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Birkenmeyer hielt inne, weil eine Straßenbahn kreischend um die Kurve in Richtung Hauptbahnhof bog. Die Menge ließ sich nicht stören. Alles hing an den Lippen des dicken, schwitzenden Regisseurs, der sich wieder einmal über den Kopf strich und dabei beiläufig seine Haare in die rechte Form zu bringen versuchte.
Die Straßenbahn hielt hinter ihnen, ein paar Menschen kamen heraus und blieben stehen, um zu schauen, was vor der Pyramide im Gange war. Der Regisseur und sein Assistent waren inzwischen über die niedrige Kette gestiegen, die rings um die Pyramide verlief, um deren leicht ansteigenden Sockel als Bühne zu benutzen.
„In der Mitte der Halle der Wahrheit“, hob Birkenmeyer an, als die Straßenbahn endlich weitergefahren war, „stand die Seelenwaage. Auf der wurde das Herz des Toten gewogen. Wenn der Verstorbene sich durch genau vorgeschriebene Formeln aus dem Totenbuch von seinen Sünden freisprach, zeigte die Waage an, ob er die Wahrheit sagte. Neigte sich die Schale mit dem Herzen aber, so log er und es wurden ihm schreckliche Strafen auferlegt, Feuer und Folter, er wurde von einem Ungeheuer verschlungen und der Weg ins Totenreich war ihm für immer versperrt. Nur wer ein reines Herz hatte, ein Herz, leicht wie eine Feder, durfte das Reich des Osiris betreten.“
Birkenmeyer hielt kurz inne und sah bedeutungsvoll in die Zuschauermenge. „Und jetzt raten Sie, meine Damen und Herren, wo sich die Herzen der Markgrafen befinden?“ Er fixierte noch einmal sein Publikum. „Sie wurden ihnen in herzförmigen Urnen auf ihre Sarkophage gelegt, sodass auch die Markgrafen bei ihrer Reise ins Totenreich ihre Herzen dabeihatten – ganz genauso wie bei den Ägyptern.“
Ein ungläubiges Staunen ging durchs Publikum.
„Beweise“, rief jemand.
Birkenmeyer strahlte. „Wir können zwar die Pyramide nicht betreten – und selbst wenn, könnten wir es nicht sehen, denn die Grabkammer des Markgrafen ist ja zugemauert, wie wir heute wissen – angeblich.“ Er zwinkerte verschwörerisch. „Aber gehen Sie mal am Tag des Denkmals, der übrigens am kommenden Sonntag stattfindet, in die Grabkapelle der badischen Markgrafen im Hardtwald. In der dortigen Gruft im Keller der Kapelle können Sie den Beweis besichtigen. Die Herrschaften und ihre Gattinen haben alle herzförmige Urnen auf ihren Särgen, in denen ihre Herzen – oder das, was von ihnen übrig ist – aufbewahrt werden. Bei jeder Führung wird Ihnen bereitwillig bestätigt, was ich Ihnen gerade erzählt habe.“
Birkenmeyer machte wieder eine Pause und ließ seine Worte wirken.
„Übrigens“, fuhr er dann fort, „um noch einmal zu den Geheimgesellschaften zu kommen, die diese Stadt gegründet haben: Thomas Jefferson, der spätere Präsident der USA, besuchte im Jahr 1788 Karlsruhe und schuf die Hauptstadt Washington nach dem Vorbild des Karlsruher Stadtgrundrisses. Und sehen Sie sich mal die Dollarnote an.“
Er zog tatsächlich eine aus seiner Tasche, sein Assistent hielt auf einmal ein DIN-A4-Blatt mit einer vergrößerten Kopie eines Dollarscheines in der Hand und schwenkte sie, beleuchtet von seiner Taschenlampe, von rechts nach links, sodass jeder sie sehen konnte.
„Eine solche Pyramide haben wir ja auch hier vor uns. Sie ist übrigens auch ein Illuminatensymbol. Und Jefferson war ebenfalls ein Freimaurer. Dito George Washington.“
Er schmunzelte und stieg schwungvoll vom Sockel der Pyramide herab.
„Weiter geht’s!“
Doch nach ein paar Metern stoppte er schon wieder.
