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»Aber wenn du weißt, wie es mir jetzt geht, dann musst du auch wissen, dass ich mich nicht von heute auf morgen neu verlieben kann. Auch nicht …« Sie verstummte. Die Finger des Deutschen, die sanfte Zufallsberührung, das geradezu elektrische Kribbeln … Für den Bruchteil eines Augenblicks war das plötzlich wieder da gewesen, im Gedächtnis ihres Körpers. Verwirrt sah sie um sich, wie jemand, der aus einem déjà vu erwacht. Ihr Blick fiel auf Pierre.
»Dann werde ich warten«, sagte er schlicht.
Marie sah ihn betroffen an. Sie konnte ihm keine Hoffnung machen. Etwas sagte ihr, dass sie ihn niemals lieben könnte – nie anders als einen Freund. Aber sie fühlte sich erschöpft, dermaßen erschöpft … Dann klopfte es an der Tür. Schicksalsergeben ging sie hin und öffnete.
»Hallo«, grüßte Florian, und als er den Womanizer hinter Marie sah, zu diesem: »Bonjour!«
Pierre zog die Augenbrauen hoch und deutete ein Nicken an; Marie schaute entnervt vom einen zum anderen.
»Ich wollte nur etwas abgeben«, wandte Florian sich an Marie und reichte ihr einen schweren, gelb-grünen Sack. »Für Ihre Hortensien.« Perplex nahm Marie den Sack entgegen. Düngemittel, las sie. Auf
so eine Idee konnte auch nur dieser Deutsche kommen. »Et bien, vielen Dank«, sagte sie hastig. Sie spürte förmlich, wie Pierres Blicke sich ihr in den Nacken bohrten. »Wie geht es der Hand?«, fragte sie trotzdem.
»Ganz in Ordnung soweit. Sie tut weh, aber der Verband hält.«
»Wenn sie anschwillt, können Sie sie kühlen. Mit Eiswürfeln in einem Tuch. Nicht zu lange, vielleicht zehn Minuten, zwei-, dreimal am Tag.«
»Okay, alles klar. Nochmals vielen Dank. Und schönen Abend noch, Ihnen beiden.« Er nickte, hob linkisch die verbundene Hand und ging schnell nach draußen.

»Schönen Abend noch, Ihnen beiden. Klasse Spruch. Fein gemacht, Florian, ganz hervorragend. Wollen Sie nicht das Ehebett ausprobieren? Peinlich, peinlich hoch zehn«, beschimpfte Florian sich selbst, während er langsam in Boris’ Haus zurückging. Er war nur froh, dass Olivier nicht mehr da war, um die Schmach als Zeuge mitzuerleben.

»Du hast gesagt, du kennst den Typ kaum«, brach es aus Pierre heraus, kaum dass die Haustür hinter dem Deutschen geschlossen war.
»Das stimmt auch«, trumpfte Marie auf. »Er hat meine Hortensien angefahren, wir haben uns gestritten und jetzt kauft er mir Düngemittel, na und?« Sie ließ den Sack Dünger neben der Tür auf den Boden fallen.
»Und seine Hand? Hast du die verbunden?«
»Dir ist klar, Pierre, dass man dazu verpflichtet ist, erste Hilfe zu leisten? Natürlich habe ich ihn verarztet. Er ist vom Dach gefallen und hat einen miesen Schnitt im Handballen!«
Pierre holte tief Luft. Dann stieß er hervor: »Mal ehrlich, Marie –
macht er dich an, der schöne boche?«
Entgeistert starrte Marie ihren Freund an. »Dass du, mein bester Freund, solche Ausdrücke in den Mund nimmst, das hätte ich nie gedacht! Boche! Das ist Kriegsvokabular! Ich meine, unsere Großeltern haben den Weltkrieg mitgemacht; wenn noch jemand aus deren Generation verbittert gegen die Deutschen ist – aber wir, wir sind doch eine andere Generation! Ich bin mit dem Schulaustausch in Deutschland gewesen, mehrere Male, ich fand es schön da und immer wurde ich herzlich aufgenommen!«
Pierre war blass geworden. »Scheiße, du hast was mit diesem Deutschen«, stieß er aus.
