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Die Regelung der Mietzahlungen, den Hausmeisterdienst und alles andere hatte er einer Hausverwaltung überlassen. Für ihn selbst blieben knapp 1200 Euro im Monat übrig. Eine schöne Grundlage, wenn es ihm auch nicht ganz zum Leben reichte. Selbst in Berlin nicht. Obwohl er, wie er fand, doch relativ bescheiden lebte. Allerdings musste er von diesem Geld außer seiner Wohnung auch noch eine kleine, wenn auch billige Ladenwerkstatt unterhalten.
Trotzdem hatten die monatlichen Mieteinnahmen und die Sicherheit dieser Immobilie einen ungemein entspannenden Effekt auf sein Leben: Er war raus aus dem Rattenrennen nach dem Geld. Er musste nicht funktionieren und zur Verfügung stehen. Er musste sich nicht biegen und kneten und womöglich brechen lassen in diesen Zeiten des Wettbewerbs, wo jeder als Einzelkämpfer agierte und der Darwinismus in allen Winkeln des Lebens zu herrschen schien. Konnte es ein größeres Privileg geben?
Zwei Männer betraten jetzt die Treppe vor dem Haupteingang des Schlosses und wandten sich an die Menge. Sie hielten Taschenlampen in der Hand, deren starken Strahl sie über die Menschen gleiten ließen. Der Jüngere war eher klein und schmal, der Ältere groß und breit.
„Meine Damen und Herren, willkommen in Gralsruhe, der Stadt der Atlantiden“, sagte der Ältere mit tiefer, wenn auch etwas brüchiger Stimme – als würde er zu viel rauchen oder leide an einer Erkältung. „Wir werden Sie heute Nacht auf einen verschwörungstheoretischen Nachtspaziergang durch die Stadt mitnehmen. Was erzählen uns die Pyramiden, Greifen und Sphinxe, die in der ehemaligen Residenz der badischen Markgrafen zu finden sind? Was hat es mit den heiligen und unheiligen Symbolen auf sich, die in die Architektur Karlsruhes eingeschrieben sind? Die Kreise, die Geraden, die Dreiecke, die den Grundriss dieser Stadt bestimmen. Sind das Versuche, Energie in diese Stadt zu lenken, hier etwas zu manifestieren, was dem oberflächlichen Betrachter verborgen bleibt? Haben Geheimgesellschaften ihr Wissen in dieser Stadt verborgen – zu einem höheren Zweck vielleicht? Ist hier womöglich der heilige Gral verborgen? Und was hat der arme Kaspar Hauser damit zu tun, der wahrscheinlich in diesem Schloss als badischer Prinz zur Welt kam, bevor sein Martyrium begann?“
Die Männer schwenkten die Lichtkreise ihrer Lampen theatralisch über den Vorplatz. Arnold meinte, im Dämmerlicht ein Grinsen auf ihren Gesichtern zu erkennen. Im Gegensatz zum Publikum, das stockernst wirkte.
„Wir werden versuchen, Ihnen so viel zu enthüllen, wie wir wissen. Löschen Sie nun Ihre Kerzen und folgen Sie mir und meinem Adlatus zunächst in den Schlosspark.“
Die beiden Männer stiegen die Buntsandsteinstufen vor dem Schlosseingang wieder hinunter. Die Gesellschaft blies folgsam ihre Kerzen aus und folgte ihnen. Ein leises Klicken schien aus der Menge zu kommen, das Arnold kurz irritierte, weil er es nicht einordnen konnte. Vielleicht waren es nur Absätze, die gegeneinander stießen, dachte er.
Die Mienen, die er aus der Nähe erkennen konnte, schienen teils belustigt, teils sehr ernst. Die Ernsten waren wahrscheinlich die Esoteriker unter den Besuchern – eine in Karlsruhe und Umgebung weit verbreitete Spezies.
Das Badische Staatstheater, den Veranstalter dieses Rundgangs, hatte er weit langweiliger in Erinnerung. Aber der Regisseur Conrad Birkenmeyer, der breit gebaute Mann auf der Treppe, hatte zuvor ein Offtheater in Berlin geleitet. Arnold war zweimal in seinen Stücken gewesen. Unter anderem deshalb war er auch dem Aufruf zu diesem Theaterabend in seiner Heimatstadt gefolgt.
