Drei Musketiere - Eine verlorene Jugend im Krieg, Band 24

- -
- 100%
- +
Vor dem Höhenzug ging das Sterben weiter. Die deutsche Artillerie schoss mit höchster Intensität in die Menschen- und Panzeransammlung des Gegners. Jeder vernünftige Befehlshaber würde das Ziel ausgeben, die Höhen schnellstens mit den momentan auf dem Gefechtsfeld vorhandenen Einheiten zu erreichen, um das vollkommen verstopfte Gelände wieder für weitere nachzuführende Kräfte passierbar zu machen. Schukow stand aber so unter Druck, der von Stalin und dem südlich von ihm ungestüm vorrückenden Konjew ausging, dass er trotz der chaotischen Verhältnisse auf dem Gefechtsfeld bereits jetzt seine Reserven mobilisierte, um diese nach vorn zu werfen. Damit provozierte er regelrecht eine Verschlimmerung der Lage, denn schon jetzt kamen seine Truppen nicht mehr richtig voran, da allen der Raum fehlte. Vor dem Höhenzug stockte der Angriff, da die eigene Artillerie zum Teil immer noch zu kurz und so in die eigenen Reihen schoss.
Günther Weber hatte sich aufgerappelt und schaute aus dem Graben. Zur Oder hin hatte sich auf dem Gefechtsfeld nichts geändert, noch immer mühte sich der Gegner meterweise vorwärts. Jetzt hörte er trotz des Getöses ringsum Schreie. Er kam aus dem Graben heraus und sah schon beim Hochklettern, dass die Salven der russischen Raketenwerfer genau in einen der hinteren Gräben getroffen hatten. Dieser Graben stellte mit eine Verbindung zu den noch weiter hinten angelegten Munitionsbunkern dar. Weber ging langsam auf die Stelle zu, so, als wollte er den Blick auf diesen Bereich möglichst lange herauszögern, nicht aus Angst vor dem vermutlich grausamen Anblick, sondern weil er die Wirkung auf seine Soldaten erahnen konnte. Viele der Grenadiere waren jungen Burschen, die erst unmittelbar vor dem jetzt bald kommenden Kampf ausgebildet worden waren. Für sie waren Bilder von Tod und Verstümmelung noch ungewohnt und es würde sie schockieren, wie schrecklich Menschen verletzt werden konnten. Die Salvengeschosse drangen nicht besonders tief in die Erde ein, sondern streuten ihre Splitter weit im Gelände und oberhalb der Grasnarbe. Ein schwerer Zugkraftwagen 12t war relativ nah hinter den Jagdpanzern aufgestellt worden, um diese gegebenenfalls aus ihren Stellungen herausziehen zu können. Von dem fast 3 Meter hohen Fahrzeug war faktisch nur noch das massive Fahrwerk mit dem Halbkettenantrieb übriggeblieben, alles was sich darüber an Aufbauten befunden hatte, war durch die enorme Splitterwirkung weggeblasen worden. Selbst die breiten stählernen Laufrollen waren an vielen Stellen perforiert und durchschlagen worden. Keine drei Meter neben der Maschine waren zwei flache Sprengtrichter zu sehen und ein Brei von menschlichen Körperteilen. Die linke Seite des Laufwerks des Fahrzeuges sah wie rot lackiert aus, die Wucht des Sprengstoffs hatte Stücke von Fleisch, Knochen und Blut der Soldaten an die Maschine geklatscht. Rechts neben dem Fahrzeug waren die Männer etwas im Feuerlee gewesen. Weber hatte diesen Begriff des Lee einmal von Martin Haberkorn aufgeschnappt, der nichts weiter besagte, als dass das die dem Wind abgewandte Seite eines Seefahrzeuges wäre. Diese Art stählerne Barrikade in Gestalt der Zugmaschine hatte die dort befindlichen Grenadiere etwas schützen können, aber trotzdem waren vier der Soldaten schwerst verletzt worden. Ein Sanitäter war bereits bei den Verwundeten und kniete auf dem Boden. Zwei der jungen Männer waren bewusstlos, und Weber hoffte, dass sie auch nicht mehr aufwachten. Einem hatte ein Splitter den rechten Arm unterhalb des Schultergelenks abgetrennt, dem anderen Sprengstücke den Bauchraum aufgerissen und die Bauchhöhle freigelegt. Neben dem Amputierten hatte sich eine große Blutlache gebildet, der Mann würde gleich tot sein. Weber sah bei dem Bauchverletzten eine blasse blutige Masse im Leib und herausquellende fahle Därme. Die anderen beiden waren äußerlich unversehrt, aber auch getroffen worden. Einem waren Splitter in den Genitalbereich gefahren, und der junge Mann schrie grauenerregend. Der andere lag seltsam verkrampft auf der Seite und hatte die Beine angezogen und unter seinen Leib gedrückt. Aus seinem Mund, seiner Nase und den Ohren pulste Blut. Der Soldat hatte den Mund weit aufgerissen und wollte vermutlich seinen Schmerz herausbrüllen, aber sein Körper zuckte schon konvulsivisch und Weber wusste, dass er in ein paar Sekunden tot sein würde.
