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Sehr wahrscheinlich wird das Wasser in den verborgenen Tiefen des Lägernberges gekocht. Die Kleinen Bäder erhalten dasselbe zunächst, der grössere Teil fliesst wohl unter der Limmat durch den Grossen Bädern zu, ohne deswegen kälter zu werden, denn auf beiden Flussufern sind die Hauptquellen gleich warm, und wenn mitunter behauptet werden will, das Wasser im Freibad des rechten Ufers sei wärmer als das im Verena- und Freibad des linken Ufers, so rührt dieser scheinbare Unterschied bloss daher, dass jenes ganz bedeckt und eingeschlossen ist und die Wärme deswegen länger darin zurückbleibt. Es ist über die Zubereitung dieses Wassers in den Eingeweiden der Erde und über die Ursachen seiner Wärme in älteren und neueren Zeiten manche Hypothese aufgestellt worden. Von dem vor einigen Jahrhunderten durch die damaligen Naturforscher allgemein verbreiteten abenteuerlichen Gedanken, als brenne ein unterirdisches Feuer im Schosse des Lägernberges, ist man allerdings schon längst zurückgekommen und es wird angenommen, dass diese Erhitzung des Wassers durch seine chemische Mischung mit Kalkerden, Schwefelkiesen, Alaunschiefern und anderen Bestandteilen, vielleicht durch ein noch unerörtertes elektrisches oder galvanisches Fluidum verursacht werde. Wir lächeln über das, was unsere guten Alten davon fabelten. Allein wer bürgt uns dafür, dass alles, was die Neueren darüber zu erforschen trachten, nicht immer nur Fragment bleiben werde? Die heilige Natur wirkt hinter undurchdringlichem Schleier und gestattet keinen Zutritt in ihre unterirdische Werkstätte, wo sie den Sterblichen, die auf sie hoffen und an sie glauben, geheimnisreich waltend, so manches Labsal bereitet.17
Für welche Krankheiten diese Bäder dienlich seien, mögen die Ärzte bestimmen, welche alljährlich so viele Leute herschicken, die an den verschiedenartigsten Übeln leiden. Wer alle Schriften durchgeht, welche von Conrad Gessner bis auf unsere Tage über diesen Gegenstand erschienen sind, findet ein so ungeheures Verzeichnis menschlicher Gebrechen darin aufgestellt, dass man daraus schliessen möchte, das Wasser zu Baden sei eine Universalarznei, was es doch schwerlich sein kann.
Man sollte denken aus seinen Bestandteilen, ihrem Verhältnis zueinander und ihrer Mischung liesse sich genau angeben,* welche Krankheitsursachen vorzüglich dadurch könnten gehoben werden. Allein es gibt entweder noch keine hinreichenden chemischen Mittel, die feinsten Bestandteile aller Mineralwasser zu erörtern oder die Natur treibt hier sonst ihr Spiel mit den Meistern der Kunst, denn indes öfters ein Übel im Körper eines Patienten geheilt wird, verschlimmert sich dasselbige in den nämlichen Teilen eines anderen, bei gleicher Anwendung des Mittels. Darüber muss man die Kurgäste erzählen hören, von denen oft einige über Verstopfung, andere über Durchfall klagen, von denen oft solche, die nur ein paar Tage baden wollten, den Ausschlag bekommen und viele Wochen brauchen, bis er wieder abgebadet ist, indes andere diese Krisis erzwingen wollen und nie dazu gelangen. Das Einzige, was sich aus diesen verschiedenen Wirkungen abnehmen lässt, ist, dass es darüber keine allgemeine Regel gebe, dass die Anwendung des Bades in Temperatur und Zeit genau nach dem individuellen Bedürfnis des Kurgastes bestimmt werden sollte und dass die Abweichungen verschiedener Naturen ins Unendliche gehen.
