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Lisette und Werner erzählten, sofern Gelegenheit dazu war, ihrer Herrin gerne wieder, was sie gehört hatten, und Helene errötete innerlich über das seltsame Vergnügen, das sie dabei genoss, ihnen zuzuhören; denn Zerstreuung war ihr während der Abwesenheit ihres Mannes sehr nötig, und ganz gleich, welchen Gegenstand man vor ihr zur Sprache brachte: sie zog das albernste Geschwätz immer noch der Einsamkeit vor.
Schon war der Oberst seit mehr als einer Woche nicht mehr im Schloss, als Lisette eines Abends mit so wichtiger Miene ins Zimmer trat, dass Helene nicht daran zweifeln konnte, gleich eine außerordentliche Neuigkeit mitgeteilt zu bekommen. Sie irrte sich nicht; sobald das gute Mädchen sich bei der Lampe niedergesetzt hatte, die ihr zu ihrer Abendarbeit leuchtete, fing sie zu erzählen an:
»Von nun an, Frau Oberstin, werden wir nicht mehr so ganz allein in dieser Gegend sein; das Land hier wird immer mehr bevölkert, die Anzahl der Fremden vermehrt sich; und wenn das so weiter geht, wird man bald, wie man im Dorf sagt, montags einen Markt auf unserm Schlossplatz abhalten können.«
»Ja, mein Gott«, antwortete Helene erstaunt, »wer sind denn die zahlreichen Leute, die sich in der Gemeinde angesiedelt haben?«
»Um die Wahrheit zu sagen, Frau Oberstin, sind es noch nicht wirklich viele, aber das wird noch kommen. Fürs Erste ist es nur ihre Familie und dann eine Dame, deren Geschichte und Herkunft man noch nicht kennt, und die das kleine Haus dort unten im Tal, mitten im Wald, gekauft hat.«
»Da hat sie sich aber eine sehr einsame Wohnung gewählt, und entweder muss sie viel Mut besitzen oder ein großes Gefolge bei sich haben, wenn sie ohne Furcht in diesem Haus bleiben kann.«
»Dieser Meinung ist auch das ganze Dorf, und dennoch ist sie ganz allein; denn ihr alter Bedienter kann hier gar nicht mitgezählt werden, weil er so abgelebt, so bleich und hinfällig aussieht, dass er weniger einem lebendigen Menschen als eher einem Bewohner der anderen Welt gleicht. Was die Dame betrifft, so sagt man, dass sie schön sei, obgleich ihre Miene etwas ganz Außerordentliches haben soll. Ich kann übrigens nichts Näheres darüber sagen, weil ich sie noch nicht gesehen habe; doch ich müsste schon sehr krank sein, sollte ich am nächsten Sonntag in der Kirche fehlen. Die Dame wird doch ohne Zweifel dort sein, und dann will ich sie genau betrachten, damit ich ihnen einen gründlichen Bericht abstatten kann, falls es ihnen selbst nicht möglich sein sollte, sie mit eigenen Augen zu sehen.«
»Ich bezweifle nicht, Lisette, dass du sie dir genau ansehen wirst; aber was erzählt man sich denn im Dorf von ihr? Weiß man, aus welchem Grund sie sich gerade jetzt, wo es schon auf den Winter zugeht, eine so wenig angenehme Wohnung genommen hat? Ist sie aus Prag? Ist sie Witwe oder unverheiratet?«
»Man hat all diese Fragen schon ihrem Bedienten gestellt, ohne auch nur die kleinste Antwort darauf zu bekommen; denn dieser Bediente soll ein mürrischer und äußerst grober Mensch sein. Seine Antworten sind: ja, nein, vielleicht: das geht euch nichts an; was er kauft, bezahlt er, ohne dabei irgendetwas zu sagen, und wenn er fertig ist, entfernt er sich auch sogleich wieder. So viel scheint jedoch schon sicher zu sein, dass diese Leute keine Deutschen sind; denn sie haben eine ganz seltsame Aussprache und bedienen sich untereinander fremder, unverständlicher Worte.«
»Ist diese Dame denn schon länger hier?«, fragte Helene, in der bereits die Hoffnung keimte, dass ihr die Fremde eine Gesellschafterin sein könnte, mit der zugleich einige Abwechslung in ihr einfaches, gleichförmiges Leben käme.
