht abschaffen kann, muß man sie für sich erobern … Je mehr ich darüber nachdenke: es müßte ganz interessant sein, heutzutage ein Jude zu sein. Gerade weil man alle Welt gegen sich hat.«
»Ach, Sie wissen nicht, wie das schmeckt.« »Nicht süß, das kann ich mir schon denken … Na, und wie ist’s mit dem ollen Palästina? Wollen wir uns das noch begucken, bevor wir aus der Menschheit verschwinden?«
»Mir ist alles recht, Mr. Kingscourt«
Und so bekam die Jacht den Kurs nach Jaffa.
6. Kapitel.
Sie verbrachten einige Tage im alten Lande der Juden. Von Jaffa hatten sie einen unangenehmen Eindruck. Die Lage am blauen Meere wohl herrlich, aber alles zum Erbarmen vernachlässigt. Die Landung in dem elenden Hafen mühselig. Die Gäßchen von den übelsten Gerüchen erfüllt, unsauber, verwahrlost, überall buntes orientalisches Elend. Arme Türken, schmutzige Araber, scheue Juden lungerten herum, alles träg, bettelhaft und hoffnungslos. Ein sonderbarer Moderduft, wie von Gräbern, beengte einem das Atmen.
Kingscourt und Friedrich beeilten sich auch fortzukommen. Sie fuhren auf der schlechten Eisenbahn nach Jerusalem. Auch auf diesem Wege Bilder tiefster Verkommenheit. Das flache Land fast nur Sand und Sumpf. Die mageren Äcker wie verbrannt. Schwärzliche Dörfer von Arabern. Die Bewohner hatten ein räuberhaftes Aussehen. Die Kinder spielten nackt im Straßenstaube. Und in der Ferne des Horizonts sah man die entwaldeten Berge von Judäa. Der Zug fuhr dann durch öde Felsentäler. Die Abhänge verkarstet, wenig Spuren einer einstigen oder gegenwärtigen Kultur.
»Wenn das unser Land ist,« sagte Friedrich melancholisch, »so ist es ebenso heruntergekommen wie unser Volk.«
»Ja, es ist einfach scheußlich, geradezu polizeiwidrig,« erklärte Kingscourt. »Und doch ließe sich da viel machen. Aufforsten müßte man. So eine halbe Million junger Riesentannen, die schießen hoch wie Spargel. Das Land braucht nur Wasser und Schatten, dann hätte es noch eine Zukunft, wer weiß wie groß«.
»Wer soll da Wasser und Schatten herbringen?«
»Die Juden, Kreuzschockschwerenot!«
Es war Nacht, als sie in Jerusalem ankamen, eine wundersame Mondnacht.
»Donnerwetter, ist das schön!« schrie Kingscourt. Der Wagen, in dem sie vom Bahnhof nach dem Hotel fuhren, mußte auf seinen Befehl halten. Er herrschte den Lohndiener an: »Sie können auf dem Bock bleiben und dem Kamel von einem Kutscher sagen, daß er langsam hinter uns nachfahren soll. Wir gehen ein Stück zu Fuß, Doktor, wollen Sie? … Wie heißt diese Gegend?«
Der Lohndiener antwortete demütig: »Das Tal von Josaphat, gnädiger Herr.« »Hol’ mich der Deibel, das gibt es also wirklich? Das Tal von Josaphat! Ich glaubte, das sei nur so ’ne Sache in der Bibel. Hier ist nu unser Herr und Heiland herumgegangen. Was sagen Sie dazu, Doktor? … Ach so! Na ja, aber Ihnen muß das doch auch etwas sagen? Diese alten Mauern, dieses Tal …«
»Jerusalem!« sagte Friedrich mit leise bebender Stimme halb vor sich hin. Er wußte sich gar nicht zu erklären, warum ihn der Anblick dieser unbekannten Stadtumrisse derart ergriff. Erinnerungen vielleicht an Worte der frühen Kindheit? Gebetstellen, die des Vaters Stimme gemurmelt hatte? Die abendliche Weihe des verschollenen Pessachfestes zog ihm durch die Seele. Einer der wenigen hebräischen Satze, die er noch wußte, klang in ihm auf: LeSchonoh haboh beJruscholajim. — Übers Jahr in Jerusalem! … Und er sah sich plötzlich als kleinen Knaben an der Seite seines Vaters zum Tempel gehen. Ach, der Glaube war tot, die Jugend war tot, der Vater war tot — Und vor ihm ragten die Mauern von Jerusalem in märchenhaftem Mondesglanz. Heiß strömte es ihm in die Augen. Es überwältigte ihn. Er blieb stehen, und die Tränen flössen ihm langsam über die Wangen.
