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»Hallo«, versteht sie, und auch den Namen »Vincent«, sagt die Stimme in einem Akzent, der sich mehr platt als dänisch anhört. Und dann sagt er, er käme in den nächsten Tagen nicht, was immer das bedeutet. Zwischen halbem Deutsch und halbem Dänisch hört sie etwas, was nach Sturmflut klingt. Und er schiebt nach, jemand — den Namen versteht sie nicht ganz, er klang nach Fritsch oder ähnlich — habe gesagt, ihr wisst, was zu tun ist!
Eine halbe Stunde später erscheint Ben mit Heufäden am Pullover und mit ebenso bestaubten Händen, wie die Kleider der Frau bestaubt waren, gestern, was vermutlich von dem Trog herrührt, in dem das Trockenfutter lagert.
Eine Zeit lang prüft sie unmerklich, wie seine Laune ausfällt. Sie kennt den Grund für Bens Verstocktheit stets genau, heute sie akzeptiert sie ihn sogar. Ober ohne ein Wort wendet sie sich dem Gemüse für den Auflauf zu, das zu putzen und zu schneiden sie sich vorgenommen hatte. Sie prüft die beiden Herde, von denen einer mit Strom, der andere mit Gas funktioniert. Sie entscheidet sich für den mit Stromanschluss, weil ihr Gas im Haus schon seit Jahren gefährlich erscheint.
Erst als sie die Formen in den etwas nostalgischen Herd schiebt und die Hitze aus der Röhre ihr Gesicht zu röten scheint, erinnert sie sich an den Anruf.
»Da war einer«, sagt sie vorsichtig, »Da draußen … Er sagte etwas von Sturm und dass wir wüssten, was zu tun ist. «
Ida und Ben wissen es natürlich nicht. Aber Ben verspricht, nach dem Gerät zu schauen, ob er den Anruf wiederherstellen kann. Das tut er ausnahmsweise sofort und vermutlich sehr gern. Damit ist er für eine weitere Zeit wieder aus ihrem Blickfeld und sie müssen nicht über die verunglückte Annäherung da draußen reden.
Während des Essens sitzen sie stumm beieinander. Sie spürt, wie er ständig nach ihr schielt, aber sie hat nichts zu sagen. Was auch?
»Ich konnte den Anruf nicht wieder aktivieren, muss mich erst mit dem Gerät vertraut machen«, sagt Ben kurz und so abschließend, dass sie keinen Anlass sieht, etwas zu erwidern. Dann lehnt er sich auf der Sitzbank zurück, nimmt sein Mobiltelefon in beide Hände und sucht nach einer Anleitung für das, was er Funkgerät nennt.
Zum Glück, denkt Ida, hat er sich das neueste iPhon von Apple geleistet, das er auch seinen Kindern stolz präsentiert hat. Erst vor einem Jahr war diese Neuerung auf den Markt gekommen. Ben ist in diesen Dingen eher konservativ, wartet, was die Kritiken sagen, aber in diesem Fall hat er Weitsicht bewiesen, sofern ihn nicht purer Besitzerstolz erfasst hat.
Nachdem Ida mit dem Spülen fertig ist, dasselbe Bild, bis Ben sagt: »Verdammt. Es wäre doch gelacht, dass wir es das nächste Mal nicht besser machen können.« Das kann man so oder so sehen, denkt Ida. Entweder er kommt mit dem, was er vorhat, nicht voran, oder es war mal wieder eine versteckte Anspielung auf sie und ihre ungeschickte Reaktion. Und sie denkt: Dann mach es doch besser! Herrgott…! Bei der wortkargen Frau hatte sie nur einen einzigen Handgriff gesehen, wie bei jedem Telefon.
Tief atmend steht Ben wieder auf und geht ins Nebenzimmer. Auf der Plüsch-Couch nimmt er jene Pose ein, die ihr auch zuhause sagt: Stör ihn jetzt bloß nicht. Und das kommt ihr sogar recht.