„Schauen Sie sich noch einmal um in Richtung Schloss.“
Die Menge folgte ihm, als sei er ihr Dompteur.
„Wenn wir von sogenannten Geheimgesellschaften reden ... Ich sage Ihnen, die sind noch heute in Karlsruhe aktiv.“ Er winkte die Gesellschaft eng zu sich heran und senkte die Stimme, als ginge es jetzt um etwas besonders Geheimnisvolles oder gar Gefährliches. „Sehen Sie links das ‚m‘ des Hotels am Markt? Rechts prangte ein großes ‚V‘ am alten Volksbankgebäude. Am neuen ist es, warum auch immer, nicht mehr zu sehen. Zwei hervorstechende Embleme, die das Schloss bis vor wenigen Jahren einrahmten. Und wo finden wir diese beiden Buchstaben wieder?“
Er leuchtete die Gesichter der Umstehenden an, auch das von Arnold, der nah an ihn herangetreten war, um alles zu verstehen. Birkenmeyer beugte sich nach vorn und raunte: „Der berühmte und sagenumwobene MI 5, der britische Geheimdienst, führt die beiden Buchstaben M und V in seinem Wappen.“
Er richtete sich wieder auf. „Oh ja, meine Damen und Herren“, sprach er mit nun dröhnender Stimme. „Seien Sie vorsichtig, in Karlsruhe, da hatte die seltsame Dame vorhin gar nicht unrecht, ist bis heute so einiges im Gange, an dem man besser nicht rühren sollte.“
„Humbug“, sprach ihn da jemand von der Seite an. „Das ist doch Humbug, was Sie da erzählen.“ Es war der kleine Mann mit dem wirren Haar, der Arnold schon zu Beginn der Veranstaltung aufgefallen war. Ob er etwa auch zu den Schauspielern gehörte?
„Sie vermischen durchaus Ernsthaftes und Wahres mit völligem Blödsinn. Sie treiben hier Klamauk, das ist der Sache nicht angemessen. Das Geheimnis, um das es hier geht, ist viel größer, als Sie überhaupt ermessen können. Sie wissen gar nicht, was Sie tun, also lassen Sie es besser sein.“
Birkenmeyer lächelte, als sei er geradezu erfreut über den Protest.
„Guter Mann!“
Er hob beschwichtigend die Hände.
„Ach was!“
Der Mann wirkte wirklich zornig.
„Es ist wie immer: Halbwissen zu verbreiten ist viel schlimmer, als gar nichts zu wissen.“
„Aber Sie wissen wirklich Bescheid?“, fragte Birkenmeyer.
„Ja, allerdings“, antwortete der Mann.
Es sah aus, als wollte er noch etwas hinzufügen, doch dann schüttelte er den Kopf und entfernte sich. Birkenmeyer lächelte, sah aber gleichzeitig ein wenig unsicher aus.
Lukas Arnold folgte kurz entschlossen dem Mann, der schnellen Schrittes von der Menge weglief.
„Warten Sie!“
„Was?“ Der Mann drehte sich unwirsch um.
„Warten Sie bitte.“
Vor dem Eckhaus, in dem das Modehaus Schöpf untergebracht war, holte er ihn ein.
„Was meinten Sie damit, Sie wüssten wirklich Bescheid?“
Der Mann war schmal, trug ein Cordsakko und ein kariertes Hemd. Er sah aus wie jemand, der nicht übermäßig Wert auf sein Äußeres legte, doch wirkten seine Kleidungsstücke nicht unbedingt billig.
„Warum interessiert Sie das?“
Er zwinkerte mit den Augen.
„Sie gehören aber nicht zum Stück?“, fragte Arnold vorsichtshalber.
„Wie bitte?“ Der Mann wollte sich schon wieder abwenden.
„Entschuldigung. Ein Vorfahr von mir war ein wenig in die Stadtgründung involviert. Das ist auch der Grund, warum ich heute zu der Veranstaltung gekommen bin. Alles, was mit der Stadtgründung zusammenhängt, interessiert mich.“
„Wie ist Ihr Name?“
„Lukas Arnold.“
Irrte sich Arnold oder zuckte der andere wirklich kurz zusammen, als er seinen Namen nannte?
Der Mann reichte ihm die Hand.
