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Der Souffleur sagt: »Du musst dein Leben ändern!«
Der Ruf kann Sie jederzeit erreichen. Er muss kein Alarmsignal sein, das sich erst einstellt, wenn eine ökonomische Krise sich längst bedrohlich entfaltet hat, sondern der Ruf kann genauso gut ohne offensichtlichen Anlass an Ihr Ohr dringen. Scheinbar ohne guten Grund lässt er Sie hartnäckig nicht mehr los, und Sie erfahren erst viel später, wieso er keine Ruhe geben wollte. Der Ruf kann von außen kommen, der Auftrag eines Vorgesetzten sein. Oder eine Nachricht im Wirtschaftsteil verdichtet sich zu der Mahnung, nun müsse etwas geschehen. In den weitaus meisten Fällen ist es aber ein innerer Souffleur, der Ihnen einflüstert: So geht es nicht weiter! Du musst dein Leben ändern!
Und der Ruf muss nichts »Heiliges« sein. Sie müssen keine Vision haben. Manchmal ist der Moment, in dem man den Ruf hört, ein ungemein profaner. Man versteht einfach die Notwendigkeit, dass jetzt getan werden muss, was eben getan werden muss. Man spricht dann vielleicht, ob laut oder leise, mit sich selbst, sagt: »Okay, ich hab’s verstanden.« oder »Wenn nicht jetzt, wann dann?« oder ganz einfach »Auf geht’s!«. Man spuckt in die Hände, krempelt die Ärmel hoch – und fängt an. Oder eben nicht, denn allzu oft ist man träge oder man weigert sich, obwohl man es doch längst besser weiß …
Die Weigerung
Den Ruf hören zu können ist eine Sache, ihm zu folgen eine andere. Der Ruf hat womöglich auch Sie schon erreicht, aber haben Sie sich auf ihn einlassen können? Menschen wie Unternehmen werden von Ambitionen angetrieben, aber gleichzeitig von Bequemlichkeiten und Sicherheitsbedürfnissen gehemmt. Zweifel und Einwände nagen an Ihnen und halten Sie zurück, die Angst vor der Veränderung drängt sich zwischen Sie und den Ruf. Es läuft doch alles irgendwie ganz gut, warum also sich auf ein Wagnis einlassen? Und selbst wenn eine Krise Sie, Ihre Abteilung, Ihr Unternehmen fest im Griff hat: Wer sagt denn, dass der Ruf den richtigen Weg weist? Er will, dass Sie den begradigten Fluss verlassen und einen unerforschten Nebenarm nehmen, von dem man nur weiß, dass dort unbeherrschbare Stromschnellen und gefährliche Untiefen warten. »Finger weg!«, sagt Ihnen jene andere innere Stimme. Lieber auf den vorgezeichneten Wegen und in Raten untergehen, als sich tollkühn der Ungewissheit und möglicher Gefahr anzuvertrauen. Die Weigerung ist eine ganz natürliche Reaktion auf den Ruf – kaum jemand ist immer und bedingungslos ein Ritter ohne Furcht und Tadel.
Odysseus
Am Anfang der abendländischen Literatur stehen die Ilias und die Odyssee Homers. In der Ilias wird die Belagerung Trojas erzählt, die Odyssee begleitet den siegreichen Helden dann auf seinem abenteuerlichen Rückweg.
Zur Erinnerung: Nach dem Raub der schönen Helena zieht eine griechische Allianz nach Troja und belagert die Stadt. Odysseus allerdings zögert, dem Ruf zu folgen. Ihm wurde prophezeit, dass er, wenn er in den Krieg zöge, erst nach zwanzig Jahren zurück zu Frau und Kind gelangen würde. Der Trojanische Krieg dauert dann tatsächlich zehn Jahre, genauso lang wie die Odyssee zurück nach Griechenland.
Sage mir, Muse, die Taten des vielgewanderten Mannes, Welcher so weit geirrt, nach der heiligen Troja Zerstörung, Vieler Menschen Städte gesehn und Sitte gelernt hat, Und auf dem Meere so viel unnennbare Leiden erduldet, Seine Seele zu retten und seiner Freunde Zurückkunft.