»Sie ist an demselben Tag hier angekommen, an dem der Herr Oberst abreiste. Anfangs stieg sie bei dem Schäfer Paul ab und fragte ihn, ob nicht in der Nähe irgendein Haus zu mieten oder zu kaufen sei. Paul erwiderte, dass die Gebrüder Gierschmann das kleine Haus im Wald verkaufen wollten; sie ließ sie sogleich herbeiholen, handelte mit ihnen den Preis aus und schlief schon in derselben Nacht in ihrem neuen Zuhause. Paul und die beiden Gierschmanns haben aus diesem Verkauf anfangs ein Geheimnis gemacht, wahrscheinlich, weil sie der armen Dame eine übermäßig hohe Summe für das Haus abgenommen haben. Aber am Ende kommt doch alles heraus: Die Geschichte wurde bekannt, und ich bin nicht die Letzte, die sie erfahren hat. Vor einer Stunde habe ich sie von der Frau des Nachtwächters gehört, und ich würde gegen meine Pflicht gehandelt haben, wenn ich ihnen nicht sogleich alles erzählt hätte.«
Helene dankte Lisette durch eine Verneigung des Kopfes für ihren guten Willen und nahm sich vor, so bald wie möglich Bekanntschaft mit der fremden Dame zu machen.
Während dieses langen Gesprächs schwieg Werner, der ebenfalls zugegen war, und schüttelte nur von Zeit zu Zeit den Kopf. Diese Bewegung und sein Stillschweigen fielen der Oberstin auf und daher fragte sie ihn, ob er Misstrauen gegen die unbekannte Dame hege.
»Nun ja«, erwiderte Werner, »ich sehe nicht gerade etwas Gutes darin, das sie in dieser Gegend erschienen ist. Eine junge Frau, die auch hübsch sein soll, wie man sagt, kommt mit einem einzigen Bedienten hierher, um sich in ein abgelegenes Haus einzuschließen: Sollte das nicht zu denken geben? Hat sie einen Mann? Wo ist ihre Familie? Könnte sie vielleicht eine Abenteurerin sein? Ich habe ehemals genug von diesen geheimnisvollen Prinzessinnen bei unseren Offizieren gesehen, die anfangs alle Blicke scheuten und sich unnahbar verhielten, bis sie irgendeinen Fang gemacht hatten. Dann erschienen sie am helllichten Tage und zeigten ihre Reize, ihre Pracht und ihr schlechtes Benehmen; hatten sie nun die Frucht gänzlich ausgesogen, verschwanden sie plötzlich wie die Irrwische, die wir oft dort unten auf dem Morast erblicken.«
»Ich kann mir vorstellen«, antwortete Helene, »dass man solche unglücklichen Geschöpfe in einer großen Stadt antrifft, die, um einen desto besseren Handel mit ihren Reizen zu machen, die Neugierde durch das Dunkel anzufachen versuchen, mit dem sie sich umhüllen; aber hier in R…, mein guter Werner, was sollte eine solche Person hier suchen? Wo ist hier der reiche Junggeselle, den sie verführen könnte? Ich kenne in der ganzen Gegend nur Familien, die in der vollkommensten Eintracht leben und zudem in Kürze das Land bis zum künftigen Sommer verlassen werden. Kann es nicht vielmehr sein, dass diese Dame Schicksalsschläge erlitten hat? Oder schämt sie sich vielleicht, in der Welt auf einem niedrigeren Fuße zu leben, als ihr früher ihrem Rang nach zukam? Und wird wohl eine heutige Sirene mitten im Wald, fern von jeder Straße ihren Aufenthalt wählen? Wird sie sich nicht vielmehr den Orten nähern, die häufig von Reisenden besucht werden? Nein, mein lieber Werner, dein Verdacht ist ungerecht; man sollte von seinem Nächsten nichts Übles denken, solange keine triftigen Gründe dazu vorhanden sind.«
Werner erwiderte nichts, aber er schien keineswegs überzeugt zu sein. Ihm diente seine Erfahrung als Richtschnur, wonach er alles beurteilen zu können glaubte, was ihm begegnete.