„Klaus Peter Händler.“
Arnold war nicht groß, knapp 1,80 Meter, aber er konnte Händler auf den Kopf gucken.
„Ich bin kein gebürtiger Karlsruher, ich stamme aus Bremen. Aber ich lebe seit zwanzig Jahren hier und beschäftige mich schon lange und intensiv mit der Stadtgeschichte.“
„Machen Sie das beruflich?“
„Nein. Ich bin Chemiker und arbeite am hiesigen Forschungszentrum, neuerdings KIT genannt.“
Händler sprach die drei Buchstaben englisch aus und übertrieb die Betonung ein wenig. Er zeigte ein schmallippiges Lächeln, das eher einem Verziehen der Mundwinkel glich.
„Sie können jedoch gewiss sein, ich habe mich der Stadtgeschichte mit der gleichen wissenschaftlichen Vorgehensweise genähert, die ich von meinem Beruf gewöhnt bin. Ganz im Gegensatz zu den Herren da.“
Er wies auf die Theatergesellschaft, die sich jetzt am Brunnen vor dem Rathaus versammelt hatte.
„Sagt Ihnen der Name Richtenfels etwas?“
Händler sah Arnold an.
Der verzog das Gesicht, als dächte er nach.
„Ja, irgendwie schon. Wer war das nochmal?“
„Johann Georg Förderer Edler von Richtenfels ist eine bedeutende Figur der Stadtgeschichte, wird aber beinahe totgeschwiegen. Er war ein Alchemist und Naturwissenschaftler, ist viel gereist, bis in die Türkei und wohl sogar nach Ägypten, war ein Freund des Markgrafen Karl Wilhelm und hat ihm wahrscheinlich den Gedanken der Stadtgründung wie auch den Grundriss dieser Stadt eingegeben. Kurz: All das hier ...“ Händler machte eine weit ausladende Geste mit den Armen, fast wie vorher Birkenmeyer, „ ... geht auf Richtenfels zurück. Seine Herkunft liegt im Dunkeln, sein Ende ebenso. Aber ich bin ihm auf der Spur.“
Arnold nickte.
„Ja, ich erinnere mich vage.“
Händler nickte ebenfalls. „Herr Arnold, wir müssen uns unterhalten, aber nicht hier. Ich kann Ihnen viel erzählen, auch über Ihre Familie, die beileibe nicht nur in die Stadtgründung involviert war. Das müsste Ihnen doch bekannt sein, oder?“
Arnold bejahte es.
„Kommen Sie zu mir nach Hause. Freitagabend, wäre Ihnen das recht?“
Der Stadtforscher griff in die Innentasche seines Jacketts und holte ein Portemonnaie hervor, aus dem er eine Visitenkarte zog.
„Hier ist meine Adresse. Ich wohne in Grötzingen, im alten Ortskern. Passt Ihnen 20 Uhr?“
„Ja.“
Tag und Zeit waren Arnold mehr oder weniger egal. Er hatte nicht viel zu tun in Karlsruhe.
Die beiden Männer gaben sich die Hand und Händler strebte zügig davon, die Kaiserstraße hinunter in Richtung Kronenplatz. Arnold ging zurück zu der Gruppe um Birkenmeyer, die jetzt schon auf dem Weg zum Obelisken war. Die Menge hatte sich auf dem Bürgersteig vor dem Hotel Kaiserhof zu einer langen Schlange auseinandergezogen. Wieder meinte Arnold, ein Klicken wahrzunehmen, das jetzt sogar etwas stärker schien. Aber sie liefen ja nun auch auf Pflastersteinen. Trotzdem, ein seltsames Geräusch.
Er blickte auf die Uhr am Rathausturm. Schon zwanzig vor elf. Mehr als anderthalb Stunden waren seit Beginn der Veranstaltung vergangen.
Rund um den Obelisken sammelte man sich wieder. Das Monument, zu Ehren der badischen Verfassung in den 1820er-Jahren errichtet, wurde ebenfalls bei Nacht angestrahlt. Zwei grimmige Greife, die den Sockel auf beiden Seiten flankierten, schienen den Obelisk zu bewachen. Der Greif, ein Fabelwesen aus der Antike, halb Löwe und halb Adler, war seit jeher das Wappentier der badischen Markgrafen wie auch des heutigen Bundeslandes Baden-Württemberg.