Da steht sie nun mit einem fast zu Tode verletzten Herzen und mit brennendem Vorwurf, alles vermasselt zu haben. Sie wollte alles dafür tun, dass ihre Ehe wieder einen Aufschub bekommt. Jetzt wird sie wohl alles tun müssen, den Ehefrieden zu retten, auch wenn sie den noch keinen Tag infrage gestellt hat. Sie wollte mit diesem einsamen Urlaub sehnlichst erreichen, dass alles wieder wird wie früher, und dann fallen ihr im ungeeignetsten Moment die dämlichen Hühner fremder Leute ein. Wie idiotisch ist sie denn? Wer hätte sie hier — wobei auch immer — beobachten können? Wie weit wäre Ben gegangen? Sicher nicht bis zum Äußersten, bei aller Abgeschiedenheit. Hier ist man verraten und verkauft, vergessen und begraben…
Nach dieser Selbstbezichtigung sucht sie krampfhaft auch nach seinem Anteil, um sich besser zu fühlen: Warum fällt ihm auch ausgerechnet dort ein, dass es noch etwas wie Körperlichkeit gibt zwischen zwei Eheleuten. Haben wir keine andere Gelegenheit? Und wie oft ging es mir ähnlich und er hatte noch eine wichtige Sache am Laufen.
Am zweiten Tag müssen beide denselben Vorsatz getroffen haben, sie wollen alles besser machen. Es scheint, als wäre die alte Harmonie aus dem Nichts zurückgekehrt, nur mit Bens Berührungen sieht es spärlicher aus als erhofft. Sie erkunden die Insel und sie spüren die Wirkung des Klimas und die Wirkung der Abgeschiedenheit, die ihnen sagt: Nur du und dein Mann sind hier und wir müssen uns aufeinander verlassen.
So geht auch der zweite, ein ebenso klarer Tag aber mit deutlich mehr Wind ohne Probleme zu Ende.
Ida sagt: »Es war doch ein schöner, ein fast aufregender Tag.« Dieselbe Ansicht glaubt Ida auch bei Ben zu fühlen. Jedenfalls war der Tag nicht so öde, nicht so gegenseitig abweisend wie befürchtet, und es werden all die weiteren Tage, die sie hier verbringen wollen, nicht mehr öde, nicht mehr abweisend sein. Das nimmt sie sich vor. Es liegt an ihnen, an niemand sonst.
Sie ist schon vorausgegangen und räkelt sich in den ländlich bunten Kissen. Ben braucht, wie auch zuhause, für einen Mann ziemlich lange bei seiner Abendtoilette.
Als er kommt, schielt sie nach ihm. Er duftet, anders als daheim, nach Mandelseife. Seine gut gebräunten Arme mit den hervorstehenden Adern glänzen, und die Härchen auf der Haut um seinen Hals sind hochgerichtet, als reckten sie sich wie ein erektiles Glied. Wie erotisch er noch ist, wie er sie noch elektrisieren kann. Ida wünscht sich, dass sie bei ihm noch ebensolche Gefühle erzeugen könnte, was ihr nach ihrem Verhalten am Ufer nur noch schwer fällt zu glauben. Als er seine Hand nach ihr ausstreckt, hält sie den Atem an. Er beugt sich noch einmal zu ihr herüber und gibt ihr einen Kuss auf die Wange. Sie spürt, dass er näher bei ihr liegen bleibt als zuhause, zögernd vielleicht, was er tun soll. In dieser Atmosphäre von tiefer Nähe, von erhoffter Intimität, die sie kaum noch so erlebt hat, hat sie das Gefühl, unter der Decke nach Ben greifen zu müssen, genau dort, wo er so sehr erregbar ist, dass er noch nie widerstanden hat. Aber sie tut es nicht, wartet, dass er wie immer den Anfang macht.
Und dann … nicht lang danach erlebt sie das Gefühl streichelnder Hände über ihrer Haut, über ihrer Brust, über Bauch und Schenkel. Ihr beider Atem vermischt sich zu einem und ihre Hand spielt in den wundervollen Haaren ihres Geliebten Benjamin Winter von der Abi-Klasse. Wie lange ist das her? Undenkbar lange.
An diesem Abend erlebt sie wieder wie einst, wie sich ihr Schweiß vermischt, wie sich ihre Körper ergeben in dem Gefühl, den anderen zu brauchen, noch immer verrückt nach ihm zu sein und es ewig zu bleiben.
