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IV
»Wer will hier den Herrscher machen? Wer kann noch für Morgen sorgen? Uns Beladenen und Schwachen Hoffnung auf die Zukunft borgen?« Drei Schwestern, »Bettlers Bankett«
Am Anfang hatte ich ihm noch aufmerksam zugehört, inzwischen aber war mein Interesse erloschen. Mich ärgerte Konrads marktschreierische Eitelkeit, seine allzu genau gesetzten Pointen waren mir suspekt. Er hatte diese Geschichte wohl schon oft erzählt und ihre Wirkung immer weiter verfeinert, nun klangen die schlagfertigen Sätze wie vielfach gedroschene Phrasen. Und gerade weil ich solche Floskeln selbst mühelos beherrschte, wollte ich mich damit nicht abspeisen lassen …
»Aber nun Sie!« Wolters Frage riss mich aus meinen Gedanken. »Sie sind hier doch kein Eingeborener, oder?«
Ich goss uns noch einmal ein, obwohl ich wusste, dass wir das morgen bereuen würden. »Um das zu verstehen, müssen Sie zunächst begreifen, was in Schwarzmühl vor sich geht. Alles hat mit der Kohle zu tun, diesem Fluch und Segen. Als hier vor fast zweieinhalb Jahrhunderten die ersten Flöze gefunden wurden, galt das schwarze Gold den Sorben schon als Geschenk des Teufels. Und wenn man sich heute umsieht, kann man dem kaum widersprechen. Die ganze Gegend ist von der braunen bröseligen Blumenerde abhängig, auf der man hier die Blütenträume von Arbeit und Wohlstand züchtet – weiße Wolkenfahnen über Kühltürmen, nimmersatte Kessel und Turbinen, das Labyrinth der Rohre und Gleise … und natürlich die Maschinengiganten mit ihren kraftstrotzenden Armen und riesigen Zähnen, mit monströsen Schaufelrädern und Eimerketten. Doch diese Bilder kennen Sie ja selbst.« Konrad nickte.
»Ist Ihnen aber auch schon aufgefallen«, fuhr ich fort, »dass hier selbst Ortsnamen nach Pest und Tod klingen? Carna Plumpa, Schwarze Pumpe! Herz der Finsternis! Erst nur ein Gasthof mit einer Pferdetränke, die im Dreißigjährigen Krieg wohl als Warnung vor der Seuche schwarz angestrichen wurde. Dann wachsende Kolonie an einer Reichsstraße – und zuletzt ein Moloch mit Kraftwerken und Kokereien, Brikettfabriken und Gaswerken. Von Tausenden genährt und unersättlich wuchernd wie ein Geschwür, das seine Metastasen tief in die Erde treibt.«
Da war sie wieder, diese Mischung aus Faszination und Entsetzen, mit der ich mir selbst die sattsam bekannten Fakten immer wieder neu in Erinnerung rief. »Und während man auf der einen Seite hastig Wohnsilos hochzog, um den Oger mit Menschenfleisch zu füttern, fraßen sich seine Vasallen andererseits durch die Siedlungen. Dutzende Dörfer wurden ausgelöscht, um die Feuer weiter anzufachen, Sorno und Tornow, Klinge und Scheibe, Groß und Klein Buckow, Groß und Klein Lieskow. Devastierung klingt so klinisch sauber wie die Verödung einer Wunde, meint aber das Gegenteil: Ortsinanspruchnahme, schmerzhaftes Ab- und Aufreißen. Immerhin hat man in sicherer Entfernung manchmal frische Gräber für die Toten ausgehoben und stets neue Wohnungen für die Lebenden gebaut, ehe man die störenden Häuser und Höfe abräumte. Doch Geschichte lässt sich eben nicht so einfach umsiedeln. Hier wird noch immer Vergangenheit verheizt, gehen Lebensläufe von Generationen in Rauch auf. Und der Fortschritt misst sich an der Strecke, die der Vorschnittbagger täglich zurücklegt. Man kann ihn aber auch in Megatonnen aufwiegen.«
»Jetzt werden Sie mal nicht pathetisch.« Wolter blickte mich mit leicht glasigen Augen an, die Worte kamen ihm hörbar schwer über die Lippen. »Wo gehobelt wird, fallen eben Späne. Und schließlich heilt die Zeit doch alle Wunden.«