„Ein Obelisk stellte – genauso wie eine Pyramide – im alten Ägypten die zu Stein gewordenen Strahlen der Sonne dar“, erzählte Birkenmeyer. „Er galt als Verbindung zwischen der irdischen Welt und der Götterwelt. Ein Tor zum Himmel, wenn Sie so wollen.“
Arnold hatte auf einmal keine Lust mehr, dem Regisseur noch weiter zuzuhören. Er ließ seinen Blick über die Gruppe schweifen, aber auch die Frau mit dem roten Schal war nirgendwo mehr zu entdecken. Er zuckte die Achseln und machte sich nachdenklich in Richtung Theater und Südstadt davon.
II.
Aus dem Tagebuch des Johann Christoph Arnold
17. Juni 1715
Heute wurde der Grundstein für die neue Residenz unseres Markgrafen im Hardtwald gelegt. Ich lernte dabei auch den Cammer-Procurator Richtenfels kennen, als dessen Assistent ich ab sofort abkommandiert bin. Ein seltsamer Mensch. An Bewunderern wie an Feinden scheint er keinen Mangel zu leiden. Was das wohl werden wird?
Aber der Reihe nach.
Es war ein garstiger Tag, Regen fiel schon vom Morgen an. In der Früh tagten sämtliche Hofgremien, auch das Geheime Kabinett, dessen Sitzung kein Ende nehmen wollte. Ich wartete mit den anderen Zimmermannsgesellen, Heinrich Batzler und Carl Adam, in der Hofzimmerei in Durlach. Wir hatten nicht viel zu tun, unser Meister, mein Herr Vater, war auswärts. Er hatte uns aufgetragen, aufzuräumen und sauber zu machen, was wir mehr oder weniger lustlos taten. Gegen Mittag saßen wir nur noch herum und verzehrten unser Vesper. Am frühen Nachmittag kam dann der Baumeister Schwartz an und forderte uns in seinem näselnden Hamburgerisch auf, sofort zur Baustelle in den Hardtwald aufzubrechen. Die Zeremonie der Grundsteinlegung finde in einer Stunde statt. Wir sollten uns beeilen. Keinesfalls dürfe auch nur eine Person nach dem Markgrafen erscheinen.
Das war wieder typisch: Erst vergaß man uns fast, aber dann auf einmal sollten wir uns eilen, um irgendwo anwesend zu sein, wo uns wieder keiner brauchte und beachtete, es sei denn, wir wären nicht dort.
Doch Schwartz war noch nicht fertig. Zu meiner Überraschung nahm er mich am Arm und zog mich von den anderen fort.
„Ihr, junger Bursche, werdet unserem Cammer-Procurator, dem Förderer von Richtenfels, ab sofort zur Hand gehen. Er hat nach Euch verlangt, weil er Kunde von Eurem außerordentlichen Zeichentalent erlangt hat. Das ist die Chance, auf die Ihr doch gewartet habt, Arnold, oder?“
Schwartz sah mich abschätzig an.
„Ihr wollt doch auch einmal Baumeister werden, nicht wahr? Nun zeigt dem Herrn Cammer-Procurator, was Ihr könnt. Er wird mit Euch wohl nicht weniger gestreng als mit den Herren Geheimen Räten umgehen.“
Er lächelte böse und entließ mich mit einem barschen Wink.
Mir ist bekannt, was sie bei Hofe reden: „Der Sohn des Hofzimmermeisters will Baumeister werden. Ridicule!“
Aber ich weiß, daß ich mehr Talent als die Assistenten des Baumeisters Schwartz habe. Und es wird ja wohl nicht von ungefähr kommen, daß der Markgraf sämtliche Planungen an der neuen Residenz dem neuen Cammer-Procurator überlassen hat und nicht dem Baumeister Schwartz und dem Ingenieur von Bazendorff. Und Richtenfels bestellt mich als seinen Assistenten. Ich kann nicht verleugnen, daß das mein Herz höher schlagen ließ.
Heinrich schlug mir von hinten derb auf die Schulter, so daß ich zusammenzuckte.
„Na, demnächst wirst du wohl kein Bier mehr mit uns trinken gehen, Euer Hochwohlgeboren.“
Er feixte.