Der folgende Tag war außerordentlich schön. Gegen Abend gingen die Kinder unter Werners Aufsicht spazieren, und der Zufall führte sie zum nahe gelegenen Wald, während Helene selbst sich nicht so weit vom Schloss entfernte, sondern nur bis zum Dorf hinunterging, wo sie mit den Landbewohnern, denen sie begegnete, von der nahe bevorstehenden Ernte plauderte. Alle erzählten ihr aber von der fremden Dame; ihre Ankunft hatte die allgemeine Neugier gereizt und man beobachtete daher jeden ihrer Schritte. Man wusste, dass sie gegen Abend ihre Wohnung verließ, um in der Umgegend spazieren zu gehen; solange aber die Sonne noch am Himmel stand, zeigte sie sich nur höchst selten. Den ganzen Tag brachte sie in einem Zimmer ihres oberen Stockwerks zu, wo niemand sie zu sehen bekam. Ihr alter Bedienter verrichtete sämtliche Geschäfte des Hauswesens, aber er sah stets so mürrisch aus, dass man keine Lust verspürte, eine Unterhaltung mit ihm anzuknüpfen, wenn er dann und wann ins Dorf kam, um etwas einzukaufen.
Je mehr Helene über die Unbekannte hörte, desto fester nahm sie sich vor, sie kennenzulernen; denn trotz all ihrer vortrefflichen Eigenschaften war die Frau Oberstin doch immer noch eine Tochter unserer gemeinsamen Stammmutter Eva. Allerdings wusste sie ihren geheimen Wunsch unter einer scheinbar großen Gleichgültigkeit zu verbergen, und als es finster zu werden begann, kehrte sie zum Schloss zurück.
Sobald ihre Kinder sie erblickten, liefen sie ihr voller Freude entgegen. »Ach, Mutter, liebe Mutter!«, riefen beide zugleich. »Wir haben die schöne unbekannte Dame gesehen und mit ihr gesprochen. Sie hat uns diese schönen Blumenkränze geschenkt. Ach, wie gut und wie hübsch sie ist!«
Dieses unverhoffte Zusammentreffen und die Worte ihrer Kinder reizten Helenes Neugierde noch mehr. »Still, liebe Kinder«, sagte sie, »sprecht nicht beide zugleich; eines von euch soll mir erzählen, was vorgefallen ist, und das andere kann dann nachholen, was das erste vielleicht vergessen hat.«
Dieser Vorschlag war zwar ganz angemessen, aber nicht frei von Schwierigkeiten, was seine Ausführung anging. Julie, ein höchst lebhaftes, niedliches Mädchen, schien nicht geneigt, ihrem Bruder das Wort zu überlassen, der seinerseits wieder das Recht des Älteren in Anspruch nahm, um der Erzähler des kleinen Abenteuers zu sein. Hieraus entstand ein ernsthafter Streit. Helene versuchte anfangs vergebens den Weg der Güte: Sie drang nicht durch, weil Julie sprechen und Wilhelm nicht schweigen wollte. Die Mutter sah sich endlich genötigt, ihre ganze Autorität zu gebrauchen, und ein bestimmter Befehl legte dem kleinen Mädchen Stillschweigen auf. Julie nahm nun eine schmollende Miene an und setzte sich in einen Winkel des Zimmers, wo sie ihr niedliches Gesichtchen in den Händen verbarg und dabei versicherte, dass ihr Bruder falsch erzähle, dass sie aber gewiss den Mund nicht öffnen werde, um ihn zu berichtigen.