Als Günther Weber in den Krieg gegangen war hatte er das mit der Überzeugung verbunden gewesen, im Falle einer Verletzung schnell und gut versorgt zu werden. Damals war ihm noch nicht klar gewesen, dass es eben nicht nur um Schusswunden ging, deren Schmerzen ein Mann durchaus aushalten konnte, und die heilbar waren. Im Verlauf der Zeit und nach vielen Gefechten war diese Hoffnung aber der bitteren Erkenntnis gewichen, dass der menschliche Körper als kompliziertes Gebilde so verletzlich war, dass ein winziger Metallsplitter das Leben von gerade auf jetzt beenden konnte. Natürlich wusste er als Freiwilliger, dass er mit seiner Verpflichtung den Tod mit einkalkulieren musste, aber wie fast jeder Mensch verdrängte er diesen Gedanken. Er hatte auch miterleben müssen, wie gute Kameraden starben oder zum Krüppel geschossen wurden. Das schien ihm die schlimmste Alternative zu sein, denn es traf fast ausschließlich junge Männer. Bis jetzt hatte er immer noch viel Glück gehabt und war nur leicht verwundet worden. Er schaute den Sanitäter an.
„Es ist gleich vorbei“ sagte der Mann ausdruckslos „hier gibt es keine Hilfe mehr. Wir lassen sie hier sterben, ein Abtransport ist sinnlos. Ich wüsste auch nicht wer das wie bewerkstelligen sollte, und es würde auch zu lange dauern. Bis ihnen geholfen werden könnte sind sie ohnehin tot. Die beiden dort sind gleich verblutet, die hier auch, allerdings innerlich. Aber spielt ja keine Rolle, tot ist tot, egal wie es dazu gekommen ist. Ich kann hier nichts tun.“
Weber sah den Sanitäter schweigend an. Manchmal fragte er sich, wie die Leute vom Sanitätsdienst nervlich überhaupt über die Runden kamen. Ihre gesamte Tätigkeit bestand darin festzustellen, wie stark ein Mensch geschädigt worden war und dann zu entscheiden, ob noch Hilfe möglich und sinnvoll wäre. So gesehen handelten sie rational, einem Soldaten Hilfe zu leisten, der sowieso in kurzer Zeit sterben würde, wäre sicher ohne Nutzen. Aber sie waren eben keine Automaten ohne Gefühle, und sie trafen Entscheidungen über Leben und Tod. Wie sie bei all diesem Grauen durch die Nächte kamen war für Weber kaum vorstellbar. Natürlich hatte er auch genug Grausames gesehen, aber es bestimmte nicht seine gesamte Zeit als Soldat. Einige andere Grenadiere lugten entsetzt aus ihren Deckungen, direkt vor ihren Augen starben Kameraden und für sie stand fest, dass es sie auch jederzeit erwischen konnte.
Noch war der Kampf für die Einheit gar nicht richtig losgegangen, aber wenn es Mann gegen Mann heißen würde, dann würden sie die Apokalypse erst richtig erleben. Wer überleben sollte, müsste die Last der grausamen Bilder dann für immer mit sich herumtragen.