„Hör doch auf“, gab ich zurück.
Im Hardtwald haben die fremden Arbeiter schon eine große Lichtung gerodet, wo die Residenz entstehen soll. Wir Handwerker vom Hofe haben ja nicht viel zu tun dabei. Als Richtenfels dem Markgrafen seine Pläne vorgelegt und der sie genehmigt hatte, erschien schon wenige Wochen darauf ein ganzer Troß von Bauhandwerkern aus dem fernen Südosten. Manche sagen sogar, es seien in der Mehrheit Osmanen. Auch einige Neger sind dabei, Ägypter, heißt es, die Kulten anhängen, die ebenso dunkel wie ihre Hautfarbe sind, und noch mehr Fremde.
Richtenfels ist wohl auch in diesen Ländern gewesen. Unser Landesvater, so wird gemunkelt, ebenso. Und daß die beiden sich dort kennengelernt hätten, ja daß sie sogar entfernt miteinander verwandt seien und deshalb der Markgraf dem Cammer-Procurator alle Amtsgeschäfte anvertraut habe.
„All unsere Berichte müssen wir ihm vorlegen“, habe ich den Geheimrat Stadelmann letzte Woche im Pferdestall mit einer Stimme voller Haß zum Hofkammerrat Müller sagen hören. „Und er versieht sie dann mit Kommentaren, bevor er sie dem Markgrafen vorlegt.“
Müller ließ nur ein verächtliches Schnauben hören. Vielleicht war das aber auch eins der Pferde gewesen. Ich konnte es ja nicht sehen, weil ich nebenan im Alkoven kauerte, wo die Sättel und das Zaumzeug aufbewahrt werden. Schweiß rann mir übers Gesicht und unter dem Hemd den Rücken hinab. Draußen war ein heißer Sommertag und hier drinnen war die Luft schwül und stickig. Fliegen plagten mich. Dicke Bremsen setzten sich auf meinen Kopf, gierig nach meinem Blut. Widerlich! Außerdem sind ihre Stiche höchst schmerzhaft. Ich wedelte in einem fort mit den Händen, um sie zu verscheuchen, und mußte dabei doch aufpassen, keinen Lärm zu machen.
Hoffentlich, so dachte ich, kommen die beiden Herren nicht herein. Ich hatte schon zu viel mit angehört, um jetzt noch so ohne weiteres vor ihnen auftauchen zu können. Und einen anderen Ausgang als den durch den Stall gab es nicht.
„Mein Schreiber hat zwischen zwei Absätzen einen schwungvollen Federstrich eingefügt, wie er es immer macht“, sagte Stadelmann. „Und wißt Ihr, was Richtenfels dazu an den Rand geschrieben hat?“
Der Hofkammerrat schwieg.
„Wozu dient diese unbestellte Kunst-Mahlerey?“ Stadelmann wurde laut. „Das muß man sich einmal vorstellen. Unbestellte Kunst-Mahlerey. So eine Frechheit! Was bildet sich dieser Mensch nur ein?“
„Aber was sollen wir tun?“, antwortete Müller jetzt endlich in einem raunenden Ton, als wollte er Stadelmann anhalten, ebenfalls etwas leiser zu sprechen. „Der Markgraf vertraut ihm völlig. Er hat ihm ja nicht nur alle finanziellen Angelegenheiten in die Hände gegeben. Auch die Idee zu dieser unseligen Residenz hat ihm erst der Cammer-Procurator eingegeben. Was glauben Sie, Stadelmann, was die Markgräfin dazu sagt?“
„Der wird es doch egal sein, wo Carl Wilhelm sich mit seinen Tänzerinnen amüsiert. Ob in einem Jagdschloß im Hardtwald oder in einer neuen Residenz.“
Der Geheimrat lachte anzüglich.
„Sie wird nicht dorthin mitgehen“, sagte Müller.
„Ich weiß“, erwiderte Stadelmann. „Und was das Ganze kosten wird! Wir müssen ihn stoppen.“
„Wen, den Markgrafen?“
„Nein, Richtenfels natürlich!“, gab Stadelmann unwirsch zurück.