Ben ist so voller Begierde, dass er gar nicht merkt, im nächsten Moment wie ein Hengst über sie herzufallen. Es ist wie verhext. Heute genießt sie seine Unerbittlichkeit mit Wonne. Trotz seiner Heftigkeit reagiert auch sie mit viel zu starken Gefühlen auf ihn. Diese Augenblicke, die sie männliche Besessenheit nennt, hat sie bis gestern nicht gemocht an ihm, aber wenn sie ehrlich ist, braucht sie gerade jetzt Bens Zuwendung, Bens Anerkennung, Bens Geflüster, mit dem er ihr die Ewigkeit verspricht. Sie hat sie schon immer gebraucht, erst dann fühlte sie sich wirklich geliebt. Und wenn ihn nichts anderes zu diesen Bekenntnissen bringt, dann eben auch ihr Nachgeben auf seine Unerbittlichkeit.
In dieser Nacht bricht das Eis, das nur vom Stress gezeugt hat, redet sie sich ein. Heute erdulden die meisten Business-Leute zu viel Stress und können daher keine Kraft mehr für die schönen Seiten des Lebens aufbringen.
Nachdem sich beide vom Zustand höchster Erregung ausgeruht haben, kugeln sie noch einmal kichernd übereinander her, als waren sie und blieben sie nun für immer in dieser vollkommenen Übereinstimmung ihrer Gefühle. Wie nur selten liebkost Ben ihre Lippen, leckt ihre Haut wie eine junge Katze ihre Milch, dann lacht er leise und steigert seine Lust zu einem unhaltbaren Ausbruch.
Ben hat seine Vorstellungen von den Urlaubsnächten mit Ida zu verwirklichen begonnen. In Ida indes bleibt etwas zurück, was sie sich trotz höchster eigener Zufriedenheit, nicht erklären kann. Noch niemals zuvor hatte sie Gedanken wie diese, wenn sie sich geliebt haben. Warum stellt sie sich heute ein Szenario vor, das so weit weg liegt wie Kimbuktu.
Wie muss es sein, ein ungeliebter Mann zwingt dich zu dem, was du Ben freiwillig gegeben hast. Und was wäre, du müsstest unfreiwillig empfangen, was du von einem Scheusal zu empfangen befohlen bekommen hast?
In den meisten Jahren zuvor hatte sie bisweilen einen inneren Widerstand gegen Bens unverhofften Ausbruch gehegt, weil sie seine Liebe bei Tage vermisst hatte. Das war zwar Fakt, aber sie hat trotzdem seinen Willen zugelassen, was als einvernehmlich gilt. Freilich wäre sie glücklicher, seine Liebe außerhalb des Bettes deutlicher zu spüren, gerne würde sie auch abseits jeglicher körperlicher Erwartung von ihm Worte geflüstert bekommen, die ihr schmeicheln. Daraus dürfte er dann gerne neue Sehnsucht schöpfen, neue Erwartung an sie, neue Gier.
Sie lieben sich noch einmal, nicht mehr so heftig, mit mehr Ruhe und Tiefe, dann schläft Ben ein. Sie bleibt wach wie stets, wenn sie erregt ist, egal wovon.
Auf einmal ist es ihr, als sterbe ihre eigene Sehnsucht, als bliebe ihr Körper leer und ihr Herz kalt und verlassen zurück.
In ihre vielen Gedanken mischt sich wie so oft die ernüchternde Erkenntnis, dass Bens Hingabe nicht das bedeutet, was sie braucht. Die Liebe eines Mannes ist nur die Belohnung der Frau für das, was sie ihm schenkt. Alles, was nach Liebe duftet, dient nur diesem einen Ziel. Ist das erreicht, ist es vorbei mit lieben Worten, mit tausend Schwüren. Erst recht mit jeglichem Verständnis für das, was die Frau an seiner Seite anders macht, anders denkt als er.
Ein Urlaub wie dieser kann schön sein, aber die Zeit ihrer grauen Einsamkeit tief in ihr drin wird wiederkommen und dann hilft ihr nur, die Zähne zusammenzubeißen und sich in ihre Texte zu vergraben, die Enttäuschungen zu vergessen und sich einzubilden, sie lägen einzig an ihrer eigenen übertriebenen Erwartung an die Liebe. Nur so hat sie die Jahre überstanden, und nur so wird sie die kommenden überstehen.