Ich schnaubte verächtlich. »Ja. Einfach einmal umgraben und dann wieder zuschütten, am besten mit Wasser. Von der Schlachteplatte zur Seenplatte, ein Paradies für die Segler aus der Stadt. Auf dem Grund aber liegen die versunkenen Siedlungen wie Vineta vor der Küste – als unsichtbares Zeichen für mangelnde Demut und wachsende Gier. Kennen Sie Horno? Das war mal ein Hort des Widerstands, ein Symbol für den Aufstand der kleinen Leute gegen die großen Mächte. Ein Dorf mit Geschichte, sechseinhalb Jahrhunderte alt, gebaut auf Findlingen und Lehm, mit Anger und Kirche als Mittelpunkt. Halbwegs heile Welt – und plötzlich im Weg. Schon lange vor der Wende hatte man beschlossen, dass die Bagger die kürzeste Strecke durch den Ort nehmen sollten, obwohl sie dabei gar keine Kohle finden würden. Ein Ausweichen wäre zwar möglich gewesen, hätte aber wohl zu viel Zeit und Geld gekostet. Kurzerhand wurde das Gelände zum Schutzgebiet erklärt, allerdings nicht für die Natur, sondern für den Bergbau. Eine einfache Formel: Keine neuen Häuser, keine neuen Menschen. Als der Wind im Land dann drehte, keimte bei den Alteingesessenen Hoffnung – und wurde bitter enttäuscht. Zwar galt Horno nun als Denkmal, aber auch das hielt die Geschichte nicht auf. Versprechen wurden gegeben und gebrochen, man lockte mit fetten Ködern – und jene wenigen, die Heimat noch immer der Entschädigung vorzogen, galten wahlweise als Verräter oder Märtyrer. Der Name des Dorfes ging um die Welt, Inder und Indianer sahen in ihm ein Vorbild für ihren eigenen Kampf gegen Landnahme … doch schließlich wurde Horno aufgelöst, das Ortsschild abgeschraubt. Am Ende gab es nur noch ein altes Paar, das sich weigerte, seine Obstbäume im Stich zu lassen. Wie Philemon und Baucis saßen sie fest verwurzelt auf ihrem Land, während man auf dem Kirchhof schon die Toten ausgrub. Kennen Sie die Stelle in Goethes ›Faust‹?« Ich griff den Band aus dem Regal und schlug ihn dort auf, wo das Lesebändchen die Passage markierte: »›Hat er uns doch angeboten / Schönes Gut im neuen Land! / Traue nicht dem Wasserboden, / Halt auf deiner Höhe stand!‹ Der alte Minister für Bergbau wusste wohl, wovon er sprach. Aber den eigentlichen Sinn für schwarzen Humor offenbarte auch in diesem Fall der Weltgeist selbst. Denn wissen Sie, wie die letzten Hornoer hießen? Domain! Sprechen Sie das mal englisch aus!«
Wolter lachte hell auf. »Kein schlechter Scherz, in der Tat! Aber warum erzählen Sie mir das alles?«
»Haben Sie das noch immer nicht verstanden? Schwarzmühl ist wie Horno, eine kleine Geisterstadt am Ende einer Straße, die gleich hinter dem Ort ins Nichts mündet. Die meisten sind schon fort, nur die Hartnäckigsten klammern sich noch an Hab und Gut. Mit Liebigs Hund sind wir die Glorreichen Sieben, ohne ihn das dreckige halbe Dutzend – ein Häuflein Freischärler im Kampf gegen eine übermächtige Armee. Bei Lichte besehen ist es ein Spiel auf Zeit, das den Preis mit jedem Tag steigert. Auch die Domains haben schließlich in letzter Sekunde einen Vergleich geschlossen, als ihnen die unverstellte Aussicht auf die Bagger die Ausweglosigkeit ihrer Lage vor Augen führte. Aber sie haben sich teuer verkauft. Und wir sind nicht billiger zu haben. Allerdings gibt es ein Problem: Wir können nichts für unsere Zukunft tun, sondern müssen mit dem unaufhaltsamen Verfall leben. Denn wenn wir den Wert der Siedlung steigern, schmälern wir unsere Aussicht auf Erfolg. Die Grundstücke und die Häuser sind längst geschätzt, jede Veränderung zum Besseren ist verboten. Und darauf lauern unsere Feinde ja nur – dass wir ihnen den Beweis für ihre Behauptung liefern, es gehe uns nur um Gewinn. Ich weiß, das klingt verrückt, aber wir sitzen die Gegenwart aus, während uns die angeblich frohe Zukunft belagert – ein klassisches Patt, ein Waffenstillstand von unbestimmter Dauer. Selbst wenn die Tage von Island längst gezählt sein sollten, kennt doch niemand die Stunde der Kapitulation.«
