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Gleich heute wird sie sich dranmachen, ein schönes Apartment zu buchen.
Sie frühstücken gemeinsam, hören dabei die Nachrichten und reden über unbedeutende Dinge. Der Sicherheitsdient im Haus. Der dauernd kränkelnde Aufzug. Der Einzug der vielen Studenten und der Ausländer in den begehrten Wohnkomplex mitten in der Stadt. Nur hin und wieder huscht ihr Blick zu Ben. Sie findet, er ist ein Anderer, seit die Kinder aus dem Haus sind. Immerhin trägt er alles mit, was sie tut, wenn auch ohne die gewünschte Begeisterung.
Er hat davon auch seinen Nutzen. Sie muss schließlich nicht mehr zwingend das Haus verlassen, kann ihre Zeit auf ihn einstellen, was sie zumeist auch bewerkstelligt. Leider hat Ben dafür kein Gespür, glaubt womöglich, ihre Planung für den Tag sehe ohnehin alles genauso vor. Sie trägt es ihrerseits mit Fassung, was die Melancholie, die sie deswegen bisweilen empfindet, nicht mindert.
Als Ben aufbricht, weiß sie nicht einmal, ob sie erleichtert oder enttäuscht sein soll. Die Rituale in ihrer Ehe sind seit Jahren dieselben. Warum sollte sie also enttäuscht sein.
Weil es nicht stimmt, geht ihr auf. Früher, als sie noch täglich zur Arbeit ging, kam ihr Ben stets wie ihr Beschützer vor, wie ihr Fels in der Brandung. Erst nach und nach änderte sich seine Position zu ihr. Genau genommen, seit sie Bücher schreibt. Nicht sofort. Es änderte sich parallel zu ihrem Erfolg, zu ihrer Anerkennung durch die Öffentlichkeit. Irgendetwas gefällt ihm daran nicht, aber er offenbart sich ihr nie. Manchmal sieht es so aus, als sei er noch immer eifersüchtig, wegen ein paar Komplimenten, die auch mal von Männern kommen. Dann wieder hat sie das Gefühl, er misst sich mit ihr und glaubt, sein Status sei dadurch unterbewertet.
Das Telefon läutet. Auf der Anzeige eine bekannte Nummer. Noch ehe sie abhebt, glaubt sie, Jens Wegener, ihr Bankberater, habe gestern etwas vergessen.
Eine Frauenstimme redet überschwänglich, wie froh sie sei, dass es endlich mal jemanden treffe, dem sie es wirklich gönnt. Es ist Vera Böllmann, die PR-Chefin der Bank.
Wie sich herausstellt, hat die bankeigene Sparlotterie den diesjährigen Hauptgewinn ermittelt, und das sind ausgerechnet sie, Ida und Dr. Benjamin Winter.
»Wohin soll es gehen?«, fragt Ida, noch immer ungläubig.
»Auf eine einsame Insel in Dänemark…«
»In Dänemark!« Es war etwas zu schrill, das merkt sie sofort, aber ihr Erstaunen ist echt. In Anbetracht der bisherigen Minibeträge, die bisweilen ausgeschüttet werden, hätte man, wenn man schon mal das Glück hat, mit einem Kurzurlaub in der näheren Umgebung rechnen können. Niemals aber mit dem Ausland.
»Wir haben uns erkundigt und wissen, dass es unbedingt etwas für Sie ist. Deshalb freue ich mich aufrichtig für Sie.«
Daher also. Erst gestern hatten sie mit Jens Wegener dieses Thema angeschnitten, und ausgerechnet heute… ! Irgendetwas muss faul sein an der Sache. Hatte bisher ein anderer Sieger abgelehnt?
»Erst einmal bin ich natürlich überrascht«, sagt sie ehrlich, »aber ich werden nachher mit meinem Mann reden und rufe zeitnah zurück. «
Verstehen will Vera Böllmann Idas Zögern nicht. Das nötigt ihr eine weitere Erklärung ab: Die einzigen Bewohner der Insel würden zu dieser Zeit nicht zuhause sein. Sie hätten also völlige Freiheiten — ganz ohne Verpflichtung.