Na ja, eigentlich gab es auch noch einen anderen Grund: Seine Familie beziehungsweise seine Vorfahren waren auf die eine oder andere Weise in ein paar entscheidende Vorkommnisse rund um die Stadtgründung und die Pyramide verwoben. Außerdem hatte er in der vorigen Woche ein Faltblatt in seinem Karlsruher Briefkasten gefunden, das auf die heutige Veranstaltung hinwies. Sonst hätte er vielleicht gar nicht davon erfahren. Es war neu, dass das Badische Staatstheater auf diese Art für seine Veranstaltungen warb. Das hatten sie, soweit er wusste, früher nicht getan.
Von dem Abend war vorher nur das Datum bekannt gewesen. Wer die Veranstaltung gebucht und bezahlt hatte, wurde dann per SMS über Zeit und Ort in Kenntnis gesetzt. Das Ganze sah eher nach einer Art Performance aus.
Vor dem hohen, schmiedeeisernen Tor zum Schlosspark bildete sich ein kleiner Stau. Arnold stieß versehentlich eine Frau mit langen, dunklen Haaren an, die ein rotes Tuch um den Hals trug.
„Entschuldigung“, sagte er.
Sie drehte sich kurz um, sah ihn aus blauen Augen an und nickte. Sie wirkte etwas jünger als er, so um die dreißig. Schnell verschwand sie in der sich im Park zerstreuenden Menge. Aus irgendeinem Grund hatte sie Eindruck auf ihn gemacht. Was war es? Ihr Blick? Ihr Geruch? Hatte er überhaupt einen wahrgenommen?
Ach was! Arnold schüttelte den Kopf. Er war einfach schon zu lange alleine, fünf Monate jetzt. Fünf Monate kein Sex. Wahrscheinlich hatte er die Trennung von Christine doch noch nicht verdaut.
Er konnte nicht mehr verstehen, was Birkenmeyer vorne erzählte, weil er ein wenig zurückgeblieben war. Neben ihm trat ein Gruftipärchen aus dem Gebüsch, beide trugen weiße Kontaktlinsen. Sie sahen ärgerlich aus, gestört bei was auch immer.
„Was ist denn hier los?“, fragte der Mann Arnold.
Er trug einen langen Ledermantel und offene Stiefel, beides in Schwarz. Seine Haare standen in alle Richtungen vom Kopf ab. Die Frau neben ihm trug schwarze Rüschen. Ihr Gesicht war weiß geschminkt.
Ob sie zum Theater gehörten?
„Wir sind den Geheimnissen Karlsruhes auf der Spur“, antwortete Arnold, als spiele er in dem Stück ebenfalls eine Rolle.
„Badisches Staatstheater“, sagte in amtlichem Ton jemand neben ihm, ein kleiner Mann mit runden Schultern und dünnem, zauseligem Haar.
„Hä?“, machte die Gruftifrau.
„Ein Theaterabend“, sagte der Mann.
Das Pärchen wirkte enttäuscht, sie schüttelten den Kopf und gingen ab. Ihre Mäntel und Rüschenkleider zogen sie wie Hochzeitsschleppen hinter sich her. Ein intensiver Duft nach Patschuli blieb zurück.
Als Arnold sich wieder nach vorne wandte, kam Birkenmeyer auf ihn zu. Die Theaterbesucher folgten ihm, alles strebte dem Ausgang zu. Der Ausflug in den Park schien schon wieder vorbei zu sein. Arnold ärgerte sich ein wenig, dass er sich hatte ablenken lassen.
Jetzt hatte er den Anfang verpasst.
Er hielt Ausschau nach der Frau mit dem roten Schal. Sie stand am Rand und schaute weg, als er sie fixierte. Aber vielleicht bildete er sich das auch nur ein.
Er könnte sie fragen, was Birkenmeyer im Park erzählt hatte. Das wäre ein guter Ansatz, um sie anzusprechen.
„Ich habe leider alles verpasst wegen dem Gruftipärchen.“
Die Menge ging über den Vorplatz. Kies knirschte. Leises Gemurmel hing wie eine Wolke aus Worten über dem Pulk.
Vor dem Denkmal des Markgrafen Carl Friedrich am Ausgang des Schlossplatzes hielt Birkenmeyer an. Er stieg auf den Sockel der grünspanigen Figur und wandte sich ans Publikum: „Ich stehe hier unter der Statue des Enkels des Stadtgründers, den Napoleon zum Großherzog kürte.“
Birkenmeyer sah an ihm hoch.