Bei Tage roch die Luft nach Weite, nach Schlamm und nach Fisch. Nur an den Koppeln stach der bekannte Duft nach frischem Gras heraus. Dennoch waren ihr die fremden Dünste nicht unangenehm, wie sie fremde Dünste in der Stadt gewöhnlich empfindet.
Jetzt hat sich etwas verändert. Wind heult ums Haus und es scheint sogar, dass Regen an die Fenster peitscht. Unter diesem dicken Dach kann sie die Geräusche nicht so gut ausmachen wie zuhause in ihrer Wohnung, wo sie jeden Mucks vom anderen unterscheidet. Zudem liegen die Fenster hier oben so weit hinter der vorspringenden Wulst aus Reet, dass es die Regentropfen schwerhaben könnten.
Ida kann jetzt kein Auge zumachen. Sie lauscht in die Nacht. Dabei geht ihr merkwürdigerweise durch den Kopf, dass sie den Namen der Leute gar nicht kennen würde, wäre er nicht auf den Stein geritzt worden. Von der wortkargen Frau haben sie ihn schließlich nicht erfahren, und in ihrem Glückwunschschreiben stand nur der Name der Insel. Sie denkt an den Anruf von gestern: Fritsch oder ähnlich hatte der Anrufer gesagt. Aber ein F stand nicht auf dem Stein, nur M. und H. Peterson.
Fast schläft sie darüber ein. Nicht lange, und sie hat das Gefühl, sie liege auf schwankenden Schiffsplanken. Das kann kein Wind mehr sein, denkt sie, und greift behutsam nach Ben. Der aber schläft tief und befriedigt, wie Männer danach wohl alle sind.
Auf nackten Füßen schleicht sie zum Fenster. Der Regen verhindert jede Sicht in die Ferne. Gerade noch kann sie schleierhaft erkennen, wie sich der Busch hinterm Haus und der Baum daneben gespenstisch biegen. Wenn sie jetzt Ben wach macht, lacht er sie aus.
Irgendetwas schlägt hart auf. Immer wieder. Sie schleicht die schmale Treppe hinunter. Irgendwo muss ein Fenster offenstehen, sie spürt den stürmischen Atem der See. Und sie fröstelt sogar, ob vor Angst oder ob es wirklich so kühl geworden ist, kann sie nicht sagen.
Im Halbdunkel stolpert sie über einen Gummistiefel, der, wer weiß woher herausgefallen sein muss. Am Abend stand da keiner. Irgendwann weckt sie Ben, versucht es jedenfalls. Noch im Halbschlaf nimmt er sie in seine Arme, zieht sie unter seine Decke und presst seinen Körper, der noch nicht wieder bekleidet ist, an ihre Seite.
»Schlaf jetzt«, murmelt sein Mund, der nur ganz flüchtig einen Kuss auf ihre Schläfe drückt. »Da hat doch jemand von Sturm geredet«, hört sie ihn lallen, und sie fühlt, wie er sie fester an sich drückt, dass sie seine Männlichkeit spürt: »Ich habe alles niet- und nagelfest gemacht.« Kaum sind seine Worte vom Kissen verschluckt, wird seine Arm auf ihrer Lende schwerer und sein Atem in ihrem Nacken noch tiefer, noch stärker als zuvor. Seit Langem liegen sie wieder wie früher zusammen in einem Bett. Sie rundgerollt wie ein Baby, er mit seinem Bauch an ihrem Rücken, was für beide etwas Erotisches hätte, wäre Ben nicht zu erschöpft von der Liebe.
Sie ergibt sich seinem Wunsch, still zu halten, und sie hofft, schnell einschlafen zu können. Diese Bauernhäuser stehen seit ewiger Zeit und trotzen den Unbilden der Natur. Warum sollte heute etwas passieren, ausgerechnet jetzt, wenn sie hier sind. Das wäre in der Tat nicht logisch, und logisch war sie noch immer.
Bevor sie langsam hinüber driftet, taucht eine Erinnerung aus längst vergessener Kinderzeit nebelhaft in ihr Gedächtnis. Es waren ähnliche Worte, wie sie ihre Mutter gebrauchte, wenn die kleine Ida bei einem Gewitter ins Bett der Mama gekrochen kam und sich fest an sie kuschelte: Dir kann gar nichts passieren. Ich bin ja bei dir. Als ob ein Blitz nur dort einschlägt, wo es einsame Kinder gibt. Als ob man einen Donner weniger hört, wenn die Mama neben einem liegt.