Unstreitig wird durch den flüchtigen, durchdringenden Reiz dieses Wassers die Tätigkeit des Hautorgans und durch die natürliche Wärme des Bades die eigene Wärme des Körpers erhöht. Verstopfungen, nicht nur in den Hautdrüsen, sondern auch in den inneren Teilen werden dadurch erweicht und aufgelöst und der ganze Organismus durch die Befreiung von hemmenden Stoffen gestärkt. Alte, von Schlagflüssen gelähmte Leute erlangten hier wieder den freien Gebrauch ihrer Glieder. Krätze, Flechten, eiternde Geschwüre, verjährte Rheumatismen, Gicht, Epilepsie, Leberverstopfungen, Gravel- und Steinbeschwerden und anderes mehr wurden hier geheilt, besonders weibliche Krankheiten, weswegen dieses Bad vor Zeiten auch das Weiberbad genannt ward. Nach überstandenem Wochenbett richtet es fast immer schwächliche Frauenzimmer wieder auf, und kleineren Kindern verleiht es die früher unentwickelte Kraft, gehen zu lernen.
Wer hingegen die Schwindsucht oder schleichendes Fieber mit in das Bad bringt, der wird seinen Zustand bald verschlimmert fühlen und wohl tun, sich gleich wieder daraus weg zu flüchten.
Ich selber bedurfte des Bades schon oft, um Rheumatismen und Leberbeschwerden zu vertreiben, und habe mich immer am besten dabei befunden, wenn ich meine Kur in zwei Hälften teilte und dieselbe eine Woche im Heumonat und ebensolang im Herbstmonat gebrauchte.
In den Privatbädern wird auch häufig geschröpft, und viele Leute glauben, nichts gehörig vollbracht zu haben, wenn sie nicht die mystische Zahl von sieben oder neun Wundmalen auf dem Rücken mit heimtragen. Sie wähnen damit ihrer Kur das Meistersiegel aufzudrücken. In der Tat leistet diese übrigens ziemlich unangenehme und fast ekelhafte Operation bedeutende Dienste bei Schärfen in den Lymphen, bei rheumatischen Beschwerden, Flüssen und Zahnschmerzen, und nach vorher gebrauchten Bädern desto leichter, weil die Haut weicher geworden und die Schweisslöcher offener sind.
Seit einigen 20 Jahren wird das Wasser auch häufiger getrunken als vor Zeiten.18 Es löst in der Regel viel zähen Schleim im Magen und in den Eingeweiden auf. Man trinkt es entweder im Bad so warm, wie es aus der Röhre fliesst, oder auf- und niedergehend an dem Brunnen im Staadhofe, fängt mit zwei Gläsern an und steigt bis auf sechs oder acht. Allein, es gibt Leute, denen dieses Trinken eher übel als wohl bekommt, weil es manchmal, statt zu eröffnen, verstopft. Man kann zwar, um diese verkehrte Wirkung zu hindern, auflösende Mittel damit verbinden, allein dann wird es durch den Beisatz eine andere Arznei, um derentwillen man nicht nach Baden zu reisen braucht.
Manchen Ärzten ist vielleicht noch nicht bekannt, dass die kleinere Quelle, welche in das Freibad fliesst, vielen Leuten, die vom Trinken aller übrigen Quellen verstopft wurden, Öffnungen verschafft. Ob mehrere Bestandteile sich in verstärktem Mass darin befinden, das mögen die Gelehrten untersuchen. Dem Geschmack nach zu urteilen, scheint sie mehr Mittelsalz zu enthalten. Es gibt aber manche, die vom Trinken auch an dieser Quelle dennoch hartnäckig verstopft bleiben. Die eigentümliche Natur jedes Menschen modifiziert auch bei dieser Anwendung die Wirkungen des Wassers ins Unendliche. Es möchte wohl am besten getan sein, den empirischen Satz aufzustellen: «Wem das Trinken des Mineralwassers zu Baden gelinde Öffnung verschafft, der fahre damit fort, es wird ihm wohl bekommen; wen es aber verstopft, der soll es unterlassen.19
Indes dahle ich in meiner Laieneinfalt wie ein Blinder von Farben und streiche demnach bescheiden meine unbehilflichen Segel vor den Meistern des Stuhles, welchen über dergleichen wissenschaftliche Gegenstände zu sprechen das Recht allein zusteht. Weiss ich doch nur, dass es mir immer unbeschreiblich wohl und behaglich im Bade zumute war, wenn ich ein Glas Wasser nach dem andern einschlürfte, dessen Geschmack, wenn auch etwas salzig, mir nie zuwider war und das mir nach weiten Abendspaziergängen immer den Durst löschte, ohne dass ich zu befürchten hatte, mich durch den Trunk zu erkälten.