„Carl Friedrich war Freimaurer, ebenso sein Großvater, Karl Wilhelm, der Karlsruhe im Jahr 1715 gründet hatte. Der Schlossturm ...“, er wies mit ausgestrecktem Arm nach vorne und alle wandten sich um, „der Schlossturm ist das Zentrum dieser Stadt, die einen europaweit, ja weltweit einmaligen Grundriss aufzuweisen hat. Zweiunddreißig Straßen und Wege gehen vom Turm aus in die Landschaft wie die Strahlen einer Sonne. Sie alle weisen auf Kirchen, Klöster und Heiligtümer in der Umgebung. Es sind Leylines, Drachenpfade, wie die Chinesen sagen. Sie führen dem Schlossturm und damit dem Herrscher über den Turm die Kraft dieser Plätze zu. Wir stehen hier direkt auf der stärksten Linie. Sie verbindet den Schlossturm mit dieser Statue, der Pyramide und dem Obelisken auf dem Rondellplatz.“
Alle schauten jetzt in Richtung Pyramide, die nachts ebenfalls angestrahlt wurde und matt im Dunkeln schimmerte.
„Pyramide und Obelisk, ägyptische Herrschaftssymbole in Karlsruhe“, sagte Birkenmeyer, während ein Windstoß die über seine Stirnglatze gekämmten Haare in die Luft wirbelte. Er strich sich über den Kopf, um sie wieder an die alte Stelle zu befördern.
„Über Deutschland, so eine Theorie, kann man ja ein Pentagramm legen“, fuhr Birkenmeyers Adlatus fort, der Regieassistent Ludo Fink, der neben ihn auf das Podest getreten war. Er war so schmächtig, dass er neben seinem Chef automatisch wie ein Lehrling wirkte, selbst wenn die Rollen vertauscht gewesen wären. „Die Eckpunkte dieses Pentagramms sind unter anderem die Karlsruher Pyramide und der Frankfurter Messeturm, der eigentlich ebenfalls ein Obelisk ist.“
Ein leicht belustigtes Raunen ging durch das Publikum. Fink hob die Hände, zur Stille gemahnend.
„Auch über Karlsruhe lässt sich solch ein Pentagramm legen. Die Eckpunkte sind dann die alte Dorfkirche in Eggenstein, der Bismarckstein in Ettlingen und Kirchen oder uralte heilige Stätten in den Orten Kleinsteinbach, Rastatt-Rheinau und Büchelberg in der Pfalz.“
Das Raunen nahm zu.
Fink wurde lauter: „Das Pentagramm – oder besser: das umgedrehte Pentagramm, also der Drudenfuß – gilt ja heute als Zeichen des Bösen. Es ist aber das Gegenteil. Es ist in Wirklichkeit ein Bannzeichen gegen das Böse. Nachzulesen schon bei Goethes Faust. Dort kann Mephisto nämlich Fausts Studierzimmer nicht mehr verlassen, weil ein Pentagramm auf der Tür zu sehen ist. ‚Das Pentagramma macht dir Pein?‘, fragt Faust den Mephisto.“
„Meine Damen und Herren!“, übernahm Birkenmeyer wieder. „All diese Phänomene sind belegbar, ja sie sind sogar offen sichtbar im Stadtbild – für den, der sehen kann und will. Nehmen Sie die Straßen des sogenannten Karlsruher Fächers. Sie bilden mit der Kaiserstraße, der zentralen Magistrale in Karlsruhe, ein gleichschenkliges Dreieck. Gleichzeitig führt um das Schloss herum – genauer: um den Schlossturm – ein Kreis, der wie mit einem Zirkel gezogen scheint. In weiten Teilen ist dieser Kreis bis heute eine Straße, die ‚Am Zirkel‘ heißt. Sie kennen sie alle. Noch heute kann man bei einem Blick auf den Stadtplan beides erkennen. Auf historischen Darstellungen Karlsruhes ist es auf den ersten Blick zu sehen. Es sind die zentralen geometrischen Formen der Anlage. Und jetzt frage ich Sie: Wessen Symbole sind denn Dreieck und Zirkel?“
Während Birkenmeyer anfing zu schwitzen und seine Rede mit ausholenden Gesten unterstrich, hörte ihm das Publikum aufmerksam zu.