Wilhelm, stolz auf die Auszeichnung, die ihm seine Mutter zuteilwerden ließ, stellte sich lächelnd vor sie hin und fing nun seine Erzählung an: »Ich hatte Lust, liebe Mutter, in das Tal hinabzugehen, um einige von den schönen Blumen, die dort so reichlich auf der Wiese wachsen, zu pflücken. Ich bat daher unseren Werner, uns dorthin zu führen, und er willigte ein; wir waren aber kaum einige Augenblicke da, so lief auch schon Julie, die niemals ruhig bleiben kann, mit allen Kräften auf den Wald zu.«
»Das ist nicht wahr!«, rief Julie, voll Ärger über die Beschuldigung ihres Bruders. »Ich verfolgte einen schönen, bunten Schmetterling und du tatest dasselbe. — Siehst du wohl, liebe Mutter, dass du von Wilhelm nichts Ordentliches erfahren wirst? Daher will ich dir lieber erzählen, was geschehen ist, denn mit mir hat ja die Dame zuerst gesprochen.«
»Ich habe dir befohlen zu schweigen«, antwortete die Mutter sanft, aber ernsthaft; »und ich will, dass du mir gehorchst. Dass ich also meinen Befehl nicht zum dritten Mal wiederholen muss!«
Die Strenge dieser Worte, die doch so wenig der Liebe Helenes zu ihrem niedlichen Töchterchen entsprach, verursachte der Kleinen so viel Schmerz, dass Julie in einen Strom von Tränen ausbrach und ihrer Mutter ihre kleinen Arme um den Hals warf. Helene sah nun ein, dass sie sich zu streng gezeigt hatte, und ohne ein Wort zu sagen, streichelte sie mit ihrer Hand die schönen blonden Locken ihrer Tochter und drückte dann einen Kuss auf ihre Stirn, worauf sich die Heiterkeit bei derselben sogleich wieder einstellte. Indessen fuhr Wilhelm in seiner Erzählung fort. Er berichtete, wie die fremde Dame plötzlich vor seinen erstaunten Blicken erschienen sei, während er gerade seiner Schwester habe nacheilen wollen, die mitten ins dickste Gebüsch gelaufen sei; wie Julie die Hand der fremden Dame gehalten habe und diese sich dann zu ihren Spielen gesellte, »obgleich sie«, bemerkte der Knabe, »die Fröhlichkeit nicht gerade zu lieben scheint. Sie war immer ernsthaft, und das laute Gelächter Julies, womit sie immer sehr freigebig ist, schien ihr sogar ein gewisses Unbehagen zu verursachen. Aber sie behandelte uns mit einer außerordentlichen Güte. Werner, der eigentlich schon längst mit uns nach Hause zurückkehren wollte, musste sich noch sehr gedulden, denn die Fremde wollte gar nicht damit aufhören, immer noch einige Blumen zu den Kränzen hinzuzufügen, die sie für uns wand. Sie ist wirklich erstaunlich geschickt; nur weiß ich nicht, warum sie beständig einen Handschuh an der linken Hand trägt; das muss ihr doch sehr beschwerlich sein. Julie wollte ihn ihr abziehen, aber sie hinderte sie mit einer sehr heftigen Bewegung daran und warf ihr zugleich einen Blick zu, der mich und meine Schwester in Schrecken versetzte; so böse schien er uns zu sein.«
Diese Erzählung wurde in allen Punkten von dem kleinen Mädchen bestätigt, das sich nun beeilte, das Wort zu ergreifen. Julie fügte noch eine Menge Einzelheiten hinzu und erzählte ihrer Mutter, dass die hübsche Dame ihr mitten im Gebüsch so plötzlich erschienen sei, als wenn sie aus der Erde hervorgekommen wäre.
»Ich erschrak anfangs sehr«, fuhr Julie fort, »und als die Dame es bemerkte, schien sie darüber sehr bekümmert zu sein. Sie kam dann lächelnd auf mich zu und ihre freundlichen Worte machten mich bald mutiger. Übrigens hat sie mir nicht einmal die kleinste Frage gestellt, was doch sonst eigentlich alle tun, die mich zum ersten Mal sehen; sie sprach nur von unseren Spielen und Vergnügungen und wie sehr sie meine Freundin zu werden wünschte. Dich und Papa hat sie mit keinem Wort erwähnt.«
Werner, der nun ebenfalls befragt wurde, bestätigte alles, was die Kinder gesagt hatten. Aber über seinem ganzen Wesen schien eine große Verwirrtheit zu liegen, die er vergebens zu verbergen versuchte; sie wurde gegen seinen Willen so sichtbar, dass Helene aufmerksam werden musste.