Freilich mögen nicht alle Leute gleich fröhlich im Bade sitzen, zumal solche, die viele Wochen hintereinander täglich fünf bis sechs Stunden darin zubringen müssen, um den Ausschlag hervorzulocken. Zum Zeitvertreib für diese rücke ich hier ein witziges Liedchen ein, das der geistreiche Baron von K. gedichtet hat. Man kann es nach beliebiger Melodie singen, und jeder Widerhall einer reinen Stimme klingt doppelt angenehm im Badgewölbe:
ÉLOGE DE LA POUSSÉE
On a chanté le vin, l’amour,
La paix et la victoire ;
L’aimable Poussée, a son tour,
Doit avoir cette gloire.
Oui, la Poussée a bien le droit,
Par nous d’etre chantée,
Unissez-vous donc à ma voix
Et chantez la Poussée!
Tandis que, pareils à des loups,
Partout on se déchire,
Ici plus heureux et moins fous
Nous ne pensons qu’à rire.
Mais à quoi d’un bien aussi doux
Devons nous la durée ?
O! toujours justes entre nous,
C’est bien à la Poussée!
Lise avec son farouche époux
Doit partir a l’aurore,
Ici pour elle il seroit doux,
De s’arrêter encore.
Femme d’accomplir ses desseins
N’est point embarrassée;
Demain le jaloux, par ses soins,
Doit avoir la Poussée!
Vous, qui chérissant la beauté
Et poursuivant les belles,
Leur pardonnez pour leur gaité
D’être un peu trop cruelles ;
Au sein des plaisirs innocens,
Si d’une aile empressée,
Vous voyez s’échapper le temps,
Bénissez la Poussée!
Unis par un si doux lien,
On se chérit, on s’aime,
On demande: «Poussez-vous bien ?»
«A merveille! Et vous-même ?»
Amis et rivaux à la fois,
N’ayant qu’une pensée,
L’objet commun de notre choix,
C’est l’aimable Poussée!
Es lässt sich auch ein sehr artiges und kurzweiliges Experiment im Bad anstellen.19 Ein verwelkter Blumenstrauss, den man in das warme Mineralwasser stellt, erholt sich in kurzer Zeit, die geschlossenen Blütenkelche entfalten sich allmählich zu neuem Leben und ihre Farbe wird wie durch Zauber in ursprünglicher Frische wieder hergestellt.20
Diese Erfahrung bewegt vermutlich so manche alternde Jungfrau, deren Reize vom Hauche der Zeit unfreundlich angeweht oder von innerlich verzehrender Glut ausgetrocknet, zu welken beginnen, alljährlich nach Baden zu fahren, um neue Jugend aus dieser Melusinenquelle zu schöpfen.
Allein wir haben uns schon so lang im Bade mit Ernst und Scherz unterhalten, dass es Zeit sein möchte, endlich aufzubrechen.
Wer sich gütlich tun will, hat einen Tröcknerkorb mitgebracht, der in Baden sonst nicht zu bekommen ist, um auf demselben vermittelst einer Glutpfanne seine Tücher wärmen zu lassen. Je tüchtiger man sich mit diesen reibt, desto besser bekommt das Bad. Neben dem positiven leisten diese Friktionen auch den negativen Nutzen, dass sie vor Erkältungen nach dem Bade sichern, welche oft die ganze Kur verderben können.
Nun geschwind in die Kleider, die Treppe hinauf! Ja an keiner Ecke im Luftzuge bei Frau Basen still gestanden! Man hat sein Zimmer bald erreicht und legt sich noch für ein halbes Stündchen zu Bett; aber schlafen soll man nach dem Bade nicht, sagen die Ärzte. Wer möchte auch immer in den Zustand des Nichtseins versinken! Wie mancherlei lässt sich mit geschäftiger Fantasie denken, dichten und träumen, indes die Körpermasse ruhig und behaglich ausgestreckt daliegt. Die Erfindung des Bettes verdiente schon längst ein eigenes Lobgedicht, und über den Einfluss der horizontalen Körperlage auf den Gang unserer Ideen hat der Psycholog Lichtenberg einige bedeutende Winke gegeben.