Martin Haberkorn, 17. April 1945, Kiel
Sobald es möglich gewesen war hatte Martin Haberkorn tauchen befohlen, und das Boot auf 40 Meter Tiefe einsteuern lassen. Bis Horten waren es rund 600 Kilometer und der Vorteil der Reise war der, dass sie ab dem Kattegat nahezu in Null-Grad-Richtung laufen mussten, die Navigation also demzufolge unproblematisch war. Das kam ihm entgegen, denn er konnte nicht behaupten, dass die Besatzung auf dem neuen Bootstyp schon gut eingefahren wäre. Fast alle an Bord brachten viel Erfahrung mit und die grundlegenden Dinge, die ein Tauchboot betrafen und dessen Verhalten beeinflussten, hatten sich ja nicht prinzipiell verändert. Weiterhin galten die Regeln der Physik und der Chemie und die Konstruktion des Bootes war zwar ein gewaltiger Fortschritt, aber er es war bei den alten Wirkprinzipien geblieben. Was er sich als Techniker gewünscht hätte wäre ein vollkommen außenluftunabhängiger Antrieb gewesen, aber das blieb vorerst noch Zukunftsmusik. Dennoch eröffneten sich mit dem Typ XXI vollkommen neue Perspektiven in der Seekriegsführung der Unterseeboote. Haberkorn war manchmal immer noch erstaunt, welche Entwicklungen sich in vergleichsweise kurzen Zeiträumen in technischer Hinsicht vollzogen hatten. Er saß mit dem LI auf dem Sofa in der O-Messe.
„Auf den Tieftauchversuch bin ich schon gespannt“ sagte der Ingenieur „und ich halte es da mit einem Spruch meiner Oma: Vorsicht ist die Mutter der Porzellankiste. Wir sollten uns ganz langsam an die Tiefe herantasten.“
„Aber aber, LI, halten Sie mich etwa für einen Hasardeur“ erwiderte Haberkorn grinsend „der alles auf eine Karte setzt, obwohl er weiß, dass er schon gut davonkommt, wenn er nicht alles verliert? Na bitte. Ich habe keineswegs vor jetzt noch den Helden der größtmöglich erreichten Tiefe zu spielen. Dazu ist mir der Schlitten noch viel zu wenig erprobt. Natürlich lautet unser Auftrag genau so, nämlich sich der maximalen Tauchtiefe anzunähern. Immerhin geben die Konstrukteure diese mit etwas mehr als 300 Meter an. Ich stimme Ihnen aber vollständig zu: wir werden uns ganz gemütlich in kleinen Schritten vorwagen, und bei den geringsten Unregelmäßigkeiten abbrechen. Das ist es nicht wert, dass wir kurz vor Feierabend noch durchrauschen. Außerdem könnten wir ja dann keinen Bericht mehr geben. Also ist keinem gedient, wenn wir zu hoch pokern. Wir essen jetzt erst mal in Ruhe Mittag und dann peilen wir später die Tiefe und sehen, ob wir es angehen können.“
Das Boot war in Kiel versorgt worden, auch mit frischen Lebensmitteln. Der Schmutt hatte Kartoffeln und Gulasch mit Rotkraut zubereitet. Haberkorn schmeckte das Essen, es war tatsächlich richtig gekocht worden, und kam nicht aus der Dose. Die Kühlmöglichkeiten im Boot waren beträchtlich erweitert worden und es schien ihm so, als ob die Konstrukteure erst vor kurzem begriffen hatten, dass ein gewisses Wohlbefinden der Besatzung auch eine entscheidende Rolle spielte. Vieles war verbessert worden: die Schlafmöglichkeiten, die Bedingungen für die Körperhygiene, die Toilettenanlagen. Das alles änderte aber nichts daran, dass die Männer in einer Stahlröhre eingesperrt waren, die jederzeit vom Gegner attackiert und zerstört werden konnte. Gegen diese nervliche Belastung konnte man nichts tun, und im Gegensatz zu früheren Zeiten, als psychisch zerrüttete Matrosen von Bord gehen konnten, ließ die dünne Personaldecke das nicht mehr zu.
„Eier einziehen und Arschbacken zusammenkneifen“ hieß die Lösung.