»Nun, Werner«, sagte sie, »wie es scheint, bist du nicht so sehr für die fremde Dame eingenommen wie Wilhelm und Julie. Hegst du noch immer dein früheres Misstrauen gegen sie oder hast du sie vielleicht gar wiedererkannt?«
»Ich, sie wiedererkannt haben?«, rief der alte Soldat, dessen Gesicht in diesem Augenblick alle Farbe verlor. »Ich wüsste nicht, Frau Oberstin, wie mein Betragen sie zu solch einer Vermutung veranlassen könnte. Ich kenne diese Person nicht; aber dennoch bleibe ich bei meiner Meinung, dass ihr Erscheinen an diesem Ort und zu dieser Jahreszeit zu ungewöhnlich ist, um sich etwas Gutes davon zu versprechen. Wenn Sie meinem Rat folgen wollten, würden sie ihren Kindern nicht erlauben, bekannter und vertrauter mit ihr zu werden. Was die Erlaubnis betrifft, dass diese Unbekannte ihren Fuß über die Schwelle des Schlosses setzt, wissen Sie selbst, was sie zu tun haben. Doch wenn ich an ihrer Stelle wäre, würde ich nicht einmal zulassen, dass sie auch nur den Hof überschreitet.«
»Um so streng mit ihr zu verfahren«, erwiderte Helene, »müsste ich überzeugt sein, dass ihre Gesellschaft ganz und gar unpassend für mich ist, was durchaus sein kann. Aber da du sie heute zum ersten Mal gesehen hast, da deine Abneigung ihr gegenüber gar keinen triftigen Grund hat, werde ich mich in meinem Verhalten ganz von den üblichen Gepflogenheiten leiten lassen. Dennoch bin ich fest entschlossen, mein lieber Werner, auf deinen Rat zu hören, falls du irgendetwas über diese Dame weißt, was einem Umgang mit ihr entgegenstehen könnte.«
Werner schien einen Augenblick lang unsicher zu sein, was er der Oberstin antworten sollte; plötzlich hörte diese Unsicherheit jedoch auf, und er versicherte darauf mit fester Stimme, dass seine Furcht nur auf Vorurteilen beruhe, die fremde Dame ihm völlig unbekannt sei und seine Herrschaft jegliches Recht habe, zu handeln, wie es ihr beliebe.
Helene kannte die edle Freimütigkeit des alten Soldaten und zweifelte nicht an der Wahrheit dessen, was er sagte. Sie schrieb sein Misstrauen der natürlichen Bedächtigkeit derjenigen zu, die in der Welt viel gesehen und erfahren haben; das Böse hat sich ihnen in allen Gestalten gezeigt, und sie fürchten stets, es da anzutreffen, wo der Anschein es am wenigsten vermuten lässt. Nur in der Zurückgezogenheit lernt das menschliche Herz, sich einem Vertrauen zu überlassen, das noch durch nichts getäuscht wurde; der häufige Umgang mit Menschen lehrt es jedoch, sie zu fürchten.
Viertes Kapitel
Indem Werner der Oberstin versicherte, dass die fremde Dame ihm unbekannt sei, sagte er bewusst die Unwahrheit. So auffallende Gesichtszüge konnten bei ihm unmöglich in Vergessenheit geraten; er wusste, wie sehr diejenige, welche damit geschmückt war, die zärtlichsten Gefühle zu wecken vermochte, und er fürchtete sich schon jetzt vor einem Zusammentreffen, das die schrecklichsten Stürme für die Zukunft erwarten ließ. Aber sollte er unter diesen Umständen die Ruhe seiner ahnungslosen Herrin vergiften? War es nötig, in ihrem Herzen die verzehrenden Flammen der Eifersucht zu entfachen? Unglücklicherweise gibt es Situationen im menschlichen Leben, in denen es notwendig ist, die Wahrheit zu verschweigen und mit der Lüge ins Bündnis zu treten, um größeren Übeln vorzubeugen. Eine von diesen Situationen war nun eingetreten, und obwohl Werner ihr nur ungern seine Liebe zur Wahrheit opferte, sah er doch letztlich keine andere Möglichkeit, als der Oberstin zu verschweigen, was er wusste. Wie sehr wünschte er sich die Nacht herbei, um ruhig über diese schwierige Lage nachdenken zu können. Er war sich bewusst, wie wichtig es war, sich nichts von seiner inneren Unruhe anmerken zu lassen; denn wenn sich erst ein Verdacht im Busen der Oberstin regte, zu welch peinlichen Auftritten konnte das führen! Er riss sich daher zusammen und wachte selbst so streng über sich, dass Helene in seinen Gesichtszügen nichts Ungewöhnliches zu entdecken vermochte.
Es war schon nach elf Uhr abends, als Werner endlich wieder in sein Zimmer trat. Schnell ging er zu seinem Schreibtisch, um seinem Herrn zu schreiben, was sich zugetragen hatte.