Wolter gähnte. »Absurd! Jedes Ende mit Schrecken wäre doch besser als so ein Schrecken ohne Ende. Und Sie haben Spaß an diesem Manöver?«
Wie sollte ich es ihm verständlich machen? »Ich bin der ultimative Zugezogene, ein finaler Späteinsiedler sozusagen. Das Haus habe ich geerbt – und ich erfülle einen letzten Willen, indem ich es bewohne. Das ist schwer zu begreifen, vor allem so weit nach Mitternacht. Wir reden morgen weiter. Sie können auf dem Sofa schlafen, Decke und Kissen bringe ich gleich. Zum Bad geht es über den Flur, zweite Tür links.«
V
»Die Kostüme sind zerrissen, In Perücken nisten Motten. Die Kulissen – längst verschlissen – Schwanken, wanken und verrotten.« Drei Schwestern, »Bettlers Bankett«
Der Schnaps verweigerte mir in dieser Nacht seinen Dienst, der dringend nötige Schlaf wollte sich nicht einstellen. Stattdessen dämmerte ich mich durch halb vergessene Bilder, die mir mein Gespräch mit Wolter wieder zu Tage gefördert hatte. Ich sah mich an der Abbruchkante stehen, mein Smartphone als Diktiergerät in der Hand, neben mir ein Mann mit Anzug und Bauhelm. Er wies mit großer Geste in die Weite und redete von Ableitungen und Aufforstungen, von kontrollierten Emissionen und neuen Planverfahren. Obwohl die Episode schon einige Zeit zurücklag, hörte ich die Worte noch genau – den nüchternen Ton des Managers, mit dem sich die Begeisterung für das technisch Mögliche und für den eigenen Anteil an dieser Leistung maskierte. Der Botschafter der neuen Eigentümer hatte mit tschechischem Akzent gesprochen, und die historische Volte amüsierte mich nun abermals: Jener Landgewinn, der dem böhmischen General Wallenstein nicht gelingen konnte, nachdem er mit seinen kaiserlichen Truppen an der Schwarzen Pumpe gerastet hatte, war seinen Nachfahren fast vierhundert Jahre später im Handstreich geglückt. Sie hatten das Recht, hier nach Kohle zu schürfen, einfach gekauft – und zwar ausgerechnet von den Schweden, die sich von diesem schmutzigen Geschäft reinwaschen wollten, in das sie selbst erst kurz zuvor eingestiegen waren. Von Vattenfall zu Energetický a Průmyslový – ein einvernehmlicher Handel über Grenzen und Menschen hinweg. Was Gustav Adolf wohl dazu gesagt hätte, der einst im Kampf gegen Wallensteins Truppen fiel – auf einem Feld bei Lützen, unter dem man später auch Kohle fand?
Genau so wollte ich das schreiben, weil man das Fußvolk auch diesmal nicht nach seiner Meinung gefragt hatte. Die Marschrichtung wurde noch immer am Kartentisch beschlossen, der Boden samt seiner Schätze in Verträgen verteilt und zur Plünderung freigegeben. Politik war nur die Fortsetzung des Krieges mit anderen Mitteln, den Preis zahlten hier wie dort die Verlierer. Natürlich würde ich auch ihnen eine Stimme geben, genau genommen die jener alten Frau, die ich an diesem Sommertag kennengelernt hatte. Sie hieß Hanka Reimer, ich hatte sie auf der Fahrt zum Ortstermin in ihrem Vorgarten gesehen, wo sie in einer einfachen Kittelschürze Unkraut zupfte. Eigentlich wollte ich aus dem geöffneten Wagenfenster nur kurz nach dem Weg fragen, aber auf meinen Gruß hatte sie sich ächzend erhoben und war an den Zaun gekommen. »Ganz einfach, junger Mann! Immer geradeaus, die Allee entlang, bis an die Kante. Dahinter geht es steil abwärts – aber keine Angst, die Schlucht ist gut beschrankt! Wenn Sie sich sattgesehen haben, können Sie gern noch mal Halt machen. Es führt ohnehin keine andere Straße zurück. Also bitte wenden!« Ein bitteres Lachen hatte diesen Satz begleitet.