Der Regisseur lächelte: „Die Freimaurer, meine Damen und Herren. Zirkel und Dreieck sind die Symbole der Freimaurer.“
Er blickte einmal rundum über die Menge und nickte befriedigt. Manch einer im Publikum blickte sich zum Schloss um, als sähe er es zum ersten Mal.
„Auch das Pentagramm spielt bei den Freimaurern keine ganz unwichtige Rolle. Denn die Vorläufer der Freimaurer waren ja die Bauhütten, die verantwortlich für den mittelalterlichen Kirchenbau, aber auch die Errichtung der Stadt Karlsruhe waren. Die Baumeister und die Handwerker, die zu den Hütten gehörten, hüteten eine Menge altes Wissen. Geheimwissen zum großen Teil, das sie nur an die jeweiligen Mitglieder ihrer Hütte weitergaben. Wissen, das bis in ägyptische Zeiten zurückreichte, manche behaupten, bis ins sagenhafte Atlantis. Dazu gehörte auch der Goldene Schnitt. Sie haben vielleicht schon davon gehört.“
Einige in der Menge nickten, jemand rief: „Leonardo da Vinci!“
„Richtig.“ Birkenmeyer kratzte sich am Kopf und strich sich dabei möglichst unauffällig über die Haare, um ihren Sitz zu prüfen. „Man findet ihn bei Leonardos berühmter menschlicher Proportionsstudie, die übrigens auf viel ältere Darstellungen zurückgeht. Ich will Sie jetzt nicht mit Mathematik langweilen, aber beim Goldenen Schnitt geht es, kurz gesagt, um ein bestimmtes Verhältnis, das zwei Streckenlängen zueinander haben. Dieses Verhältnis beträgt ungefähr 1 : 1,6 und wird mit dem griechischen Buchstaben Phi bezeichnet. Phi ist eine in vieler Hinsicht magische Zahl mit einer unendlichen Anzahl von Ziffern hinter dem Komma. Was darüber hinaus das Interessante daran ist: Man findet dieses Verhältnis in der Natur vielfach wieder, bei der Anordnung der Blätter von Pflanzen, bei der Außenhaut von Früchten wie der Ananas, ja sogar bei der Struktur von Galaxien.“
Birkenmeyer streckte theatralisch einen Arm in den Himmel. Nicht wenige Blicke folgten ihm, obwohl von hier aus, mitten in der hell erleuchteten Stadt, nur wenige Sterne zu erkennen waren. Arnold blickt auch kurz nach oben, dann wieder nach vorne und sah dabei den großen Schweißfleck unter der Achsel auf Birkenmeyers weißem Hemd.
Der nahm, als spürte er Arnolds Augen auf sich, den Arm schnell wieder nach unten.
„Auch in der Architektur, in der Malerei, ja sogar in der Musik findet man Strukturen nach dem Goldenen Schnitt. Man findet sie in der Königskammer der Cheops-Pyramide. Und im Pentagramm. In diesem fünfeckigen Stern lässt sich wirklich überall der Goldene Schnitt beobachten, jede einzelne Teilstrecke darin steht im Verhältnis der Zahl Phi zueinander. Und, meine Damen und Herren, wenn wir jetzt zusammen weitergehen ...“
Birkenmeyer beugte sich bei diesen Worten nach vorne, sodass sein Gesicht fast völlig verschattet wurde. Nur seine Augen wurden von einem der Bodenscheinwerfer beleuchtet.
Er hat das bestimmt vorher geprobt, dachte Arnold.
„ ... dann werden sie sich den Goldenen Schnitt im Stadtpan Karlsruhes sozusagen erlaufen. Denn alles hier auf dem Weg vom Schlossturm bis zum Ettlinger Tor steht im Verhältnis des Goldenen Schnitts zueinander. Zum Beispiel teilt die Kaiserstraße den Weg vom Schlossturm zum Obelisken am Rondellplatz direkt nach dem Goldenen Schnitt.“
Birkenmeyer richtete sich wieder auf.