DAS FRÜHSTÜCK, NEBST EINIGEN BEMERKUNGEN ÜBER DIE SPANISCHBRÖTCHEN
Indes mag man sich auch mit noch so lieblichen Bildern beschäftigen, der Magen behauptet seine Rechte, das Bad reizt den Appetit und der duftende Kaffee lockt den Träumer aus den Federn.
Jeder preist, was er vorzüglich liebt, und so lobe ich mir auch den herrlichen Absud von türkischen Bohnen zum Frühstück. Dieses Getränk ist ein sanftes Reizmittel, es hebt die Nerven, es begeistert, ohne zu berauschen. Selbst Voltaire schöpfte viele seiner witzigen Einfälle aus dieser Hippokrene! Dass es auch in Baden das allbeliebte Frühstück sei, beweisen die vielen dampfenden Kannen, welche gegen neun Uhr von den Aufwärterinnen in alle Zimmer getragen werden. Ich aber braue mir meinen Kaffee am liebsten selbst, und nie schmeckt er mir so trefflich wie nach dem Bade.
Das Brot ist hier weiss, zart und gut gebacken. Allein die meisten Kurgäste wollen ihr Frühstück noch durch das hiesige Hauptgebäck, die Spanischbrötchen, verbessern, und es gibt Leute, die kein Bedenken tragen, alle Morgen fünf bis sechs Stück von diesem fetten, schwer zu verdauenden Blätterteig so warm als möglich und gierig zu verschlucken. Um aber auch den Verwandten und Freunden zu Hause den Genuss dieser Leckerei zu verschaffen, werden grosse Schachteln damit vollgepfropft, durch den Boten versandt und gewöhnlich davon bei der Abreise noch bedeutende Vorräte mit heimgeschleppt. Nach Verfluss einiger Wochen wundert man sich dann, dass man keine bessere Kur gemacht, dass der Magen verdorben ist, dass eine Schleimanhäufung den Appetit hindert. Dann heisst es, das Bad habe ohne Zweifel mancherlei schädliche Stoffe im Körper aufgeregt und der Arzt muss Brechmittel und Abführungen verordnen. Dass die lieben Spanischbrötchen an diesen Unpässlichkeiten schuld sein könnten, daran denkt niemand, und sowie man wieder nach Baden kommt, ermangelt man nicht, sich neuerdings tüchtig damit auszustopfen.
Ein Beobachter nahm sich kürzlich die Mühe, bei den in der Stadt an der Halde, in den Grossen und Kleinen Bädern befindlichen Bäckern nachzufragen, wie viele Spanischbrötchen sie wohl zusammen über eine Kurzeit verfertigen mögen. Sie konnten nur im allgemeinen ihren Verbrauch an feinem Semmelmehl angeben, welcher in 27 Wochen sich im Durchschnitt auf 4736 Viertel belief. Wäre nun dieses ganze Quantum Mehl bloss in dieses Gebäck verwandelt worden, so ergäbe sich, da jedes Viertel 240 Spanischbrötchen gibt, wovon das Stück für einen Schilling verkauft wird, eine Summe von 1 136 640 Spanischbrötchen, welche 28 416 Gulden gekostet hätten. Da aber ein starkes Drittel jenes Mehlverbrauchs zu anderem Backwerk dienen muss, so kann man nach der mässigsten Berechnung immerhin mit Gewissheit annehmen, dass im Laufe jedes Sommers in Baden 720 000 Stück Spanischbrötchen für die Summe von 18 000 Gulden verkauft werden. Es möchte vermutlich schwer halten, so viel Geld für wohltätige Zwecke zusammenzubringen!