Tatsächlich war ich auf der Rückfahrt noch einmal ausgestiegen und hatte das Grundstück durch die hölzerne Pforte betreten. Das Tor der Scheune hing schief in den Angeln, ihr Dach war an einer Ecke eingestürzt, doch das Haus schien gepflegt und solide. Hinter halb geöffneter Gardine hatte sie mich hereingewunken, nun saßen wir bei Pfefferminztee – »vom eigenen Beet« – und Mohnkuchen – »nach Großmutters Rezept« – in ihrer guten Stube. Frau Reimer wühlte in einem Karton mit Fotos und erzählte aus ihrem Leben – vom langen Fußweg zur Klippschule im Nachbardorf, von der Angst vor den Russen mit ihren Panjewagen und ihren grimmigen Gesichtern, von der Enteignung des Vaters nach dessen Heimkehr aus der Gefangenschaft und von ihren vielen Jahren als Köchin im Chemiekombinat.
Hankas Ehe war kinderlos geblieben, der Mann schon vor Jahren gestorben. Und nun wartete sie in dem Haus, in dem sie das Licht der Welt erblickt hatte, nur noch auf ihren eigenen Tod. Die schwarz-weißen Aufnahmen, die sie neben dem billigen Geschirr mit dem blauen Zwiebelmuster ausbreitete, waren so kostbar und belanglos wie ihr langes Leben: Bilder von Dorffesten und Brigadeausflügen, von der Hochzeit und den immer gleichen Weihnachtsbäumen.
»Das Schlimmste ist«, sagte Frau Reimer, »dass es keinen Erben gibt – und dass sie das hier alles einfach abräumen werden. Dann bleibt nichts, kein Andenken, keine Erinnerung. Und man weiß nicht mal, wo man am Ende begraben liegt.« Ich war unangenehm berührt, die Traurigkeit dieses Augenblicks machte mich stumm. Doch dieses Schweigen deutete die Alte falsch. »Wollen nicht Sie vielleicht … Sie sind mir sehr sympathisch, Herr Siegfried!« Sie legte ihre schwielige Rechte auf meine Hand, in ihren Augen lag ein verdächtiger Schimmer. Jetzt bloß nicht weinen, bitte! Oberstes Gebot: Du sollst dich mit keiner Sache gemein machen, auch wenn es eine gute wäre. Aber Frau Reimer ließ nicht locker: »Wenn Sie hier einziehen, bin ich getröstet. Und die anderen, die Lutki, kriegen Verstärkung. Sie passen perfekt hierher, das spüre ich.«
Ich hätte aus vielen Gründen ablehnen müssen, doch mir wollte in diesem Moment kein einziger einfallen. Vor wenigen Stunden hatte ich noch in den Abgrund geschaut und nach eindringlichen Formeln für treffende Beschreibungen gesucht. Nun sah ich die Träne, die sich den Weg durch die Falten bahnen wollte und mit dem Handrücken verlegen weggewischt wurde. Später könnte ich das Erbe immer noch ausschlagen, für den Augenblick aber fühlte ich mich in die Pflicht genommen: »Also gut!« Hanka seufzte, als wäre ihr eine schwere Last von der Seele genommen. »Sie machen mir eine große Freude – und auch den Lutki!«
Als ich an diesem Nachmittag in die Stadt zurückfuhr, blendete das Licht auf den Solarziegeln der Häuser. Eine sanfte Brise drückte die weißen Schwaden, die von den mächtigen Kegeln in der Ferne aufstiegen, seitlich auf die träge kreisenden Rotorblätter der riesigen Windräder. Alles verströmte Ruhe und sammelte doch unaufhörlich Energie, das ganze Land stand unter Strom. Gleich würde am Horizont wohl jene Riesin mit den nackten Brüsten und dem Bukett aus bunten Luftballons auftauchen, die ich von dem Bild über meinem Schreibtisch kannte.