„Das war Weinbrenners Werk. Das Werk Friedrich Weinbrenners, der diese sogenannte Via Triumphalis zwischen Schloss und Ettlinger Tor mit Pyramide, Obelisken, Rathaus und Stadtkirche geschaffen hat. Und, meine Damen und Herren, der Goldene Schnitt war durchaus auch zu Zeiten Weinbrenners, also Anfang des 19. Jahrhunderts, noch Geheimwissen. Das fand man in keinem der damals erhältlichen Lehrbücher. Aber ...“, er beugte sich wieder nach vorne, als wollte er dem Publikum flüsternd ein Geheimnis verraten, das nicht jeder hören sollte, „ ... auch damals waren die Freimaurer in unserer Stadt aktiv. Nicht wenige badische Honoratioren bis hin zum Markgrafen Carl Friedrich selbst hatten zuvor der geheimnisumrankten ägyptischen Loge des Grafen Cagliostro in Basel angehört.“
Birkenmeyer hob den Kopf und klatschte in die Hände. „Folgen Sie uns.“ Er stieg schwungvoll und mit wehender Jacke vom Sockel des Markgrafen herunter, der sich dies alles mit hatte anhören müssen, zur Stummheit verdammt. Die Menge folgte.
Während sie den sogenannten Platz der Grundrechte betraten, der aus Dutzenden Lampen, die im Boden eingelassen waren, beleuchtet wurde, diskutierten die Besucher leise miteinander. Der kleine Mann, der vorhin das Gruftipärchen über den Theaterabend aufgeklärt hatte, befand sich wieder an Arnolds Seite. Er schnaubte unwillig und murmelte vor sich hin.
„So kann man das doch nicht machen“, verstand Arnold.
Birkenmeyer drehte sich am Ende des Platzes noch einmal zur Menge um. „Wir stehen jetzt auf dem Platz der Grundrechte. Karlsruhe ist ja die Stadt des Rechts, hier befindet sich der Sitz der höchsten Gerichte Deutschlands. Wir lassen jetzt einmal außer Acht, warum das so gekommen ist. Stattdessen reden wir von Recht und Gerechtigkeit. Das sind ja zwei ganz verschiedene Dinge, wie jeder weiß, der schon einmal mit Gerichten zu tun hatte.“
Der Regisseur schmunzelte. Im Publikum gab es vereinzelte Zustimmung.
„Dem armen Kaspar Hauser jedenfalls ist weder Recht noch Gerechtigkeit widerfahren. Dort im Schloss wurde er vor beinahe zweihundert Jahren geboren als Sohn des Großherzogs Karl und seiner Frau Stéphanie de Beauharnais, der Adoptivtochter Kaiser Napoleons. Sie wurde auch ‚fille de France‘ genannt, die Tochter Frankreichs. Als ihr Sohn nur zweieinhalb Wochen nach seiner Geburt angeblich schwer erkrankte und dann rasch innerhalb weniger Stunden verstarb, ließ man sie nicht zu ihm. Auch die Amme hielt man fern vom Kind. Die beiden Personen, die dem Säugling am nächsten standen und ihm wohl am besten hätten beistehen können, durften nicht zu ihm. Warum? Weil es gar nicht Stéphanies Sohn war, der dort angeblich ganz überraschend so schwer krank wurde, obwohl er doch, als ihn die Amme am Vortag sah, noch ganz gesund war. Stattdessen lag in den markgräflichen Gemächern der kranke Sohn des Hofbediensteten Christoph Blochmann, Ernst mit Namen, den man mit dem Erbprinzen vertauscht hatte. Eine Intrige, eingefädelt von der Gräfin von Hochberg, der Stiefmutter des Großherzogs Karl und zweiten Ehefrau des verstorbenen Markgrafen Carl Friedrich: Sie wollte alle legitimen Nachfolger des Markgrafen zu Tode bringen, um ihre eigenen Söhne in die Erbfolge einzusetzen – was ihr letztlich ja auch gelang, wie wir alle wissen.“
Gemurmel hob an in der Menge.