»Was?« Marie meinte, sich verhört zu haben.
»Ja, klar, wenn du die Deutschen so verteidigst.«
»Was ist das denn für eine Logik, das ist ja absurd!« Marie kochte vor Wut.
»Na gut, das ging zu weit«, räumte Pierre ein, »aber warum regst du dich dann so auf? Das mit dem boche ist mit nur so rausgerutscht. Außerdem beschönigst du die Tatsachen. Die Leute, die dich in Deutschland aufgenommen haben, mochten Franzosen, na gut; aber es gibt auch andere. Hast du nie von diesem Kriegstourismus gehört, der gerade boomt? Da kommen Touristen in die Bretagne und in die Normandie, nur weil sie scharf darauf sind, Nazi-Bunker und so etwas zu sehen! Zu sehen, und zu filmen, und zu fotografieren …« Marie schüttelte unwirsch den Kopf. »Ich habe davon gehört, ja. Soweit ich weiß, gibt es verrückte Engländer und Amerikaner, die so etwas machen. Von Deutschen habe ich so etwas noch nicht gehört, und diesen Florian zu so einem abzustempeln, geht zu weit, auch wenn ich ihn nicht leiden mag. Pierre, du hast mir heute enorm geholfen, aber ich bekomme gerade Kopfschmerzen und es ist besser, du gehst.«
Pierre sah sie ungläubig an. »Du wirfst mich raus?«
»Nicht böse gemeint, aber ja.«
Pierre stand auf. »Darf ich dich noch einmal in den Arm nehmen?«, bat er, als er schon an der Tür stand.
Es war Marie, die Pierre an sich zog. Sie hasste Streit, auch wenn manchmal ihr hitziges Temperament dazu führte, dass sie damit anfing. Sie standen eine Minute da, eng umschlossen, dann beendete Pierre abrupt die Umarmung. Marie ließ die Tür hinter ihm in das Schloss fallen. Ihr Blick fiel auf den Sack Blumendünger. Sie hob die Hand an den schmerzenden Kopf.
6. Folgen des Lambig
Florian fühlte, er würde keine Ruhe finden, obwohl er vollkommen fertig war. Aber was sollte er tun, so ganz allein tun? Es gab nur einen Menschen, von dem er sich vorstellen konnte, freundlich aufgenommen zu werden. Kurz entschlossen schnappte er sich das neue Wörterbuch und die Packung Rocher, die er für Yvonne Le Roux gekauft hatte, und ging sie besuchen.
Er fand die alte Dame vor ihrem Haus auf der Bank sitzend. Sie strickte.
»Bonjour«, grüßte Florian vom Gartentor aus.
Yvonne sah auf. »Tiens, c’est vous. Alors, elle va comment, votre main? Ar hleñved kuit; Gand al louzaouer ez a ar gounid3.«
Florian begriff, dass die alte Dame nach seiner verbundenen Hand fragte, und sagte: »Alles gut – très bien! À propos: Merci, pour vous«, und er hielt ihr die Rochers hin.
Verblüfft, aber erfreut nahm die alte Dame die Süßigkeiten entgegen. »Vous voulez un apéritif?«, fragte sie dann.
Warum nicht? Florian nickte.
»Alors venez«, lud Yvonne ihn ein, ihr in ihr Haus zu folgen.
Ein enger Korridor, links und rechts jeweils zwei Türen; geradeaus die Treppe zum ersten Stock; unter dem Treppenabsatz eine weitere Tür, bestimmt zur Toilette. An den Wänden des Flurs eine großgeblümte Tapete, grün-weiß. Florian folgte Yvonne durch die erste Tür rechts und stand in der Küche.