Genau so sagt es Ida am späten Nachmittag auch Ben. Wie sie erstaunt sie am Morgen war, ist es Ben momentan. Auch er sieht einen Zusammenhang zu Idas Bemerkung bei Jens Wegener, aber anfreunden kann er sich mit dem Gedanken nicht sofort.
»Wer will schon in die Einöde«, sagt er. »Ich wette, die suchen schon lange nach einem Dummen, dem sie den Gewinn andrehen können. Vielleicht war es ein allzu günstiges Angebot von dort. Wie sagtest du, heißt die?«
»Petersland, oder so. «
»Na, dann wollen wir doch mal sehen…«
Ben setzt sich an den Computer und Ida hört fast eine halbe Stunde nichts von ihm. Als er kommt, trägt er einen verschwommenen Ausdruck mit sich, auf dem ein winziges Pünktchen mit einem Stift eingekreist ist. Vermutlich musste er den Kartenausschnitt bis zu dieser Unkenntlichkeit vergrößern, aber zu erkennen ist die Insel deswegen nicht. Sei Finger tippt auf den Kringel.
»Genau kann ich es nicht sagen, aber das hier könnte sie sein — Pedersand.«
Nach dem Abendbrot reden sie über die Sache mit dem Urlaub. Begeistert sind sie beide nicht, aber Ida hatte zumindest etwas länger Zeit, darüber nachzudenken und war zu dem Schluss gekommen: Ein Abenteuer in der Abgeschiedenheit würde ihrer Ehe neue Impulse verleihen. Alleine dafür lohne es sich, in die Einsamkeit zu ziehen.
Erst nach vielen Worten hin und her und nach reiflicher Bedenkzeit willigt Ben ein.
Viel später — als sie schon auf Pedersand sind — wird ihr klar, warum ihr Mann letztlich eingewilligt hat. Er trägt ein ganzes Bündel Akten mit sich. Hier kann er in Ruhe diverse wissenschaftliche Arbeiten angehen.
AUF NACH PEDERSAND
Allein die Fahrt ab dem Festland, wo sie ihr Auto zurücklassen mussten, ist abenteuerlich. Eine Fähre bringt sie bis zu einem Anleger auf einer Insel im Nirgendwo. Ein überkluger Passagier erklärt mit ausladenenden Gesten, wo Manö liege, wo Römö und wo Fanö, was immer die Namen bedeuteten und wie immer man sie aussprach. Ida weiß beides nicht. Allein am Gehabe des Mannes erkennt sie, dass er sie als Deutsche identifiziert hat und dass er sie womöglich für marklose Landratten hält.
Als Ida glaubt, endlich am Ziel zu sein und die Fähre hoffnungsvoll verlässt, steht ein Boot bereit, auf dem einer eine Schild hochhält, das ihren Namen und den Namen der Insel zeigt: Pedersand.
Solange sie ihr Gepäck verstauen, deutet ihnen der Skipper mit einer missbilligenden Geste an: Die Zeit sei nicht gut gewählt. Der Mann, der sich als Postbote entpuppt, schiebt emotionslos ein einziges Wort nach, als spräche er zu seinesgleichen: »Ebbe.«
Warum er so zur Eile mahnt, ahnen die Landratten nicht.
Die Luft ist süßlich, modrig fremd. Aber die frische Brise tut gut, sehr gut. Das findet auch Ben.
Weit hinten im Nichts sind bald schemenhaft graugrüne Konturen zu sehen. Je näher sie kommen, kann Ida auf einer deutlichen Schräge ein paar Gebäude und wenige Bäume erkennen. Langsam formt sich vor ihren Augen etwas, was wie eine grüne Eisscholle anmutet, die nördlich auf einer anderen Scholle aufliegt.
Das kleine Eiland gleicht südöstlich einer flachen Hallig, nordwestlich scheint es eine mannshohe Steilküste zu haben. Nur einen bäuerlich anmutenden Dreiseitenhof kann man von Weitem erkennen. Davor breiten sich Wiesen und Koppeln aus, die von windschiefen Gattern gezäunt sind. Vieh ist nicht zusehen. Aber ein zerschundener Bollerwagen steht am Weg für ihre Koffer bereit, gleich hinter dem Anlegesteg. Der Mann vertraut ihnen auch noch die Post an, die er in seiner Tasche hatte. Dann fährt das Boot zurück.