„Aber wie?“
„Ich bin schon dabei, mir mit den Herren von Loewencron und von Bazendorff etwas auszudenken. Der gute Herr Cammer-Procurator wird sich noch umschauen. Ich bin sicher, am Ende wird man ihn mit Schimpf und Schande davonjagen.“
Darauf trennten sich die beiden, während ich die Luft anhielt, bis ihre Schritte auf dem Pflaster draußen verklangen.
Jetzt, eine Woche später, stand ich also im Hardtwald, die erwähnten hohen Herren und noch ein paar mehr waren ebenfalls anwesend, und hielten Ausschau nach dem Markgrafen. Natürlich ließ er wie immer auf sich warten, während der Regen meinen Rock aufweichte und durch die Schuhe drang. Die Geheimräte fluchten leise. Der Boden war schlickig, Dreck spritzte bei jedem Schritt an die Strümpfe. Das Fuhrwerk der Hofzimmerei, mit dem wir hierhergefahren waren, war mehrmals bedrohlich im Schlamm versunken, so daß wir schon dachten, wir würden es doch nicht rechtzeitig zur Zeremonie schaffen.
Richtenfels war ebenfalls noch nicht anwesend. Ich hatte ihn bisher noch nicht persönlich kennengelernt, nur ein paar Mal aus der Entfernung gesehen. Ein großgewachsener, schlanker Mann mit langen, ergrauten Haaren. Er schien selten eine Perücke zu tragen, ganz im Gegensatz zu den Geheimräten, die sie sogar im Hochsommer aufsetzten, manche, um zu verbergen, daß es mit der Fülle ihrer Haarpracht nicht mehr weit her war.
Wahrscheinlich würde der Cammer-Procurator mit dem Markgrafen kommen. Die fremdländischen Handwerker hatten sich in die rohen Holzhütten geflüchtet, die sie sich am Rande der Lichtung gezimmert hatten. Einzig die Bauhütte, in der Richtenfels über seinen Plänen brütete, war ein etwas größerer und sorgfältiger erstellter Bau mit Satteldach.
Ob dort von nun an auch mein Arbeitsplatz sein würde?
Die Hofkapelle, die in kleiner Besetzung anwesend war, begann auf einmal einen Marsch zu spielen. Dann rollte die Kutsche des Markgrafen auch schon heran. Der Wagenschlag wurde geöffnet. Zuerst sprang Richtenfels heraus, auch heute wieder ohne Perücke, dafür mit einem goldbetreßten, reich verzierten Rock angetan. Er hielt dem Markgrafen den Schlag auf, der weit bedächtiger die Kutsche verließ und einen Moment zu zögern schien, bevor er seine Schnallenschuhe in den Schlamm setzte. Die Hofräte raunten. Trotz des schlechten Wetters hatte er zur Grundsteinlegung seinen Hermelin angelegt, der eigentlich nur zu Krönungen oder anderen hochrangigen Zeremonien hervorgeholt wird.
Es hatte ein paar Minuten zuvor wie auf Bestellung aufgehört zu regnen, der Himmel blieb aber verhangen. Die fremdländischen Handwerker kamen aus ihren Hütten und scharten sich in respektvollem Abstand um den Platz, an dem der Grundstein versenkt werden sollte. Eine kleine Grube war bereits ausgehoben.
Neben dem Markgrafen und Richtenfels, die ganz vertraut miteinander schienen, fast wie zwei Gleichrangige, hatten der Leiter des herrschaftlichen Bauwesens, der Cammerjunker Franz Adolph Büchelle von Loewencron, dazu der fürstliche Oberstallmeister Löw von Loewencranz, der Hauptmann Drais von Sauerbronn und andere hohe Herren Aufstellung genommen.
Ein Kadett des Baden-Durlachischen Regiments hob einen Metallkasten vom Kutschbock und brachte ihn in die Mitte. Dann trat zu meiner Überraschung auf einmal der Prorektor des Durlacher Gymnasiums vor, der Herr Johann Caspar Malsch, und holte unter seinem Rock ein Stück Papier hervor, das er auseinanderfaltete.