Merkwürdig, dass sie sich gerade jetzt wieder wie ein Kind fühlt, das in Zärtlichkeit gehüllt von allen Sorgen enthoben werden soll. Wann gab es das zuletzt? Nicht von Ben, seit Langem nicht mehr.
DIE STURMFLUT
Ida glaubt, das Unterbewusstsein hat sie geweckt. Sie zwingt sich, die Augen zu öffnen und miteinander zu verbinden, was die Ohren längst hören aber der Kopf nicht wahr haben will. Mit großem Getöse rüttelt der Sturm am Haus. Sie stemmt sich gegen ihre Angst, weil sie stark sein will. Ben würde anderenfalls wieder in seine Art des Kleinredens verfallen, oder sie der Panikmache schelten, und weg wäre die gerade zurückgewonnene Harmonie.
Noch wehrt sie sich gegen klares Denken, das nur bedrohlich sein würde. Im Dämmerzustand so nah bei Ben lässt es sich in der Tat leichter verharren. Wenn er doch nur bald aufwachen würde. Sie muss sich der Lage stellen, in der sie ist.
Der Wind scheint ein Vielfaches stärker zu sein als am Abend. Sie lauscht in den Morgen zwischen Bens ziehendem Atem und dem heulenden Sturm. Ein heftiger Schlag, ein Poltern irgendwo im Haus treibt sie in die Höhe. Ben spürt ihre Bewegung, aber er grunzt nur undeutlich und möchte sie mit einem kurzen Griff dazu bewegen, noch eine Stunde zu schlafen. Das kann sie nicht. Sie schleicht zum Fenster, das viel weniger dicht zu sein scheint, als behauptet, weil die Vorhänge sich bewegen. Der blaue Himmel des Vortages ist unsichtbar und tief ergraut. Der würzige Duft der Wiese nach Schafgarbe, das Wogen wippend-rosa Köpfe der Grasnelken und das Zittern der feinen gelben Blüten vom Hornklee sind weggespült vom vielen Regen. Alles versinkt im diffusen Dunst einer Macht, die sich ihrer Erwartung an einen Tag voller Innigkeit mit Ben, wenigstens aber voller Eintracht, entgegenstemmt.
Beim Anblick der Bilder um sie herum pfeift sie auf Ben und seine Müdigkeit, sie muss hinunter, schauen, was los ist. Völlig unverständlich für eine Frau aus der Stadt, denkt sie in diesem Moment an die Tiere fremder Leute, die ihr als einzige Pflicht anvertraut wurden. Ob sie trocken geblieben sind in ihrem Holzverschlag? Gestern hat sie bemerkt, wie der Wind durch die Ritze weht. Und gestern war er nicht halb so heftig. Bei diesen Dingen, in denen Verantwortung zu tragen ist, war sie das ganze Leben der Vorreiter, ehe Ben überhaupt eine Notwendigkeit für sich erkannt hat. Zumeist hatte er ihrem Drängen nur nachgegeben und lustlos Vorkehrungen getroffen, die nur sie für nötig erachte, wie er zu sagen pflegt.
Sie schlüpft in Jeans und Pullover und steigt die schmale Treppe hinunter. Es knackt im alten Gebälk, aber das kennt sie noch aus der Kinderzeit. Immer wenn sie die Holzstufen zum Dachboden hinauf ist, knackte es irgendwo gespenstisch. Sie hatte sich nicht selten gruselige Geschichten ersonnen, und vermutlich war damit der Grundstein gelegt für späteres Schreiben.
Im fensterlosen Flur ist es düster, nur wenig Licht fällt durch die offene Küchentür auf den gefliesten Boden. Durch die geschlossene Haustür dringt schwallartig etwas Wasser in den Flur. Hastig sucht sie nach den Gummistiefeln, findet den anderen vom einzigen Paar hinter einem Vorhang. Sie sind ihr einige Nummern zu groß — bestimmt würden sie auch Ben noch eine oder zwei Nummern zu groß sein.
Ganz vorsichtig öffnet sie die Tür, schlägt sie hastig wieder zu und rennt rücksichtslos polternd nach oben.