Natürlich hatte es sich in der Marine herumgesprochen, dass immer mehr Boote vernichtet, und die überlegene Seemacht der Alliierten jetzt so festzementiert worden war, dass jeder Angriff auf ein gegnerisches Geleit oder selbst einzelne Schiffe nahezu selbstmörderisch war. Dennoch fanden sich immer noch junge Männer bereit in die Boote einzusteigen. Der Mythos der "Ritter der Tiefe" war lange genug aufgebaut worden, um diese vergleichsweise kleine Truppe der Kriegsmarine als Eliteeinheit anzusehen. Haberkorn konnte das gut nachvollziehen. Es war vermutlich besser, das Risiko des U-Boot-Fahrens auf sich zu nehmen, als ein im Landkrieg vollkommen unbedarfter Marineinfanterist im Schützengraben zu stehen, und den im Töten routinierten Gegnern als billiges Opfer zu dienen. So oder so standen die Chancen auf einen Heldentod in dieser Kriegsphase hoch.
Haberkorn hatte sich eine Weile auf dem Sofa ausgeruht und war dann durch das Boot gegangen. Er hatte sich die Neugierigkeit und Begeisterung für neue Technik bewahrt und mit seiner eigenen gründlichen Art prägte er sich den Ort der wichtigsten Aggregate ein und könnte, dank dem ausgiebigen Studium diverser Handbücher, deren Aufbau und Funktionsweise regelrecht herbeteten. Manchmal sagte er sich, dass die Konstrukteure viel zu detailverliebt vorgegangen waren und nicht berücksichtigt hatten, dass sie eine Kriegsmaschine entwerfen sollten, die sich unter äußerst rauen Bedingungen bewähren musste. Eine grobe aber zuverlässige Ausführung wäre ihm in vielen Fällen lieber gewesen. Aber, und so war er ja zum Teil selbst, deutsch sein hieß, Wert auf höchste Perfektion zu legen. Dass dies in Bezug auf den Einsatzzweck des Bootes nicht immer sinnvoll war, musste er so hinnehmen.
Sein Verhältnis zur Besatzung konnte man als recht optimal bezeichnen. Haberkorn wusste, dass er vergleichsweise hochqualifizierte Männer an Bord hatte, und er behandelte sie auch so. Niemals würde er in der Lage sein in Krisensituationen an allen Brennpunkten gleichzeitig zu sein, seine Hauptverantwortung war die Schiffsführung. Demzufolge musste er sich auf seine Leute verlassen können, und er begegnete ihnen mit Respekt. Das wurde aufmerksam registriert, und so vertraute man sich gegenseitig.
In der Zentrale sprach er mit dem Obersteuermann.
"Wenn Sie wollen, können wir den Tieftauchversuch beginnen" hatte der Mann gesagt "wir haben jetzt 450 Meter Wasser unter dem Kiel. Das reicht also locker für einen Test."
Auf seinen fragenden Blick hatte der LI gesagt:
"Die Maschine ist klar für den Tieftauchversuch."
"Na gut, gehen wir es an. Wir brechen sofort ab, wenn sich Probleme ergeben sollten. In fünf Minuten beginnen wir. LI, wir steigen mit geringer Lastigkeit ab. Zeit haben wir ja schließlich genug, denn diesmal hockt uns auch keine Biene oder ein Zerstörer im Nacken. Also: immer schön langsam mit den Pferden."
Mehr als fünfzig Männer hockten in einer 70 Meter langen und knapp 1.200 Tonnen wiegenden mit Technik vollgestopften Stahlröhre und wollten herausfinden, ob die Konstrukteure und die Werftarbeiter ihnen ein Boot an die Hand gegeben hatten, welches mehr als 300 Meter tief tauchen sollte. Das würde es sicher können, aber es sollte seine Besatzung vor allem auch wieder sicher an die Oberfläche zurückbringen und auftauchen müssen.
Конец ознакомительного фрагмента.
Текст предоставлен ООО «ЛитРес».
Прочитайте эту книгу целиком, купив полную легальную версию на ЛитРес.
Безопасно оплатить книгу можно банковской картой Visa, MasterCard, Maestro, со счета мобильного телефона, с платежного терминала, в салоне МТС или Связной, через PayPal, WebMoney, Яндекс.Деньги, QIWI Кошелек, бонусными картами или другим удобным Вам способом.