An einem Holzpflock am Rande der Wiese hängt ein flach behauener Stein, um den sich eine Kette aus Hühnergöttern rankt.
Hier wohnen H. und M. Peterson. Vielsagend schaut Ida zu Ben und tippt auf Peterson: »Peterson auf Perdersand, wie kann es anders sein. Vermutlich hat hier jede Insel den Namen der einzigen Bewohner.«
Die Gummiräder des Bollerwagens knirschen im Sand, sonst ist nichts zu hören als ein leises Säuseln des Windes.
Auf dem schmalen Kiesweg hin zu den Gebäuden begreift Ida die Ruhe und den Frieden, die über dem Leben der Menschen liegen mag, die es hierher verschlagen hat. Sie selbst hat nie nach Aufregung gedürstet, nach Action, wie man neudeutsch sagt. Sie hat schon viel von einsamen Inseln gelesen, zumeist von den Hallig-Inseln, aber niemals wirklich verstanden, dass man sich damit verbunden fühlen kann wie mit seinem Baby, das an der Nabelschnur hängt.
Die Gebäude auf dem seichten Hügel sehen intakt aus, was Ida beruhigt. Das Haus, das sie als Wohnhaus ausmacht, scheint sich zu ducken vor Wind und Wetter, aber es hat etwas Märchenhaftes, etwas Nostalgisches oder eben Unerwartetes für sie.
Zwei seitliche Gebäude rahmen das Haus ein, ein drittes ist ein hölzerner Schuppen, schon etwas windschief hinter dem Haus gelegen. Vermutlich längst ungenutzt. Alles hat einen morbiden Charme, der sie ebenso belustigt, wie auch neugierig macht.
Zugegeben, sie folgt sonst gerne Bens Urlaubswünschen nach Komfort, nach moderner Ausstattung, nach Bequemlichkeit und Nähe zu allem, was man im Urlaub braucht. Aber einmal im Leben kann man auch anders die Zeit verbringen. Anderenfalls wäre es ein grober Widerspruch zu ihrer Aussagen, sie könnten auch auf einer einsamen Insel leben. Ihr ist bewusst, dass sie diese Worte nur gewählt hatte, um zu belegen, wie wenig sie andere Menschen brauchen, wie sehr sie sich noch selbst genügen.
Je weiter Ida den Fuß auf dem leicht ansteigenden Sandweg setzt, desto mehr ist ihr, als müsse sie aus einem unwirklichen Traum erwachen und jemand sagt ihr, dass sie nun aufstehen muss und der Pflicht zu folgen hat. Noch kann sie sich nicht einlassen auf die Zeit, an der das pulsierende Leben, das sie normalerweise umgibt, an ihr vorbeiläuft, sie unberührt lässt, das sie vielleicht sogar vergisst.
Noch ist kein Mensch zu sehen, aber das Boot, das sie von einer der unbekannten Inseln bis hierher chauffiert hat, ist längst außer Rufweite. Was, wenn hier gar keiner ist? Nicht selten fallen in dieser Zeit Gutgläubige auf einen Nepper herein. Das allerdings dürfte ihnen unter den Umständen, wie sie zu der Reise gekommen sind, nicht passieren.
Nun also sind sie auf Pedersand, was immer das Wort bedeutet und was der Ort an Bedeutung für sie bringen soll.
Der Skipper hatte während der Fahrt telefoniert, wortkarg, aber nicht mürrisch. Verstanden hat sie ihn nicht, an seiner Reaktion hat es Ida abgelesen, es muss jemand daheim sein.
Ben zieht die Schultern an, dann klopft er zwar an die Tür, aber er drückt sofort genervt die Klinke herunter, was Ida beschämt, obwohl Bens forsches Vorgehen in dieser Lage verständlich ist.
»Hallo!«, ruft er. »Familie Winter ist hier.«
Kein Laut ist zu hören, erst nach Minuten ratlosen Herumstehens an der offenen Haustür kommt eine Frau mittleren Alters aus dem Anbau geschlurft. Über ihren Schuhen trägt sie Gummigaloschen, auf ihrer Jacke kleben Fäden aus Heu und Stroh. Das hellbraune Haar hängt in zwei Strähnen von ihrer Stirn, der Rest ist nachlässig zu einem Knoten verwirbelt, der tief im Nacken sitzt. Die schmalen, etwas mandelförmigen Augen sind das einzig Markante, was Ida auffällt, aber freundlich sehen sie nicht aus.