Die verblichene Kopie des Gemäldes war mir in der Ruine eines früheren Kulturhauses in die Hände gefallen, als ich für einen Artikel über verlorene Orte recherchierte. Dort hatte sie an einer Wand gelehnt, unter schlecht gesprühten Graffiti und im Zwielicht hinter den zersplitterten, notdürftig mit Sperrholz verkleideten Scheiben – eine Göttin, die neben dem Bildnis eines kleinen Jungen im Tierpark und einem züchtigen Liebespaar am Strand auf ihre baldige Verbrennung wartete. Andere Reproduktionen waren den Vandalen bereits zum Opfer gefallen, die Asche und verkohlte Überreste der Rahmen häuften sich auf dem nackten Fußboden. Ich hatte das Bild als Souvenir betrachtet, obwohl ein Etikett auf der Rückseite es eindeutig als Volkseigentum auswies. Aber was sollte das schon für ein Volk sein, das sein Inventar mutwillig in Flammen aufgehen ließ? Die schrecklich schöne Erscheinung über der eintönigen Landschaft war mir damals wie ein perfektes Sinnbild für die übermenschliche Größe der Versprechen erschienen, die man hier gegeben hatte, ohne selbst an sie glauben zu können – eine unerreichbare, stets zurückweichende Freiheitsstatue, deren Fackel längst gegen kindliche Belustigung und ein paar Blümchen ausgetauscht worden war. Nun also fuhr auch ich auf leicht geschwungener Straße an Schildern vorbei, die zu nahe liegenden Orten wiesen. Doch der Himmel über dem Revier blieb leer …
VI
»Zu Solei und Bulette Gibt’s gleich am Tresen vorn Ganz ohne Etikette ’ne Molle und ’nen Korn. Am Morgen kratzt der Kater, Am Abend tränkst du ihn. Das gibt es nicht am Prater, Das gibt’s nur in Berlin!« Drei Schwestern, »Berlin, Berlin«
In blassblauen Boxershorts und weißem Unterhemd wirkte Wolter verwaschen und schwammig. Er stand in der Stubentür, als ich aus dem Badezimmer kam, und nickte mir verschlafen zu. »Morgen!« Ich hielt ihm wortlos ein Handtuch hin und ging in die Küche, um Kaffee zu brühen. Normalerweise hätte ich mich um diese Zeit stöhnend zur Wand gedreht und gehofft, dort noch ein wenig Schlaf zu finden. Wenn ich meinem Gast nun also auch diese vage Aussicht opfern musste, durfte er keine überschwängliche Begrüßung erwarten. Ich öffnete das Fenster und blies den Rauch meiner ersten Zigarette in das Morgengrauen über dem noch immer makellos weißen Schnee. Die Kälte tat gut und erfrischte die abgestandene Luft in den Zimmern. Langsam sah ich wieder klarer.
An Wolter hingegen schien das Gelage der vergangenen Nacht folgenlos vorübergegangen zu sein. Als er aus dem Bad kam, hatte er mit dem Anzug auch seine Beredsamkeit wieder angelegt. Er umklammerte den Becher mit beiden Händen und pustete ein Loch in die Schicht aus schwarzem Pulver, das ich reichlich bemessen hatte. »Ah, das tut gut! Wissen Sie, Hagen, ich habe nachgedacht. Diese ganze Geschichte mit dem Dorf und den Baggern, mit den Nestflüchtern und Sitzenbleibern … das ist genau das, was wir Werber ein perfektes Branding nennen. Die Story weist über sich selbst hinaus, sie ist leicht zu erzählen und hat eine Moral. Simpel gesagt: Damit die einen in Licht und Wärme leben können, müssen andere Haus und Hof verlassen. Die im Dunkeln sieht man nicht … Das ruft nach Gefühlen, das versteht jeder sofort. Und es passt in unsere Zeit, weil es schlechtes Gewissen weckt – das beste Argument für jeden Verkäufer. Verstehen Sie? Wir trinken Bier, um den Regenwald zu retten, wir vergeuden Benzin auf dem Weg zu Umwelt-Demos, wir trennen Müll und kippen ihn wieder zusammen … lauter gut gemeinte Versuche, uns selbst zu beruhigen!«
Was wollte Wolter von mir? Viel hätte ich in diesem Moment für eine Kopfschmerztablette oder etwas Hochprozentigeres gegeben.