»Wie groß wird Ihr Erstaunen sein, Herr Oberst, wenn Sie erfahren, dass Lodoiska jetzt hier in R… ist und in direkter Nachbarschaft zum Schloss wohnt. Was will sie hier, jetzt, nachdem so viele Jahre vergangen sind? Was hegt sie für Absichten? Diese Fragen kann ich Ihnen nicht beantworten. Sie hat mich nicht erkannt, zumindest gab ihr Verhalten nichts preis, was etwas anderes vermuten ließe. Lassen Sie mir jetzt Ihre Befehle zukommen und ich werde sie ohne Verzug ausführen. Wollen Sie sie wiedersehen und sich eine Zusammenkunft mit ihr verschaffen, um ihre Absichten zu erfahren? Oder ziehen Sie es vor, dass die Frau Oberstin und Ihre Kinder diese Gegend hier augenblicklich verlassen? Dies wäre vielleicht der beste Weg, den Sie einschlagen könnten. Doch eines steht fest, solange diese Lodoiska lebt, oder wenigstens, solange Sie von dieser Frau und ihren Vorwürfen verfolgt werden, können Sie weder glücklich werden noch Ruhe finden.«
Als Werner diese letzten Worte niedergeschrieben hatte, erschauderte er unwillkürlich; denn es schien ihm, als höre er hinter sich das Geräusch raschelnder Kleidung und spüre den Atem einer Person, die sich über ihn beugt, um zu lesen, was er gerade geschrieben hatte. Die Täuschung war so vollkommen, dass er nicht daran zweifelte, die Oberstin befinde sich dicht hinter ihm, und voller Schrecken hierüber, wagte er anfangs weder die Augen zu öffnen noch den Kopf zu drehen. Als sich nach Ablauf von einer Minute aber noch immer kein neues Geräusch vernehmen ließ, blickte er sich um und musste feststellen, dass er sich geirrt hatte. Kein lebendiges Wesen war in seinem Zimmer zu sehen und die tiefste Stille herrschte überall, nur dann und wann von dem Geschrei einer einsamen Eule unterbrochen, die in dem alten Turm des Schlosses nistete. Die Gewissheit, dass die Oberstin seinen Brief nicht gelesen hatte, ließ ihn eine große Erleichterung verspüren. Er verschloss sein Zimmer gewissenhaft und versuchte nun, sich einem erquickenden Schlaf zu überlassen; doch es gelang ihm nicht. Die geheimnisvolle Lodoiska ging ihm nicht aus dem Sinn, und in seinem Zorn auf sie fluchte er so laut, als ob er eine Abteilung Rekruten zu exerzieren hätte. Erst spät in der Nacht schlossen sich seine Augen und der Mensch in ihm lebte nur noch durch seine nächtlichen Beziehungen mit den himmlischen Geistern fort.
Für gewöhnlich war Werner schon auf den Beinen, noch bevor sich der erste Schimmer der Morgenröte am Firmament zeigte; diesmal aber stand die Sonne schon über den umliegenden Hügeln, als der alte Unteroffizier plötzlich aus dem Schlaf aufschreckte und über die Art von Bewusstlosigkeit, in der er gewesen zu sein schien, erstaunte. Zweifellos hatte man schon ohne ihn mit der Arbeit auf dem Feld begonnen. Voller Scham über diesen Fehler zog er sich schnell an und eilte hinunter in den Hof; dort angekommen fiel ihm jedoch ein, dass er den wichtigen Brief an seinen Herrn auf dem Schreibtisch vergessen hatte, und da seine Klugheit ihm riet, denselben nicht vor jedermanns Augen herumliegen zu lassen, kehrte er schnell in sein Zimmer zurück, um das Schreiben an sich zu nehmen und es später dem Boten, der täglich zur Stadt ging, zur Aufgabe bei der Post mitzugeben.