„Ja, meine Damen und Herren, eine Intrige, eine sehr böse Intrige. Stéphanie und die Amme des kleinen Thronfolgers hätten den Schwindel mit dem vertauschten Kind natürlich sofort entdeckt, deshalb konnte man sie nicht zu dem sterbenden Säugling lassen. Eine Tragödie für die Mutter, sie sah ihren Sohn nie wieder. Nicht einmal seine Leiche, denn die gab es ja nicht. Stattdessen hatte man den Sohn Stéphanies, den rechtmäßigen Erben des badischen Thrones, längst an einen anderen Ort gebracht, nämlich zunächst einmal zur Familie Blochmann, als Austauschkind für deren in der Tat todkranken Säugling. Der Thronerbe tauchte erst 16 Jahre später in Nürnberg wieder auf und ist uns heute als Kaspar Hauser bekannt. Das Kind, das damals starb, liegt dagegen heute in der Schlosskirche Pforzheim begraben. Gehen Sie nur mal hin. Sie werden nicht hineinkommen, die Kirche ist fast immer verschlossen, obwohl sie mitten in Pforzheim liegt. Sie gehört bis heute dem Haus Baden und in deren Gruft kommt schon mal gar niemand hinein. Warum wohl? Eine DNA-Analyse des Kindes im Sarg würde sofort Klarheit schaffen, dass es nichts mit dem Haus Baden zu tun hat. Und warum erzähle ich Ihnen all das ...?“
Der Regisseur schaute wieder verschmitzt in die Menge.
„Recht und Gerechtigkeit. Der badische Erbprinz und der Gral. Was ist denn der Gral, frage ich Sie?“
„Halt, Einspruch.“
Ein älterer Mann löste sich auf einmal aus der Menge. Er hatte einen weißen Haarkranz und trug einen altmodischen Trenchcoat. „Das Kind, Kaspar, war nicht der badische Thronfolger. Es war nämlich gar nicht der Sohn Karls, sondern das Kind Napoleons und seiner Adoptivtochter Stéphanie.“
Der Regisseur neigte den Kopf.
„Aha. Interessant. Erzählen Sie uns, wie sie auf diese verwegene These kommen.“
Arnold reckte den Hals, um nichts von der Szene zu verpassen.
„Was heißt hier These?“ Der Mann schüttelte vehement den Kopf. „Das ist die Wahrheit. Stéphanie war ihrem Adoptivvater hörig, sie liebte ihn. Die beiden trafen sich immer im Gasthaus Laub in Berghausen, zehn Kilometer vor den Toren der Stadt. Dort zeugten sie auch Kaspar. Stéphanies Mann Karl war kalt wie ein Fisch. Dem lag nichts an Stéphanie. Die beiden haben sich nie vereinigt.“
„Haben Sie denn Beweise dafür?“
„Beweise, Beweise!“ Der Mann fuchtelte mit seinen Händen vor Birkenmeyer herum. Der blieb ganz ruhig.
„Gehen Sie doch mal nach Berghausen und fragen sie die Wirtsleute. Oder, wenn die nicht die Wahrheit verraten wollen, sprechen Sie mit ein paar alten Leuten im Dorf. Jeder dort weiß das.“
„Sie sind nicht zufällig auch aus Berghausen?“ Birkenmeyer lächelte süffisant.
„Ach!“ Der Mann winkte ab und entfernte sich wortlos. Arnold sah ihm nach, wie er unter den Arkaden in der Kaiserstraße verschwand.
Birkenmeyer klatschte wieder in die Hände. „So, jetzt sind wir ja alle schlauer. Weiter geht’s, meine Damen und Herren. Folgen Sie mir zur Pyramide.“
Und wie, dachte Arnold, war das nun mit der Verbindung zwischen Kaspar Hauser, dem Gral und Karlsruhe? Das schien Birkenmeyer nach dieser Unterbrechung ganz vergessen zu haben.
An der Kaiserstraße mussten sie kurz anhalten, um eine Straßenbahn passieren zu lassen. Dann ging es weiter zur Pyramide. Karlsruhes Haupteinkaufsstraße und der Marktplatz wirkten wie ausgestorben.
Vor dem Wahrzeichen Karlsruhes, unter dem der Stadtgründer begraben lag, hielt Birkenmeyer erneut an und wandte sich an sein Publikum: „Hier stehen wir vor dem größten Rätsel Karlsruhes: Warum wählt sich eine Stadt eine Pyramide als Denkmal an einer solch zentralen Stelle? Auch das gibt es in Europa nirgendwo. Warum liegt der Stadtgründer ausgerechnet unter einer Pyramide begraben? Welchen Sinn hat das?“
Auf einmal löste sich eine Frau mit roter Mähne und wallendem Umhang aus der Menge. Einer Megäre gleich stürzte sie auf Birkenmeyer los und drohte ihm zornentbrannt: „Rede nur weiter, Schamloser, Du! Erst Cagliostro, dann Kaspar Hauser und jetzt entweihst du auch noch das Grabmal. Aber wir kriegen euch alle!“
Birkenmeyer wich etwas zur Seite und hob abwehrend die Hände.