»Im Grunde ist das ein Ablasshandel, von dem alle Seiten gut leben können. Glauben Sie mir, ich weiß, wovon ich rede. Auch in unserem Fall lässt sich damit ein Geschäft aufziehen. Die Story haben wir schließlich schon, jetzt fehlt uns nur noch das Produkt.« Er zwinkerte mir zu. »Und da kommen Sie ins Spiel. Sie haben es gestern doch selbst gesagt: Veredlung des Einfachen, ein bisschen Alchemie.« Verwundert rieb ich mir die noch immer leicht verklebten Augen. Wolter missverstand die unwillkürliche Geste offenbar als Zeichen meines erwachten Interesses. »Die Eier! Sie können hier vielleicht kein nachhaltiges Gewerbe mehr treiben, aber ein paar Hühner dürfen Sie gewiss noch halten. Und wenn es uns gelingt, die Ware auf den Bartresen von Berlin zu platzieren, haben wir gewonnen.«
War es mein Fehler, dass ich das Ganze für eine ausgesprochene Schnapsidee hielt? Oder wirkte bei ihm der Obstbrand immer noch nach? »Soleier? Als mitternächtlicher Absacker für die bessere Gesellschaft? Absurd!«
»Natürlich klingt das absurd.« Wolter nickte. »Aber gerade darum hat es ja eine Chance. Die Gier nach Neuem ist in der Hauptstadt ein ungeschriebenes Gesetz. Ständig werden Trends gesucht und gesetzt, das Tempo ist atemberaubend, und wer stehen bleibt, fällt zurück. Nehmen Sie zum Beispiel Gin Tonic. Das war vor ein paar Jahren bloß ein Longdrink, mit dem sich gut betuchte Witwen in Straßencafés den Vorabend schön tranken. Inzwischen finden Sie Barkeeper, die erschöpfende Vorträge über die Flavours und Ingredients halten können, während sie den Schnaps über die Eiswürfel fließen lassen und mit der bitteren Limonade auffüllen. Es gibt Gin mit Koriandersamen und Kubebenpfeffer, mit Zimtrinde und Sauerampfer, mit Brennnesseln und Fichtenspitzen. Brennereien aus Bayern und von der Ostseeküste werben wie Winzer mit Kopf- und Körpernoten, als würden sie erste Lagen und große Gewächse anbieten. Dazu der Wettbewerb der Botanicals, bei dem schierer Überfluss mit bewusster Beschränkung konkurriert, was wiederum Rückschlüsse auf die Wesenszüge des Trinkers gestattet – purer Luxus oder Less is more. Und schließlich die Garnitur: Limettenzeste oder Gurkenscheibe, Grapefruit oder grüner Apfel. Von den Tonics ganz zu schweigen, die dem Gin in vollmundig beschriebenen Charakteren längst ebenbürtig sind – mit Chinarinde von argentinischen Bergen oder aus indischen Wäldern, mit Quellwasser aus den Alpen oder aus Lappland. Man kann sich mit den Highballs an einem Abend um die ganze Welt saufen, von Norwegen über Spanien bis nach Südafrika und zurück nach Japan. Aber man kann natürlich auch Urlaub vor der Haustür machen – mit Gins aus Berlin und aus Brandenburg. Wer es mondän mag, wählt die Flasche mit den Flocken aus Blattgold. Wer lieber die Schöpfung retten will, spendet mit jedem Schluck für einen guten Zweck.«
Ich wollte ihn unterbrechen, doch er ließ mich nicht zu Wort kommen. »Woher ich das alles weiß? Ich habe einen alten Freund, der sich selbst Flaschensammler nennt – auch wenn er natürlich nicht im Müll nach altem Glas stochert, sondern im Netz nach neuen Sorten sucht. Der lädt mich gelegentlich zum Tasting ein … dekadent, aber sehr lehrreich. Anyway: Wichtig ist die Story, Hagen! Dazu ein Name, der die Geschichte spannend erzählt. Und den kann man auch für die Eier aus Schwarzmühl erfinden.«