Doch der Brief befand sich nicht mehr an dem Ort, wo Werner ihn hatte liegen lassen. Er lag, in tausend Stücke zerrissen, auf dem Fußboden verstreut. Dieser ebenso sehr überraschende wie erschütternde Anblick entriss Werner einen lauten Aufschrei und versetzte ihn dann in ein peinliches Nachdenken. Wer konnte das Schreiben zerrissen haben? Wer war innerhalb so weniger Augenblicke in seinem Zimmer gewesen, um dort eine solche Unverschämtheit zu begehen? Sollte es die Oberstin, Lisette oder gar das Hausmädchen gewesen sein? Nur diese drei Personen konnten schon um diese Zeit aufgestanden sein. Er erinnerte sich, dass er das Hausmädchen auf dem Hof gesehen hatte; auch erblickte er Lisette durch das Fenster in der Küche, die gerade mit ihren Arbeiten beschäftigt war, und die Oberstin schien noch gar nicht aufgestanden zu sein, wie die geschlossenen Fensterläden ihres Zimmers zeigten. Kurz, er wusste nicht, was er von diesem außerordentlichen Vorfall halten sollte. Da er es nicht über sich brachte, den Brief sogleich von Neuem zu schreiben, sammelte er zunächst nur die Papierschnipsel vom Boden auf und übergab sie dem Feuer.
Den ganzen Tag über befand sich Werner in einer äußerst peinlichen Stimmung. Obwohl er überzeugt war, dass die Oberstin sein Zimmer nicht betreten hatte, fühlte er doch eine große Verlegenheit, als er heute zum ersten Mal in ihre Nähe kam. Doch trotz dieser Schwäche, die er zu unterdrücken versuchte, fasste er sogar den Mut, in den Gesichtszügen Helenes nach außergewöhnlichen Regungen zu forschen; aber diese waren so ruhig, dass unmöglich davon auszugehen war, dass sie Kenntnis von dem für sie verstörenden Inhalt des Briefes erlangt hatte. Werners Erstaunen wurde nun immer größer und er verlor sich vergebens in allerhand Vermutungen; höchst unangenehm aber war es ihm, als die Kinder ihn baten, sie wieder wie gestern zum Wald hinunterzuführen, weil sie hofften, ihre neue Freundin, wie sie die Fremde nannten, wiederzusehen.
Gerne hätte Werner es ihnen abgeschlagen; aber die Oberstin war zugegen, und ehe er noch ein Wort dazu sagen konnte, hatte sie schon ihre Einwilligung gegeben. Die Klugheit gebot ihm, sich nichts von seinen wahren Gedanken anmerken zu lassen, um bei der Gemahlin seines Obersts weder Argwohn noch Furcht zu erregen. Daher stieg er mit zurückgehaltenem Unwillen langsam den Hügel hinab, dem Ort entgegen, an dem sie die Fremde schon einmal getroffen hatten.
Kaum befanden sie sich am Saum des Waldes, als Lodoiska plötzlich aus dem Gebüsch hervortrat, in ihren Händen ein paar Federbälle und eine schöne Puppe haltend, die sie für die Kinder mitgebracht hatte. Sobald die beiden ihre neue Freundin erblickten, liefen sie auf sie zu, und Julie war so dreist, sich geradezu in ihre Arme zu werfen. Diese unschuldige Handlung schien die Fremde jedoch aufs Tiefste zu verstören; sie trat einen Schritt zurück und warf einen so finsteren, unheimlichen Blick auf das Kind, dass der mutige Werner dabei erstarrte. Aber diese anfängliche Erregung dauerte nicht lange; ganz plötzlich überflog wieder ein leichtes Lächeln die Gesichtszüge der Fremden und mit der größten Liebenswürdigkeit verteilte sie die mitgebrachten Geschenke.
Wilhelm, entzückt über die Federbälle, lief sogleich zur nahe gelegenen Wiese, um sie auszuprobieren, und Julie, ganz glücklich bei dem Anblick ihrer Puppe, bat um Erlaubnis, Blumen pflücken zu dürfen, um ihre kleine Dame damit zu schmücken. Die Fremde hatte nichts dagegen, und als sie sah, dass die Kinder vollauf mit ihren Spielen beschäftigt waren, näherte sie sich dem alten Unteroffizier, der tief in Gedanken versunken an einen Baum gelehnt stand und mit einem starken Gefühl von Unzufriedenheit über die jüngsten Ereignisse nachdachte. Werner fürchtete nämlich, dass das Auftauchen der Fremden große Verwerfungen in der Familie des Obersts auslösen könnte, und es wollte ihm trotz allen Nachdenkens kein Mittel einfallen, mit dem er das drohende Ungewitter aufhalten konnte.