Kingscourt erstickte mehrere Deibel in seiner Kehle, winkte dem nachfahrenden Kutscher gewaltig zu, stillzuhalten, und er selbst trat lautlos einen Schritt hinter Friedrich zurück, um dessen wehmütige Andacht nicht zu stören.
Mit einem Seufzer erwachte Friedrich aus der Bezauberung. »Verzeihen Sie, Mr. Kingscourt,« sagte er ein wenig beschämt »Ich habe Sie da warten lassen. Es war — es ist mir jetzt so eigen zumute. Ich weiß gar nicht, was das ist.«
Kingscourt aber schob seinen Arm unter den des jungen Mannes und sagte mit ungewöhnlich weicher Stimme: »Sie, Friedrich Löwenberg, ich habe Sie gern!« Und so ging in großer Mondnacht ein Christ mit einem Juden Arm in Arm der alten heiligen Stadt Jerusalem zu …
Weniger entzückend war der Anblick Jerusalems bei Tage. Geschrei, Gestank, ein Geflirr unreiner Farben, ein Durcheinander zerlumpter Menschen in den engen dumpfen Gassen, Bettler, Kranke, hungernde Kinder, kreischende Weiber, heulende Händler. Tiefer konnte das einst so königliche Jerusalem nicht sinken.
Kingscourt und Friedrich besichtigten die berühmten Plätze, Bauten und Ruinen. Sie kamen auch in das traurige Gäßchen der Klagemauer. Der widerliche Anblick der geschäftsmäßig betenden Bettler belästigte sie.
»Sie sehen, Mr. Kingscourt,« sagte Friedrich, »wir haben uns wirklich zu Tode gestorben. Vom jüdischen Reiche ist nichts mehr übrig als ein Stückchen Tempelmauer, und ich kann in meinem Gemüte bohren so viel ich will, mit diesen kleinen verkommenen Industriellen der Nationaltrauer habe ich nichts gemein.«
Er hatte das laut gesagt, ohne zu bemerken, daß ihn auch andere hören konnten. Außer den Bettelbetern und Fremdenführern befand sich in dem Augenblicke noch ein dritter Herr in europäischer Kleidung vor der Klagemauer. Dieser sagte in fremdartig betontem, aber gebildetem Deutsch: »Mein Herr, nach Ihren Worten scheinen Sie ein Jude oder doch jüdischer Abstammung zu sein.« »Ja,« .antwortete Friedrich ein wenig verwundert.
»Dann gestatten Sie mir vielleicht,« fuhr der Fremde fort, »daß ich Ihren Irrtum berichtige. Von der jüdischen Nation ist mehr übrig geblieben als die alten Quadern dieses Mauerstückes und als die armen Schlucker hier, die freilich kein schönes Handwerk betreiben. Sie dürfen die jüdische Nation in heutiger Zeit weder nach ihren Bettlern noch nach ihren Reichen beurteilen.« »Ich bin kein Reicher,« meinte Friedrich.
»Ich sehe, was Sie sind: ein Fremder Ihrem Volke. Wenn Sie einmal zu uns nach Rußland kämen, würden Sie erkennen, daß es noch eine jüdische Nation gibt. Wir haben noch eine lebende Überlieferung, eine Liebe zur Vergangenheit und einen Glauben an die Zukunft. Bei uns sind die Besten und Gebildetsten dem Judentume als einer Nation treu geblieben. Wir wollen zu keiner anderen gehören. Wir sind, was unsere Väter waren.«
»Das ist recht,« rief Kingscourt. Friedrich zuckte leicht die Achseln, sprach aber noch einige höfliche Worte mit dem Unbekannten, dann gingen sie. Als sie am anderen Ende der Gasse waren und um die Ecke bogen, blickten sie zurück. Der russische Jude stand noch dort. Er war in ein stummes Gebet vor der Klagemauer versunken.