»Da kommen Sie ja doch noch«, sagt das Gesicht, das ebenso gereizt wirkt wie Ben, bestenfalls gestresst. Ben sagt später, dass es für ihn eher abweisend, fast feindselig ausgesehen habe.
»Wir warten seit Montag«, sagt sie, und das ist kein guter Einstieg in ein Gespräch, das normalerweise zwischen Gast und Vermieter geführt wird.
»Wieso?«, stammelt Ida. »Wir kommen wie ausgeschrieben am 7.7. und der ist heute, oder irre ich da?«
»Ich weiß«, erwidert das undurchschaubare Gesicht. »Ich habe schon nachgefragt … Der Fehler liegt bei der Bank. «
Verstehen kann Ida den vermeintlichen Fehler nicht, aber schlimmer geht es Ben. Der ist so grantig, dass er sich nur noch im Hintergrund hält. Hoffentlich, denkt Ida, sucht Ben den Lapsus nicht bei mir.
Nach einer alles beendenden Geste und mit abgehackten Worten werden Ida und Ben Winter von der Frau durch den Flur des Hauses geführt, das alt, aber nicht baufällig ist und in dem sich auch hier drinnen alles zu ducken scheint. Dennoch wirkt es geräumiger als von außen gedacht. Die Geste der Frau, das Gepäck an der Treppe stehen zu lassen, ist ebenso sparsam wie alles an ihr. Sie ist offenbar eine Deutsche, oder sie hat sich das Deutsch hervorragend angelernt. Dennoch kommt kein anheimelndes Gefühl in Ida auf, wie gewöhnlich, wenn sie im Ausland auf Deutsche trifft, was in der Tat nicht immer beglückend ist. Hier wäre es ihr angenehm, schließlich wird man sich über einiges verständigen müssen, bevor das Ehepaar für die Zeit ihrer Anwesenheit die Insel verlässt, wie es Vera Böllmann von der Bank gesagt hatte.
Das Merkwürdige an der Frau entschuldigt Ida vor sich selbst mit den abgeschiedenen Bedingungen, unter denen das Paar lebt. Einen Mann bekommen sie jedoch gar nicht zu sehen.
Ida mag es, wenn Menschen zurückhaltend sind. Leider schwingt bei dieser Frau etwas Ungewisses mit, etwas von Unmut und etwas von Machtlosigkeit. Abgesehen von der leicht verstaubten Kleidung macht sie einen soliden Eindruck. Ihr Haar ist mit feinen Silberfäden durchzogen, ihre Augen, nichtmehr so scheu, aber noch immer distanziert, ergänzen die Körpersprache, die Sachlichkeit verrät.
Später spricht die Frau mit großer Konzentration. Ihre Gesten sind knapp und doch sehr deutlich. Sogar, als sie den Gästen ihr Zimmer zeigt — zuvor hatte sie wie selbstverständlich nach einem Gepäckstück gegriffen, um es die Stufen hinaufzutragen — scheint es Ida, als habe diese Frau eine unerschöpfliche Kraft in sich.
Ein solcher Mensch, auch eine solche Frau, würde immer die Möglichkeit haben, sich aus eigener Kraft allen Widrigkeiten der Natur zu widersetzen, auch denen böser Mächte. Für ersteres würde sie hier diese Kraft wohl sehr gut gebrauchen können.
Das Lächeln ist merkwürdig sparsam, aber der schmale Mund erklärt sehr klar, sehr einfach, wie das Leben auf der Insel für sie beide die nächst verbleibenden Tage funktioniert.
Der Haushalt habe alles, was man braucht. Das Gras sei gemäht und um Vieh müssten sie sich nicht sorgen, das sei bereits fort. Lediglich die Hühner und die Kaninchen, die sie ihnen noch zeigen werde, sollten sie regelmäßig füttern. Und falls es Probleme gebe, stehe ihnen — die Eier sowieso — das Fleisch der Rammler zu. »Nur der Rammler!«, betont sie, die seien ansonsten nutzlos.