»Ben!«, schreit sie schon von der Treppe her, »du musst kommen, es ist nur noch Wasser um uns, kein Land mehr.«
Das stimmt nicht ganz. Zur anderen Seite des Hauses, zur Abbruchkante hin, ist noch viel Land zu sehen, aber vor dem Haus zum Watt hin sieht sie keinen Horizont mehr.
Ben hebt seinen Kopf, lässt ihn zurückfallen auf das Kissen und sagt, eher mürrisch als erschrocken, »Wir sind auf einer Insel, schon vergessen?«
»Verdammt!«, schreit sie ihn an. »Ja, auf einer Insel aber nicht auf einem schwimmenden Haus. Herrgott, nun komm endlich! «
Hastig, fast vorwärtsstolpernd in den viel zu großen Stiefeln, läuft sie die Stufen zurück, stürzt in die Küche und prüft, ob die Fenster dicht sind und ansonsten alles noch in Ordnung oder brauchbar ist. Erst dann verlässt sie das Haus, kämpft mit ganzer Kraft gegen den Sturm an und schleppt sich durch knöchelhohes Wasser bis zum hölzernen Schuppen außerhalb des festgemauerten Komplexes von Haus und Scheunen. Dieser Holzschuppen scheint ihr plötzlich am gefährlichsten zu werden. Am gefährdetsten ist er ohnehin. Ihr stockt der Atem. Die Jauchegrube verströmt einen widerlichen Gestank, vermutlich läuft sie über. Dieser Gedanke erzeugt bei der vom Luxus der Großstadt verwöhnten Frau sofort Übelkeit.
Der Sturm zaust an ihrem Haar, der Regen peitscht wie Drahtseile gegen ihren Leib und durchnässt schon auf den wenigen Schritten ihre Kleider. Sie kann die schwere Tür, vermutlich der stabilste Teil der ganzen Bude, kaum bändigen, aber drinnen wird es ruhiger sein, denkt sie noch, dann versinkt die Welt um sie herum.
Als sie zu sich kommt, schmerzt ihr Kopf und ihr Gesicht wird von Wasser umspült. Dicht bei ihr, zwischen dem Kaninchenstall und den Heuballen, liegt ein Balken quer. Diese verrückten Träume, denkt sie wie schlaftrunken. Sie spürt eine Taubheit, die ihr befiehlt, liegen zu bleiben und weiter zu schlafen, sich an Ben zu kuscheln und sich an ihm zu wärmen. Ihr ist kalt. Um sie herum ist alles nass, aber Ben ist gar nicht zu spüren an ihrer Seite. Sie versucht, die Augen zu öffnen. Das verschwommene Bild um sie herum ist ein anderes als gewohnt: Weder das heimische Schlafzimmer, noch die Badewanne. Wo, verdammt, kann sie so nass sein wie in der Badewanne? Sie will nach Ben schauen, da schwappt salziges Wasser in ihren Mund. Salzig! Langsam kommen die Bilder wieder. Sie ist auf diesem Eiland, diesem von Menschen verlassenen Stück Land mitten im Meer. Diese Menschen wussten, warum sie an diesem Tag nicht hier sein sollten. Verdammt.
»Ben! Zum Teufel hilf mir…! « Nur mühsam dreht sie sich zur Seite, bekommt sofort wieder einen Schwall schmutzigen, salzigen Wassers in den Mund, in dem sich Heu verfangen hat und ganz bestimmt auch Hühnerscheiße. Sie spuckt und krächzt aus Angst, sie müsste daran ersticken oder sich vergiften mit Salmonellen oder scheußlichen Viren. Mit unsäglichem Kraftaufwand gelingt es ihr, die Knie unter den Leib zu schieben, um den Rücken krümmen zu können und vorsichtig den Kopf zu heben. Sie bekommt keine Luft. Vermutlich hatte sie in ihrer Ohnmacht schon Wasser geschluckt, das sich langsam in ihrer Lunge breitmacht, Bläschen für Bläschen. Die Kraft, um zu husten, fehlt ihr. Der leere Magen will den Ekel loswerden. Wenigstens hat sie im Vierfüßlerstand hockend eine gewisse Distanz zwischen ihrem Mund und dem dreckigen Wasser. Vorsichtig befühlt sie ihr Gesicht, ob es eine Wunde hat, ob Blut im Spiel ist. Eine Stelle zwischen Stirn und Schläfe tut höllisch weh und fühlt sich geschwollen an. Einäugig blinzelt sie um sich. Die Kaninchen im untersten Stall werden gleich dasselbe erleben, was sie durchmacht, wenn nicht bald etwas geschieht.