Ich kann den Herrn Malsch nicht leiden. Er ist ein eitles, kleines Männlein. Als Schüler hatte ich unter ihm leiden müssen. Einmal war ich vor der Schule in einen Raufhändel mit dem Sohn eines Kammerherrn verwickelt und kam mit am Knie aufgerissener Hose und dreckigem Hosenboden in den Unterricht. Was sollte ich tun? Noch schlimmer wäre es gewesen, erst nach Hause zu rennen und um eine neue Hose zu bitten, um dann zu spät zum Unterricht zu kommen. Da hätte ich zweimal Dresche bezogen, erst zu Hause und dann in der Schule.
Ich versuchte, den Zustand meiner Hose unter der Bank zu verbergen, aber der Prorektor hatte mich wohl schon zuvor gesehen, als ich das Gebäude betrat. Er zog mich am Ohr aus der Bank und vor den Katheder, wo er mich vor versammelter Klasse lächerlich machte: „So, der Herr Arnold. Tut immer so intelligent, kann aber anscheinend nicht einmal den Inhalt seines Gedärms bei sich behalten. Guckt mal seinen braunen Hosenboden an.“
Er drehte mich mit dem Rücken zur Klasse und alles lachte. Am lautesten brüllte Wieland Müller, der Sohn des Hofkammerrates, mit dem ich mich vorher geprügelt hatte.
„Und zerrissen ist seine Hose auch.“
Malsch drehte mich wieder nach vorne.
„Bist du so ein Lump? Dann solltest du dich auch zum Lumpenpack gesellen, aber in unseren ehrwürdigen Mauern hast du mit solch einer Hose nichts zu suchen.“
Er gab mir eine Kopfnuß und forderte mich dann auf, mich wieder hinzusetzen. Ich könne von Glück sagen, daß er heute milde gestimmt sei, sonst hätte ich den Rest des Vormittages im Karzer verbracht.
Jetzt las der Herr Prorektor, dem ich zum Glück inzwischen entkommen war, ein offensichtlich selbst verfaßtes Gedicht vor, allerdings auf Latein, darin war ich nicht so gut. Ich verstand nur ein paar Bruchstücke, es ging um den Stein und den Turm, der auf ihm errichtet werden soll, und daß beides Jahrhunderte überdauern und immer stärker werden möge. Dann ging es noch um die Sonne und ihre Kraft oder irgendeine Kraft, die damit verbunden war. Es hörte sich wie der übliche Stuß an, den Malsch auch gegenüber uns regelmäßig äußerte, weswegen ich in seinem Unterricht oft weghörte und als Folge davon jetzt eben in Latein nicht besonders gut war. Aber was brauche ich das Latein schon zum Bauen von Häusern und Schlössern?
Als der Prorektor geendet hatte, wurde der Grundstein, ein ausgehöhltes, steinernes Gefäß, in die Grube hineingelassen. Soweit ich erkennen konnte, kamen eine Flasche Wein, ein Porträtbild des Markgrafen, das Gedicht selbst und ein paar Münzen hinein. Dann zog Richtenfels aus der Kiste, die der Kadett zuvor von der markgräflichen Kutsche gehoben hatte, eine rautenförmige Metallplatte hervor. Ihre Seiten waren mehr als eine halbe Elle lang und sie blinkte, als sei sie aus purem Gold. Auf der Oberfläche schien eine Art stilisierte Sonne eingeprägt zu sein.
Ein Raunen ging durch die Menge. Der Markgraf sah der ganzen Szene höchst interessiert zu. Richtenfels legte die Platte in den Grundstein und verschloß ihn dann.
„Was war das?“, fragte der Baumeister Schwartz seinen Kollegen, den Herrn von Bazendorff.
Der zuckte unwirsch die Schultern.
„Habt Ihr gesehen, was darauf eingeritzt war?“, fragte Stadelmann die beiden, während er sich zu ihnen umwandte.
„Nein“, sagte Bazendorff.
„Sah aus wie der Plan, der uns heute in der Kabinettssitzung als des Herrn Richtenfels’ Plan für die neue Residenz vorgestellt wurde.“
Der Markgraf hob jetzt den Kopf und spähte in Richtung der schwatzenden Räte. Sie schwiegen sofort. Carl Wilhelm sah schlecht aus, er hatte tiefe Schatten unter den Augen und wirkte müde. Schon lange ging das Gerücht um, daß ihm sein ausschweifender Lebensstil zusetzte und ihn vor der Zeit altern ließ.