Den Liebhabern dieses unwiderstehlichen Gaumenkitzels darf ich die Entdeckung nicht vorenthalten, welche ich vorigen Sommer machte, dass nämlich die Weibsleute, welche die Spanischbrötchen in den Bädern herumtragen, sich im Hinterhof einen ganz besonderen Schlupfwinkel auserkoren haben, um die Schachteln zu verwahren, in welchen die verlangten Portionen für die Abreisenden verpackt werden. Dieser wohlgewählte Behälter, in welchem jene Schachteln oft mehrere Tage liegen bleiben, ist nichts mehr und nichts weniger als der unter der grossen, vom Hofe gegen die Wirtsstube führenden Treppe angebrachte Hundestall. Und wer zu Hause neben den Spanischbrötchen noch eine Zugabe finden sollte, die nicht von Blätterteig gebacken ist, darf darüber nicht erschrecken, da bekanntlich in der alten Materia medica das Album Graecum keine unrühmliche Rolle spielte.
EIN ABSCHNITT OHNE ÜBERSCHRIFT
Es gibt Worte, deren Gebrauch sich eigentlich nur der Arzt in guter Gesellschaft erlauben darf. Allein, um eine Operation dringend zu empfehlen, von deren Nutzen ich mich durch eigene Erfahrung überzeugt habe, ist es wohl am besten, wenn ich auch ohne Arzt zu sein die Sache schlechtweg bei ihrem eigentlichen Namen und ohne Floskeln nenne.
Ich rate demnach jedem Kurgast, der Anlagen zu Leberverstopfungen hat, alle Morgen ein Klistier von Badwasser, so warm als es aus der Röhre strömt, zu sich zu nehmen, und zwar vorzugsweise, wenn er nach genossenem Frühstück natürliche Öffnung hatte, welche durch eine beim Kaffee gerauchte Pfeife Tabak gefördert wird, weil dann das erweichende, in der Küche der Natur bereitete Klistier länger, als es vor dem Stuhlgang der Fall wäre, in den Eingeweiden bleibt und von den inneren Gefässen eingesogen werden kann. Auf diese Weise führt man das Wasser, welches man vorher durch das Bad auf der ganzen Oberfläche des Leibes in die Poren und durch das Trinken von oben herunter in den Magen brachte, nun auch noch von unten herauf in den Körper, wird von dem lebendig warmen, flüchtigen Stoff ganz durchdrungen und eine seltene Leichtigkeit und Heiterkeit im Kopf, eine Behaglichkeit, welche den ganzen Organismus durchströmt, wird bald den Beweis von der Vortrefflichkeit dieser dritten Anwendung des Heilmittels liefern.21

DIE TOILETTE
Eine lästige Stunde ist immer die, welche man dem Anzuge widmen muss, was nur mit wenig Ausnahmen die Frauenzimmer nicht zugeben, indem sie einer, wie es heisst, ziemlich allgemeinen Beobachtung zufolge, nicht ungern vor dem Spiegel verweilen, er mag in Baden auch noch so klein und trüb sein, und die Zeit nie zu bereuen scheinen, welche ihnen auf den Putz zu wenden vergönnt ist. Die jungen und schönen bestreben sich, durch denselben ihre Reize zu erhöhen, die alten und hässlichen ihre Gebrechen damit zu bedecken. Der Zuschnitt des Feigenblattes unserer Stammeltern, das an den Sündenfall erinnern sollte, ist zu einem wichtigen Studium geworden, welches so lange getrieben werden wird, als noch ein Funke von Eitelkeit im menschlichen Gemüte glimmt. Und so dürfen wir auch hoffen, dass das löbliche Schneiderhandwerk immer grünen und blühen und Meister und Gesellen ernähren werde, bis einst unser Nebenplanet wie eine Sternschnuppe zerstieben wird.