HOMER, BEGINN DER »ODYSSEE«
Odysseus hat nach der langjährigen erfolglosen Eroberung die entscheidende Idee. Mit der berühmtesten Kriegslist der Geschichte bringt er die gegnerische Stadt zu Fall. Er lässt ein hölzernes Pferd bauen. In ihm verstecken sich die tapfersten der griechischen Kämpfer, der Rest bricht zum Schein die Lager ab. Die Trojaner fallen auf die List herein, ziehen das Pferd in ihre Stadt und besiegeln damit ihren Untergang.
Als Odysseus sich nach der Zerstörung Trojas auf den Weg nach Hause macht, treiben ihn die Winde kreuz und quer über die Meere. Während seiner Irrfahrt wird er in unzählige Abenteuer verwickelt. Er blendet den einäugigen Riesen Polyphem, widersteht dem bezirzenden Zauber der Circe und dem unendlich süßen Gesang der Sirenen, entkommt den Seeungeheuern Skylla und Charybdis, wird unfreiwillig der Geliebte der Nymphe Kalypso und strandet nackt in den Armen der Prinzessin Nausikaa. Nach zwei Jahrzehnten kehrt er endlich zurück nach Ithaka und erobert, verkleidet als Bettler, das Herz seiner Gemahlin Penelope von Neuem.
Homer beschreibt in seinem Epos die Abenteuer des Helden als Irrfahrt. Überall lauern Gefahren, Fallen und Tücken. Odysseus ist kein muskelbepackter Herkules, der seine Feinde ungespitzt in den Boden rammt. Zu Recht wird er der »Listenreiche« genannt. Sein Weg ist gepflastert mit kniffligen Rätseln, für die er intelligente Lösungen findet.
Die Entscheidung
Der Konflikt zwischen dem Impuls, in die Ungewissheit aufzubrechen, und der Mahnung, sich nicht in die Gefahr zu begeben, ist eine entscheidende Klippe. Aber wenn die beiden konkurrierenden Stimmen sich streiten, ist der erste Schritt schon getan. Der verwegene Held und der zurückhaltende Boykotteur fechten um die Entscheidung: »Die Segel frisch in den Wind«, sagt der eine. »Gemach, gemach, die eingeübten Routinen sind nicht perfekt, aber sie funktionieren«, beruhigt der andere. Hören Sie sich beide an, und lassen Sie sich Zeit. Es spricht auch nichts dagegen, den Konflikt mit anderen zu beraten. Im Gegenteil. Sie werden Verbündete finden, die Ihnen zusprechen oder abraten, die Ihre Zweifel nähren oder Ihr Selbstvertrauen stärken. Und im besten Fall treffen Sie auf jemanden, der Ihnen die Entscheidung leicht macht und Sie frohen Mutes auf die Reise schickt. Aber nur Sie allein können letztendlich die Entscheidung treffen. Und wenn es um ein Abenteuer geht, an dem nicht nur Sie, sondern auch Ihre Vorgesetzten, Mitarbeiter und Untergebenen teilnehmen sollen, wiederholt sich dieser Prozess.
Exkurs: Die Mentoren
Nachdem die Entscheidung gefallen ist, müssen Taten folgen. Das ist oft leichter gesagt als getan. Aber unverhofft kommt bekanntlich oft: Immer wieder erleben aufbruchswillige Helden, dass wie aus dem Nichts Mentoren auftauchen, die sie unterstützen, die im Hintergrund an den richtigen Knöpfen drehen oder die die Helden in spe mit klugem Rat (der bekanntlich teuer ist) beschenken. Die Mentoren treten oft in archetypischen Gestalten auf, die wir aus Sagen und Märchen kennen: Gefährten treten aus dem Dunkel und kämpfen an Ihrer Seite, eine innere Instanz nimmt Gestalt an und eröffnet Ihnen neue Sichtweisen, ein Narr sagt unverblümt die Wahrheit, ein undurchsichtiger Herrscher zieht im Hintergrund an gewissen Fäden, ein Magier setzt seine Kräfte für Sie ein, eine zerbrechliche Elfe reinigt Ihre Seele, ein gewaltiger Kämpfer schenkt Ihnen seine Treue – oder ein Mentor hält seine Hand schützend über Sie und nimmt sich Ihrer an. Insbesondere die Figur des Mentors unter all den möglichen Weggefährten halte ich für eine zentrale Figur der Heldenreise. Er tritt nicht selten in der Gestalt eines Weisen auf, manchmal auch als weibliches Pendant oder aber in Form des inneren Kindes.