Nutzlos erachten später sowohl Ben als auch Ida genau diesen Hinweis der Frau. Wie sollten sie wissen, was ein Rammler ist und was eine Häsin? Und warum sollte es Probleme geben?
Das Haus hat zwei Stockwerke, aber auch oben macht es einen erstaunlich geräumigen Eindruck. Am Abend lädt sie die Frau zum gemeinsamen Essen ein. Gegessen werde in der geräumigen Küche im Parterre. Das bleibe auch während ihrer Abwesenheit so. Das Haus gehöre ab jetzt vollständig ihnen, nur ihr Schlafzimmer bliebe verschlossen, alle anderen Räume stünden offen.
Von einem Hausherrn ist keine Spur. Aber der Tisch ist gedeckt, als würde sich sogleich noch einer zu ihnen gesellen. Ohne viele Worte hat die Frau aus allem, was verfügbar schien, etwas gezaubert. Eier, Kaninchenfleisch, Fisch, Käse und ein grüner, gemischter Salat. So abgeschieden diese Menschen hier leben, an Hunger leiden sie nicht, und bescheiden sehen ihre Mahlzeiten vermutlich nie aus.
Ida besteht darauf, nach dem Essen das Geschirr spülen zu helfen. Eine Arbeit, die sie seit Langem nicht mehr erledigen muss. Aber es liegt ihr viel daran, ein paar Worte mehr mit der Frau zu wechseln, die besonders in Bens Anwesenheit abweisend wirkt.
Da man sie schon am Montag erwartet habe, sei ihr Mann schon voraus. Wohin, das sagt die Frau, die Peterson heißt, nicht. Als die aber später erfährt, dass Ida Buchautorin ist, sagt sie doch etwas mit merkwürdigem Blick: »Falls es … ich meine, falls es langweilig wird oder Sie nicht aus dem Haus können…« Sie stockt, aber dann ergänzt sie merkwürdig lächelnd, fast entschuldigend: »…ach was. Dann wird eine Autorin doch vermutlich etwas zum Lesen dabei haben. «
Idas Frage nach ihrem Mann, die ihr auf den Lippen brennt, beantwortet die Frau nicht. Ob das gewollt ist, kann sie nicht ergründen, weil just in diesem Moment das Funktelefon anschlägt.
Die Antworten, die die Frau gibt, sind ebenso einsilbig, wie sie auch zu ihnen beiden ist. Das beruhigt Ida in gewisser Weise. Und ebenso sieht es Ben.
Am nächsten Morgen gleich nach dem Frühstück verlässt jene Frau, die Ida und Ben Winter nur als M. oder als H. Peterson kennen, mit ziemlich viel Gepäck aus Kisten und Kartons auf dem Bollerwagen den Hof in Richtung des Anlegers, von dem ihr schon der Postbote vom Vortag geschäftig entgegen gelaufen kommt.
AUF DER INSEL VOR DEM WIND
Sie sind noch keinen vollen Tag hier, schon gehört alles, was Ida bisher gedacht und erlebt hat, einem anderen Leben an. In der endlosen Weite und der steten Brise, die frisch, aber sauber und gesund ist, scheint es Ida, als schmelzen auch die Tage dahin, die sie einst als normal betrachtet hat, die ihr jetzt merkwürdig enteilen, als haste das Leben vor ihr davon. Sie schaut in die Runde und über die Endlosigkeit des neuen Seins, das sie schon heute nicht mehr als öde, als trist oder gar tötend ansieht. Sogar Ben gefällt es, auch nach dem Frühstück noch ebenso eins mit ihr zu sein, wie seit Jahren davor. So verschieden ihr inneres Leben auch abläuft, sie wachen noch nach vielen Jahren gemeinsam auf, als würde die Liebe noch so groß, noch so tief sein, dass man spürt, wenn der andere sich regt, wenn sein Atem einen anderen Rhythmus bekommt, wenn man glaubt, im nächsten Moment verlassen zu werden, weil man als schlafend gilt und weil der andere Rücksicht nimmt. Rücksicht ist die neue Liebe, hatte sie einmal gedacht, als sie sich mehr von Ben gewünscht hatte, als dass er nur rücksichtsvoll war.