Er hob die Hand und hämmerte mit seinen gekrümmten Fingern eine unsichtbare Schlagzeile in die wirbelnden Rauchschwaden, die von meiner Zigarette über dem Tisch aufstiegen: »The Egg from the Edge!« Wolter sah mich triumphierend an, mir aber hatte es die Sprache verschlagen. »Verstehen Sie denn nicht, Hagen? Sie werden es lieben, all die Influencer und Early Adopters. Genauso, wie sie die Hard Seltzer und Power Bowls geliked haben, bis aus der Behauptung eine echte Bewegung wurde. Wir hatten in der Agentur ein Wandtattoo, das uns den Sinn unserer Arbeit immer wieder vor Augen hielt: ›Die Theorie wird zur materiellen Gewalt, sobald sie die Massen ergreift.‹ Kennen Sie das? Ist von Karl Marx, aber trotzdem gut. Wie, sagten Sie, muss man die Eier einlegen?«
Ich hatte meine Fassung wiedergefunden und räusperte mich: »Nun, man braucht Zwiebeln und Salz, Pfeffer und Senfkörner, Lorbeer und Kümmel. Dann kocht man die Eier zehn Minuten und schlägt ihre Schale leicht an …«
Konrad unterbrach mich. »Das ist doch ein guter Anfang, aber das lässt sich sicher noch verfeinern. Und dann natürlich die Art der Zubereitung. Damit lässt sich hervorragend spielen, weil der Kunde selbst über Basics und Extras entscheiden kann. Auch aus hygienischen Gründen sind die Eier perfekt: Die Schale schützt den harten Kern, eine saubere Angelegenheit – und ein Perfect Pairing für die Hipster, die ihr Craft Beer am liebsten aus der Flasche trinken. Man muss es bloß richtig präsentieren … lassen Sie mich nur machen, Hagen. Sie liefern das Produkt, ich kümmere mich um den Verkauf. Minimaler Wareneinsatz, maximaler Gewinn. Was meinen Sie? Sind wir im Geschäft?«
Schon wieder wusste ich nicht, was ich sagen sollte. Einerseits klang dieser Plan – falls es denn überhaupt einer war – nach einer ausgemachten Narretei, einem verrückten Schildbürgerstreich. Andererseits war das Risiko relativ gering, die Hühner legten ihre Eier ohnehin, und dem absehbaren Scheitern konnte man aus sicherer Entfernung zuschauen. »Ich will das nicht allein entscheiden, das muss im Rat beschlossen werden.«
Wolter zückte seine Brieftasche und legte eine Visitenkarte auf den Tisch. »Gut, ich verstehe. Überlegen Sie es sich, rufen Sie mich an. Und glauben Sie mir, Sie werden es nicht bereuen.« Dann sah er auf die Uhr und stand auf. »Höchste Zeit! Gelbe Engel darf man nicht warten lassen. Es war mir ein ausgesprochenes Vergnügen, Herr Siegfried! Hoffentlich können wir das bald wiederholen.«
Ich war mir nicht sicher, ob ich diesen Wunsch teilte.
VII
»Wie leer ist das hier. In der Stadt. Und in mir! Wie still sind die nächtlichen Stunden! Kein Mensch ist noch wach. Nirgends Licht unterm Dach. Alles hat längst zur Ruhe gefunden.« Drei Schwestern, »Schlaflied«
Wolter stapfte mit hochgeschlagenem Mantelkragen durch den Schnee davon, ich blickte ihm nach und drückte mir die Handballen auf die pochenden Schläfen. Ein Schnaps würde jetzt helfen, obwohl es eigentlich gegen meine Regeln verstieß, schon so früh am Morgen zu trinken. Ich goss den letzten Rest aus der Flasche in ein Glas und stürzte ihn hinunter, ehe die Schärfe sich im Mund ausbreiten konnte. The Egg from the Edge? Was für ein dubioser, was für ein verrückter Vorschlag! Doch selbst wenn sich dieser begnadete Verkäufer in seinen Visionen total verrannt hatte, konnte ich in dem Wahnsinn Methode erkennen. Was wäre denn gewesen, wenn die letzten Hornoer ihr Obst vermostet und auf Flaschen gezogen hätten? Bagger-Boskop oder Kipper-Kirsche? Warum nicht gleich Abriss-Birne? Das hätte sich bestimmt bestens verkauft, als bittersüßer Protest aus vollreifen Früchten. Und ich hätte natürlich darüber berichtet, anklagend oder werbend – je nach Bedarf, aber selbstverständlich immer originell. Schon schwirrten mir passende Sprachspiele durch den Kopf – von der letzten Lese bis zum finalen Fallobst, vom drohenden Ende der Haltbarkeitsdauer bis zu fehlenden Konservierungsstoffen. Mit solchen Metaphern kannte ich mich aus, auf diesem Terrain konnte mir auch Wolter nicht das Wasser reichen. Aber wäre das weniger zynisch als seine Idee gewesen?