Der Mentor hat, anders als der Held, einen gewissen Abstand zum Abenteuer. Während der Held oft direkt am Geschehen klebt, überblickt der Mentor es sozusagen aus der Vogelperspektive. Er stammt gewissermaßen aus einer anderen Dimension oder einer anderen Zeitebene, er hat in einer mythischen Vorzeit Erfahrungen gemacht, die der Held nicht machen konnte. Er kann ganz anders zwischen Schein und Sein unterscheiden, er hält nicht gleich jede Fassade für bare Münze. Sein geheimes Wissen rührt aus fernen Quellen, von denen der Held noch nicht getrunken hat – noch nicht.
Wer auch immer als Berater, Beschützer und »Anschieber« agiert, es geht hier vor allem darum, dass Unterstützung von außen sich viel öfter einstellt, als verzagte Noch-nicht-Helden sich vorstellen können.
Kampf an der Schwelle
Ist der Beschluss gefasst, die ausgetretenen Pfade zu verlassen und das Abenteuer zuzulassen, dann richten Sie sich darauf ein, schon bald erneut auf Widerstand zu stoßen. An der Schwelle zum »neuen Land« treffen Sie schnell auf einen Hüter, einen »Dämon« des Widerstands, der bewahren und festhalten will. Jetzt müssen Sie beweisen, dass Sie tatsächlich bereit sind. Jetzt zeigt sich, ob Sie Ihren Beschluss wirklich gefasst haben oder ob Ihre kleinen Boykotteure sich von dem Schwellendämon aus ihrem leichten Schlaf wecken lassen. Steht Ihre Entscheidung oder wirft der erste Gegenwind Sie um? Diejenigen, die mutig und ohne Zögern die Schwelle nehmen, werden feststellen, dass der Dämon nur scheinbar ein Hindernis ist. Seine »negativen« Kräfte und ihre »positiven« Energien lösen sich, die starre Opposition verflüchtigt sich, zwischen den Polen entsteht eine Dynamik, ein Kräftefluss, der ohne diesen Übergang undenkbar wäre. Sobald Sie das Neuland betreten, werden Sie Teil einer Verwandlung, einer Transformation, die Sie für die abenteuerliche Reise stärkt. Von nun an versagen die alten Gewissheiten ihren Dienst, hier haben die Straßen keine Namen und hier verkehren keine Linienbusse. Die alten Strukturen brechen auf und rasant eröffnet sich Ihnen eine neue, buchstäblich außerordentliche Welt.
Die große Prüfung
Sie haben den Ruf gehört, die Herausforderung angenommen und sind über die Schwelle getreten. Sie haben die gewohnte Welt verlassen, die nach mehr oder weniger berechenbaren Regeln funktioniert. Jetzt kommt die hohe Zeit der Abenteuer: Sie kämpfen mit dem Drachen, retten die Jungfrau oder werden vom schwarzen Ritter herausgefordert, um es in der Sprache der Märchen, Mythen und Sagen auszudrücken. In diesen Bewährungsproben sind Sie auf sich allein gestellt. Gefahren lauern, von denen Sie vorher nichts geahnt haben. Sie werden zwar Mitstreiter finden, die mit Ihnen Rücken an Rücken für die gute Sache kämpfen, aber die Patentrezepte und Erfahrungswerte Ihres Alltagslebens können Ihnen jetzt nicht mehr helfen. Abenteuer haben keinen Stundenplan. Sie werden also Lösungen ohne Vorbild finden müssen. »Wenn nicht jetzt, wann sonst?« – sollte die Rede von der Kreativität einen Sinn haben? Um schöpferisch die Gefahren meistern zu können, wird man aus dem Fluss des Vergessens trinken müssen. Was dann Kontur gewinnt, ist der Kern Ihres Ich, Ihrer Persönlichkeit mit all ihren erfinderischen Qualitäten. Die Serie der Abenteuer gipfelt in der großen Prüfung, für die Sie sich auf die Reise begeben haben. Nun entscheidet sich, ob Sie mit einem kostbaren Schatz auf die Rückreise gehen können.