In allen Bädern ist man gezwungen, die Kleider häufiger als sonst zu wechseln, und Notwendigkeit und Anstand fordern beträchtliche Opfer unwiederbringlicher Zeit. Indes ist es ein allgemeiner Badeglaube, weil man sich während einer Kur nicht ernsthaft beschäftigen dürfe, so sei die Tändelei des endlosen Ankleidens eher nützlich als schädlich, indem man dadurch vom Lesen, Schreiben und Studieren abgehalten werde. Und so mögen auch die Frauenzimmer sich in Baden etwas länger als zu Hause mit ihrer Toilette beschäftigen, was ihnen ohnehin vonseiten unseres Geschlechtes nicht zum Vorwurf gereichen darf. Schmücken die holden Wesen sich doch nur, uns zu gefallen, wie die Natur sich im Frühling mit Blüten bekränzt, auf welchen mit Bewunderung das Auge ruht. Auch den Herbst zieren ja buntere Blätter und den Schnee des Winters sogar überglüht nicht selten in stiller Mitternacht das funkelnde Nordlicht, und der weisse Reif umgaukelt dürres Reis wie Brüsseler Kanten und fein gestickte Batiststreifen die Hauben ehrenfester Matronen! Mich macht leider das Anziehen immer verdriesslich, zumal wenn ich in Baden auf ein einziges Zimmer beschränkt bin. Wie lange dauert es nicht, bis der Bart abgenommen, das Haar gebürstet oder gekämmt ist, die aufeinander geschichteten Hemden, Strümpfe, Kleider, Stiefel oder Gamaschen herausgelangt und Stück für Stück an den Leib gezogen, geschoben und gepasst sind! Im Zimmer herrscht um diese Zeit gewöhnlich ein unentwirrtes Chaos, das Rasiermesser liegt unter den Kaffeelöffeln neben Überbleibseln des Frühstücks, die Halsbinde auf dem feuchten Waschtuch, der Frack neben dem Badmantel, alle mitgebrachten Habseligkeiten hängen in bunter Verwirrung an allen Stühlen herum, und die ganze Wirtschaft gleicht einer Trödelbude. Das alles muss wieder aufgeräumt und beseitigt werden, damit wenn etwa ein Besuchender unvermutet eintreten sollte, er sich doch regen und in irgendeinem Winkel niederlassen könne. Ich atme erst wieder frei, wenn ich endlich den Hut ergreifen und mich aus diesem Labyrinth flüchten kann.
VORMITTAGSBESUCHE46
Wie angenehm ist es, wenn ein glücklicher Zufall uns in Baden mit lieben Freunden zusammenführt, in deren Gesellschaft wir unsere Zeit zubringen können! Die Geselligkeit unter gebildeten Menschen, der Ideenaustausch mit geistigen Wesen gehört zu den Bedürfnissen, zu den reinsten Freuden des Lebens. Auch müssige Worttändelei, wenn sie mit etwas Mutterwitz gewürzt ist, hat ihr Gutes, wenn nichts Wichtiges darüber versäumt wird. Feines Zuvorkommen befreundet untereinander alle Alter und Stände, und man muss sich gegenseitig aufsuchen, wenn man sich näherzukommen wünscht.
Allein in Baden herrscht noch bei vielen Leuten der Brauch, ihre Mitbürger, welche den gleichen Hofbewohnen, wenn sie auch früher nicht näher mit ihnen bekannt waren und in der Folge auch in keinerlei Verhältnis miteinander zu treten wünschen, wenigstens einmal in ihren Zimmern zu begrüssen, und das geht bisweilen etwas breit zu. In der Regel werden dergleichen Besuche gegen elf Uhr abgestattet.
Da gibt es dann beim Eintritt viele blumenreiche Worte über die Ehre, die man sich gegenseitig erweise, und dieses Thema wird fugatim durchgeführt, bis man sich auf die Stühle hinkomplimentiert hat. Alsdann wird nach dem Befinden der ganzen Familie gefragt, für das Wohlsein des Herrn Vaters Gott gelobt, der Husten der Frau Tante, das Zipperlein des Herrn Schwagers und das beschwerliche Zahnen der lieben Kinder mit Bedauern erwähnt. Man äussert die Hoffnung, dass die Kur eine gesegnete Wirkung haben werde, erzählt einander wie warm, wie früh und wie spät man bade, was der Badwäscher gesagt habe und wie das heutige Wetter sich zum gestrigen verhalte. Ferner gibt es immer Stoff zu mannigfaltigen Vergleichungen des Hinterhofes mit dem Staadhofe, des Fälkleins mit dem Hölderlein, der Schnecken- mit der Gastlaube, und es werden die Vorzüge jedes einzelnen Zimmers gepriesen sowie seine Unbequemlichkeiten getadelt. Von der Komödie wird dann auch gesprochen, das Verdienst der Schauspieler und der Inhalt der neuesten Oper kritisch beleuchtet. Werden die Zwischenpausen etwas länger und regt sich etwa eine Anwandlung zum Gähnen, so scharrt man mit den Füssen zum Zeichen des Aufbruchs, erhebt sich von den Stühlen, dankt nochmals für erwiesene Ehre, gerät über das nähere oder weitere Begleit in delikate Protestationen und empfiehlt sich endlich noch ein paarmal ganz gehorsamst im Umwenden.