Wie die Kinder laufen sie ungewohnt einträchtig Hand in Hand nach Nordwest am windschiefen Gattertor vorbei, das einen Teil der Wiese begrenzt. Die ganze Insel scheint schräg zu sein. Dort, wo das Land zum Meer hin abbricht, ragt es höher hinaus als auf der Gegenseite. Gerade dort hatte Ida am Vortag Blumen zwischen dem kargen Gras erkannt, das überall auf der Insel wächst. Sie liebt Blumen auf ihrem Tisch, aber sie ist klug genug, sie nicht unnötig dem Kleingetier vorzuenthalten, das ohne die Blüten nicht leben kann. Zudem haben Wildblumen in einer Vase keine so lange Überlebenszeit wie Zuchtpflanzen.
»Schau mal, wie schön die Grasnelke auf diesem kargen Sand blüht«, freut sie sich, aber Ben hat längst ihre Hand losgelassen, steht an der Abbruchkante und schaut angestrengt über das Wasser, das ruhig liegt. Nur winzige Wellen kräuseln sich und werfen das Sonnenlicht zurück, was die Welt um sie herum ganz silbern macht.
Ida interessiert die Welt zu ihren Füßen viel mehr. Hier an der Kante, die noch höher liegt als das Haus, das die Vorfahren vorausschauend erhöht gebaut haben, ist die einzige Stelle, wo Blumen blühen. Überall auf den Wiesen ist nur das dicke Salzwiesengras zu sehen.
Schön, denkt Ida. Ebenso schön findet sie den gelben Hornklee, der sich an die Abbruchkante duckt. Weiter hinten blüht ein Strauch mit Strandflieder und rundherum eine Nesselart in kräftigem Pink.
Sie streift weiter durch das Gras. An ihren bloßen Waden kitzeln die wippenden Spitzen vom Schlangenmoos.
Auch Ben hat seine Jeans hochgekrempelt. Er geht heute wie sie nur in einfachen Pantinen ohne Strümpfe. Als sie das Haus verlassen haben, hatte er etwas gemurmelt, was sie nicht hinterfragt hat, was sich aber so anhörte wie: Wenn er schon mal die Freiheit habe…
Hier an der Abbruchkante gibt es eine Stelle aus dichtem Gras, die wie geschaffen ist zum Verweilen. Ida setzt sich auf das weiche Polster, Ben führt seine Hand wieder an die Stirn und schaut hinaus in die Weite, aus der man sie hierher gebracht hat. Dass es ein Trugschluss war, erkennt Ida erst viel später, schließlich liegt das Festland östlich, wo auch die unbekannte Insel mit dem Schiffsanleger liegen muss.
Während sie so sitzt, den Wind im Gesicht spürt, die Schuhe auszieht und die Zehen in den losen Kies drückt, überdenkt sie ihr Glück, wie sie zu diesem kleinen Paradies gekommen sind: Wie die Jungfer zum Kind. Über diese Plattitüde beginnt sie zu kichern. Jeder andere Schreiberling würde sie für einen solch platten Satz schelten.
In ihren Gedanken vergisst sie, dass Ben noch immer hinter ihr steht. Vermutlich wäre es ihr sonst nicht entfallen, dass auch er von etwas träumt: Von seinem kleinen Paradies, das er verloren zu haben glaubt und das er hier, genau hier, wo das Leben keine Ablenkung bringt, wieder neu erobern könnte?
Gerade nimmt Ida sich etwas fest vor: Wenn sie zurück im Haus ist, wird sie sofort ihre seltenen Eindrücke von diesem Stück Land aufschreiben, bevor sie von unbedachten Worten oder ganz Anderem überlagert werden. Genau das passiert ihr oft, und wenn sie für ihr Setting das Besondere braucht, kann sie es nicht mehr so klar und präzise rekonstruieren.
Kaum zu Ende gedacht, spürt sie Bens Arm um ihre Schultern. Sein Kopf nickt zum offenen Meer: »Wäre das nicht Stoff für einen neuen Roman. Die kleine Insel im Wind? «
Ida hält den Atem an. Wann denkt Ben je daran, worüber sie schreibt? Was ist mit ihm?