Die Belohnung
Parzival fand den Heiligen Gral, Siegfried den Nibelungenschatz und Harry Potter den Stein des Weisen. Und welches Geschenk werden Sie mitnehmen?
All die Schätze, Elixiere und Amulette der fantastischen Heldenzyklen sind Symbole. Das innere Bild, das Sie sich von Ihrem Geschenk machen, glänzt vielleicht golden oder funkelt wie ein Edelstein. Oder Sie stellen sich etwas vor, das man nicht in Worte fassen kann, etwas, das schlicht unbeschreiblich ist. Das wirkliche Geschenk aber, für das all diese Schätze sinnhaft stehen, kann nicht in konvertierbare Währung getauscht und auf ein Bankkonto transferiert werden. Es ist in der Tat viel wertvoller. Sie selbst haben sich verändert. Sie haben sich beschenkt, indem Sie ein anderer geworden sind. Sie sind gewachsen und haben eine neue »Optik« gefunden, eine neue Art und Weise, die Welt, die Prozesse in Ihrem Unternehmen oder Ihren eigenen Karriereweg ins Auge zu fassen. Sie können jetzt klar und deutlich sehen, was vorher im Dunkeln verborgen war. Was vorher wichtig erschien, hat möglicherweise seine Relevanz verloren. Was ehedem keine Bedeutung hatte, rückt nun vielleicht in den Mittelpunkt. Wie die Belohnung, die nur Sie gewinnen können, aussieht, kann Ihnen niemand sagen – nur Sie selbst werden sie erfahren.
Die Rückkehr
Nach der Heldenreise kehren Sie als neuer Mensch in Ihr altes Leben zurück. Jetzt ist es an der Zeit, das sorgsam gehütete Geschenk zu reinvestieren. Return & invest heißt also der Auftrag, der am Ende der Heldenreise steht. Was auch immer Sie aus jener anderen Welt mitgenommen haben, es wird Ihnen im Alltag und Berufsleben weiterhelfen können. Ihre Persönlichkeit ist an den Aufgaben und Prüfungen gewachsen, denn Sie hatten keine andere Wahl, als die Lösungen aus sich selbst zu schöpfen. Sie sind gereift, Ihre Aufmerksamkeiten haben sich verschoben, Sie sind jetzt bereit, andere Schwerpunkte zu setzen. Während Sie sich vorher als zerrissen wahrgenommen haben, haben Sie nun die Sicherheit gewonnen, sich selbst zu formulieren, besser und klarer »Ich« sagen zu können. Damit wird sich auch das Verhältnis zu den Menschen in Ihrer Umgebung grundsätzlich verändern. Ihre Familie, Ihre Freunde und Kollegen, Ihre Businesspartner und die Stakeholder, die Sie als ökonomisch agierende Person umgeben, werden davon profitieren. Das ist Ihr »Return on Investment«, den Sie für Ihren Mut, auf die Heldenreise zu gehen, ausgezahlt bekommen werden.
Man steigt nicht zweimal in den gleichen Fluss, meinte der griechische Philosoph Heraklit. Wenn Sie sich ein zweites Mal auf die Reise begeben sollten, werden es wiederum ganz andere Erfahrungen sein, die Sie machen – denn nicht nur der Fluss, auch Sie sind längst ein anderer.
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