„Gute Frau ...“
„Wer die Toten stört, wird von ihnen besucht werden!“
Nach diesen Worten wandte sie sich an die Menge. Sie mochte um die fünfzig sein, vielleicht auch ein paar Jahre älter.
„Geht nach Hause“, forderte sie die Umstehenden auf, „Ihr habt genug gehört. Böse Dinge gehen hier in Karlsruhe vor, von deren Kräften ihr keine Ahnung habt. Geht nach Hause!“
Sie wedelte mit den Händen, als wollte sie Vögel verscheuchen, und verschwand dann ebenso rasch wie der Alte zuvor in Richtung des neu errichteten Volksbankgebäudes.
Einige im Publikum lachten nervös auf. Arnold, dem bei jedem Hollywood-Rührfilm gegen seinen Willen die Tränen kamen, spürte einen leichten Schauer auf dem Rücken.
Birkenmeyer dagegen fuhr scheinbar unbeeindruckt fort: „Nun gut. Sie haben es gehört. Wer gehen mag, soll gehen. Ich für meinen Teil möchte jetzt fortfahren. Die Aufklärung, meine Damen und Herren,“ der Regisseur straffte sich, „hat sich von ihren Gegnern noch nie aufhalten lassen. Und außerdem ...“, er grinste in die Runde, „wenn sie die Baustellen meint, hat sie ja recht.“
Erleichtert lachten die meisten Zuhörer auf. Niemand ging.
„Also“, fuhr er fort, „warum liegt der Stadtgründer Karl Wilhelm ausgerechnet unter einer Pyramide begraben? Ich kann es Ihnen erklären. Lassen Sie mich dazu ein wenig ausholen. Die badischen Markgrafen ließen sich nämlich über Jahrhunderte hinweg ohne ihre Organe begraben. Kommt Ihnen das bekannt vor?“
Er sah theatralisch in die Runde und schwenkte seine Taschenlampe dazu. Arnold kam auf einmal der Verdacht, dass auch die Frau zu diesem Abend gehörte. Dass sie womöglich eine Schauspielerin war. Der alte Mann, der behauptete, dass Kaspar Hauser ein Sohn Napoleons war, vielleicht auch. Das würde natürlich einiges erklären. Sicher, sie waren hier schließlich auf einem Theaterabend.
Arnold entspannte sich. Die Frau mit dem roten Schal stand kaum fünf Meter von ihm entfernt und tauschte einen leicht spöttischen Blick mit ihm, als dächte sie in diesem Moment dasselbe. Dann sah sie wieder nach vorne, ihre Aufmerksamkeit ganz auf den Regisseur gerichtet. Sie hatte hohe Wangenknochen und ein Gesicht mit weichen Formen. Sie strich sich das Haar aus der Stirn, ohne ihn weiter zu beachten, und setzte eine strenge Miene auf.
„Richtig“, sagte Birkenmeyer, „die alten Ägypter ließen sich so begraben. Um zur Mumie zu werden, mussten ihnen die Organe, die ja im Körper verfaulen konnten, entfernt werden. Und ihre Herrscher, die Pharaonen, wurden wo bestattet? In Pyramiden. Ein ägyptischer Bestattungsritus bei den Markgrafen? Oh ja, und es geht noch weiter.“ Birkenmeyer hob jetzt die Hände wie ein Prediger, Fink ließ die Taschenlampe kreisen. Das Ganze wirkte tatsächlich ein wenig unheimlich. Nicht schlecht gemacht, dachte Arnold amüsiert.
„Die Pharaonen ließen sich zwar ohne Organe begraben, doch zu den Grabbeigaben gehörte auch ihr Herz. Das wurde ihnen auf den Sarkophag gelegt oder mit hinein in den Sarkophag, denn für jeden Ägypter gab es ja noch das Totengericht. Bevor sie ins Totenreich kamen, musste sich jeder, auch die Pharaonen, vor Osiris rechtfertigen, dem Herrscher des Totenreiches. Das Totengericht befand sich in der Halle der Wahrheit.“