Wie eine Drehorgel die nämlichen Melodien wiederholt, so beginnt auch beim folgenden Besuch das nämliche Zungenspiel aufs Neue. Das bekannte Thema wird mit Variationen ad libitum abgeleiert, bis man endlich seinen Visitenkreis durchlaufen hat.
Auf dem Hof aber stösst man überall wieder auf Leute, welche herumziehen, um einander die Zeit auf ähnliche Weise zu vertreiben. Auf einem Beine stehend, den Hut ehrerbietig in der Hand, liefert man sich aphoristische Auszüge aller oben angeführten Merkwürdigkeiten, versäumt darüber oft den vorgehabten Spaziergang und muss sich gegenseitig, um nicht unhöflich zu scheinen, wie das Lamm dem Scherer herhalten, bis etwa die Glocke zur Tafel ruft oder die Langeweile, mit der man sich wie mit einem schleichenden Fieber unter den ausgesuchtesten Wendungen ansteckte, die müden Zungen vollends lähmt und die verstummenden Gruppen auseinandertreibt.
Bejahrte Frauen, welche noch an den älteren Formen der Höflichkeit festhalten, verstehen es meisterlich, dergleichen Sitzungen oder Stillstände zu verlängern, und ist endlich der Augenblick des Scheidens dennoch gekommen, so will keine zuerst aufbrechen, keine vor der andern eine Schwelle betreten. Und gehn sie zusammen spazieren, so werden sie bis vor das Tor einander an alle Mauern drängen, um sich auf der linken Flanke zu überflügeln und der hochwertesten Frau Muhme die rechte Ehrenseite pflichtschuldigst aufzuzwingen. Das alles geschieht unter den lebhaftesten Diskussionen, in welche wie Fanfaren das Geschnatter der Enten und Gänse einfällt, und ist gar possierlich im Vorübergehen zu beobachten.
DIE MATTE
Vor dem Mittagessen gibt man sich gern noch etwas Bewegung im Freien und dazu ist die Matte (das Mätteli, vor Zeiten auch die Werde-Matt genannt) ganz vorzüglich geeignet. Sie gehört nebst vielen anderen Gütern zum Hinterhof, wird aber von den Bewohnern aller übrigen Gasthöfe als öffentlicher Spaziergang benutzt, und zwar von alters her mit Fug und Recht, denn auf Pfingsttag 1424 ward von der Tagsatzung in Baden diesfalls eine Verordnung gemacht, in welcher es heisst: «Es ist zu wissen von der Werdmatten im niederen Baden, worauf man tanzt, die ist vor gemeiner Eidgenossen Boten geöffnet, und ist also von alters hergekommen, dass diese zu Heinrich Schinders sel. Hof gehört und gehören soll, und dass jedermann, in welchen Würden und Ehren er ist, seien es Frauen, Herren, junge oder alte Leute, jederzeit, sommers und winters auf der Matte sich ergehen mögen, Steg und Weg haben und ihre Kurzweil treiben, sei es mit Tanzen oder anderer geziemlicher Kurzweil und es soll das niemand dem andern wehren auf seinem Weg. Und wer des Schinders Hof innehat, der soll auf seine Kosten immer die Tanzbühne auf der Matte erstellen und in Ehren halten und niemandem seine Kurzweil erwehren. Was sonst auf der Matte wächst und zu nutzen ist, mag der nutzen, der den Hof besitzt und hierin von niemandem gehindert sein.»