Irgendwo poltert schon wieder etwas. Reflexartig reißt sie die Arme schützend über ihren Kopf. Gleich darauf hört sie die Stimme von Ben: »Ja was machst du denn für Sachen!« Sie sieht sein Gesicht nicht, aber sie stellt sich vor, wie wütend er ist. Oh, Ben kann wütend werden, wenn sich jemand — nein, wenn sie sich — anders verhält als er es für richtig erachtet.
Sie spürt seine Arme unter ihren Achseln. Nur verkrampft dreht sie sich so, dass es ihm leichter fällt, ihr hoch zu helfen. Der Schmerz in ihrem Kopf pocht so heftig, dass ihr noch übler davon wird, als ohnehin. Sie möchte sich übergeben.
»Ich wollte…«, stammelt sie zu ihrer Entschuldigung, aber Ben ist nicht nach einer Diskussion zumute. Allzu optimistisch, er würde sie verstehen, ist sie ohnehin nicht. Nicht einmal nach dieser Nacht, die ihr bruchstückhaft wieder einfällt. Erinnert sie sich richtig, müsste doch gerade diese Nacht alles einfacher machen. Liebesnächte haben das Leben mit Ben eine Zeit lang immer einfacher gemacht.
»Die Kaninchen und die Hüh…«
Um sie herum kracht es wieder, und es stürmt so heftig, dass die Bretterwände kaum Schutz bieten. Sogar Ben schaut sich dauernd nach irgendetwas um, was gefährlich werden könnte. Als ihr Körper sich soweit in die Höhe streckt, dass sie beinahe auf den eigenen Füßen steht und sie sich selbst nach allen Seiten umschauen kann, hört sie Bens vorwurfsvolle Worte. »Lass doch das blöde Vieh. Darum kümmern wir uns später. Los…! Erst mal zurück ins Haus, trockene Sachen an … und dann… «
Auch Bens Stimme ist atemlos wie ihre. Auch sein Atem klingt so erregt, als würden sie sich gerade lieben.
Erst jetzt bemerkt sie, dass Ben mit nackten Füßen in seinen Plastikpantoffeln steckt. An einer Stelle seitlich vom Haus reicht ihm das Wasser bis zum Knöchel. In ihren Stiefeln blubbert es und von ihren Kleidern fließen Bäche an ihr herunter, dass sie es auf der Haut spüren kann.
Schritt für Schritt auf wackligen Beinen aber mit Übelkeit im leeren Magen hält sie sich rechts an Ben fest, links tastet sie sich an der Trennwand entlang, die uneben und voller gefährlicher Holzschiefer kein guter Ausgleich zu Bens festem, vielleicht auch wütendem Griff ist. So genau kann sie noch gar nicht denken, was sie Ben aber unbedingt verheimlichen muss.
»Hätte die … ich meine, die Frau des Hauses … nur einmal ein einziges Wort gesagt! Hätte sie mich auch nur gefragt, was ich mir als schlimmstes Szenario vorstellen würde, ich hätte genau das gesagt: Land unter. Und ich hätte ganz bestimmt gefragt, was zu tun ist. Aber niemand hat uns auf ein solches Dilemma vorbereitet.«
Niemand? Sie scheint wieder klar denken zu können, hofft sie jedenfalls.
»Da war doch der Anruf…«, sagt Ben keuchend unter der Last ihres Körpers.
»Ja, verdammt. Da war der Anruf!«
Jetzt nicht auch noch wütend werden. Bloß nicht das. Nicht einmal, falls das ein versteckter Vorwurf war.
Konnte sie alles richtig an Ben weitergeben? Nein. Aber es hat ihn auch nicht angehoben. Nichts, was er nicht selbst erlebt, hebt ihn je wirklich aus seiner stoischen Art. Ihr Vorwurf an ihn ist jetzt ebenso fehl am Platz, aber die Hoffnung, er könnte wenigstens einsehen, dass er hätte auf den Funkspruch aktiver reagieren können, wenigstens am Morgen nach ihrem Hinweis auf das Wasser eher hätte agieren können, diese Hoffnung hat sie nicht.