»Für mich liegt die Insel noch vor dem Wind«, sagt sie in der Gewissheit, Ben würde sofort ein Gegenargument anführen. Sie irrt sich nicht zum ersten Mal.
Ben sitzt dicht bei ihr und lässt seine Hand von ihrer Schulter tiefer sinken, aber fester streicheln. Ida liebt es, wenn seine Haut auf ihrer Haut liegt, egal wo und warum. Er scheint dasselbe zu wollen und hebt ihren locker über den Gürtel fallenden Pulli an, schiebt seine Hand darunter und streicht zärtlich über ihren nackten Rücken und die Lende. Sie legt ihren Kopf auf seine Schulter wie früher. Über das Meer zieht ein Schwarm Schwäne, sehr tief, gefährlich tief, wie Ida glaubt. Die Luft ist klar, klarer als befürchtet. Irgendwer hatte einmal gesagt, wenn ein sonniger Tag diesig ist, bleib auch der nächste schön. Heute ist er alles andere als diesig. Aber gerade in seiner Klarheit ist er so besonders — für ihr Herz ist er schön, denkt sie, und sie denkt, wie dumm wir doch beide sind. Wir leben aneinander vorbei, jeder für seinen Job. Das kann nicht das Leben sein. Nicht das. Wenn nicht hier, wann dann, können sie sich wiederfinden?
Ob es ein Leben für sie wäre zwischen Kühen und Koppeln, zwischen Hühnern und Kaninchen…? Mit Trinkwaser aus einem Behälter und mit Brauchwasser aus einem anderen. Am schlimmsten aber ist für sie das Klo, das in einer Jauchegrube endet. Ein ganz furchtbarer Gedanke …
Ida muss ihn nicht zu Ende denken. Bens Hand wandert um ihre Flanke herum bis zu ihrer rechten Brust. Erst zärtlich, rücksichtsvoll, dann fordernd. Unmerklich schiebt sie den Körper näher zu Ben. Es ist noch immer etwas Einzigartiges, wenn sie Bens Begehren spürt. Es ist wie damals als Kind, als sie ihre Puppe wiedergefunden hatte und vor Freude zu weinen begann und alles um sich herum vergaß, bis sie die Mutter daran erinnerte, was sie zu tun habe. Als erstes käme bei aller Freude immer die Pflicht.
Noch am letzten Gedanken hängend, stöhnt Ida auf.
»Mein Gott«, schreit sie beinahe, »wir sollten doch gleich am Morgen die Hühner füttern und herauslassen… Und die Kaninchen…«
Bens Griff lockert sich, was sie zutiefst bereut, aber nun nicht mehr ändern kann. Verstohlen schaut sie ihm ins Gesicht. Seine gerade noch ebenmäßig entspannte Miene scheint zu versteinern, sein Haar bewegt sich leicht, als schüttelte sein Kopf einen gerade gefassten Gedanken wieder ab.
Jeder für sich laufen sie zurück zum Haus.
»Geh schon hinein, ich mach das«, sagt er zu Ida. Mal wieder geht seine Enttäuschung ohne ein weiteres Wort einher, aber mit so deutlichen Gesten, dass es ihr wehtut. Er will sie jetzt, wo sie ihm etwas verdorben hat, für eine Weile nicht sehen, sie hat vermasselt, was für beide gut gewesen wäre. Warum?
Sie kann es nicht mehr ändern und sie weiß, dass sich genau diese Dinge, wo einer die Erwartung des anderen durchkreuzt, durch ihr Leben ziehen. An dieser Entwicklung ist sie nicht schuldlos. Wer ohne Schuld ist, der werfe den ersten Stein. C‘ est la vié.
Wenn er da draußen diese ungewohnten Dinge tut, wird er abgelenkt von dem, was war, abgelenkt durch Hühner und Kaninchen. Ähnlich jedenfalls geht es ihr zumeist selbst, und genau das ist der Grund, warum sie beide ihr gemeinsames Problem der schleichenden Entfremdung nicht aufarbeiten, nicht im Guten, aber zum Glück auch nicht im Bösen.
Zurück ins Haus kommt Ida gerade noch rechtzeitig, um die Stimme eines Mannes zu erfassen, die aus dem Gerät kommt, das im Flur steht, das sie aber nicht beherrschen würde, müsste sie jetzt etwas tun.