»Asseyez-vous«, forderte die alte Dame ihn auf, und er setzte sich auf einen der vier Stühle an den rechteckigen Tisch. Während sie aus einem mit gedrechselten Säulen, Schnitzereien und Nägeln verzierten Küchenbüffet zwei geschliffene Gläser holte, ließ er den Blick weiter durch den kleinen Raum schweifen. Und staunte. Der hohe Kühlschrank mit dem verchromten Griff sah nach fünfziger Jahren aus. Das emaillierte Spülbecken daneben wirkte eher älter als jünger, auch wenn der Wasserhahn darüber neu war. Ein einfacher Gasherd und eine schöne alte Standuhr aus rötlichem Holz vervollkommneten die Einrichtung.
Nun stellte Yvonne eine Flasche auf den Tisch, dessen Platte durch eine gewachste Decke geschützt war. Man sah genau, wo Yvonne zu sitzen und zu essen pflegte, denn da war die einst blaue Decke mit ihren gelben Blumen ausgebleicht vom regelmäßigen Sauberwischen.
»C’est du Lambig breton«, erklärte Yvonne stolz, schenkte ein und schob ihm ein Glas zu. Sie setzte sich, hob ihres und rief aus: »Yehermat!«
»Yehermat«, wiederholte Florian, nahm einen Schluck und hustete.
»An tamm hag al lomm, A ra dezañ kaoud lamm.4 C’est fort, mais c’est bon«, sagte Yvonne, zufrieden schmatzend. Sie hatte ihr Glas auf einen Zug geleert.
»Jaja, sehr gut«, sagte Florian mit rauer Stimme. Er hatte nur nicht mit etwas so Scharfem zum Aperitif gerechnet. Er nahm die Flasche und las: »Lambig. Eau de vie de Cidre. 40%.«
»Encore un?«, fragte Yvonne, sobald auch Florian sein erstes Glas Cidre-Schnaps geleert hatte.

Auf dem kurzen Rückweg zu Boris’ Haus schwirrte Florian der Kopf und Mengleuff schien ein wenig zu wanken. Der Lambig war gut gewesen und das neue Wörterbuch war gut gewesen, denn jetzt wusste Florian, dass Yvonne Witwe war. Sie hatte zwei Kinder, Colette und Gilbert. Colette lebte in Paris und Gilbert in Quimper. Gilbert – Quimper. Das reimte sich, Florian kicherte. Enkel und Urenkel hatte Yvonne auch. Ganze sieben, Florian hatte Fotos gesehen.
Er fummelte den Schlüssel in das Schloss. Endlich bekam er die Haustür auf. Drinnen ließ er sich auf die Couch fallen. Wie viele Gläser von dem Zeug hatten sie noch gekippt? Es war jedenfalls Zeit, schlafen zu gehen. Aber warum war es dann noch so hell? Nein, da konnte man noch nicht ins Bett! Er rappelte sich von der Couch auf, ging in die Küche und drehte den Wasserhahn voll auf. Das kalte Wasser über dem Kopf brachte ihn ein wenig zu sich.
Mit dem Küchentuch rubbelte Florian sich die Haare ab, während er zurück in den Wohnraum ging und sich erneut auf die Couch fallen ließ. Sein Blick fiel auf das Tagebuch seiner Oma.
Schwungvoll blätterte er die Kladde auf. Er fand den Eintrag über das Haus der Madame Keroas wieder, wo die junge Marlene einquartiert worden war – das Haus, das noch im Krieg zerbombt worden war – und dann las er den nächsten Eintrag, vom 8. September 1942 …
»Obs stüürmt ooder schneit«, singt Traute, aber Gisela protestiert. Sie wollen ein Wanderlied singen, also Das Wandern ist des Müllers Lust. Marlene fällt mit ein, und zuletzt schließt auch Traute sich ihnen an.
Der Pfad ist zu eng, um nebeneinander zu gehen. Marlene führt den Zug an, ihr folgt Gisela, und Traute, die Langsamste, bildet das Schlusslicht. Jetzt wird der Pfad aber noch steiler, und Traute ruft von hinten: »Halt! Ich kriege keine Luft mehr!«
»Das Atmen ist der Traute Frust«, singt Marlene, und Gisela schüttelt sich vor Lachen.
»Habt ihr schon einmal etwas so Schönes gesehen?«, fragt Marlene ihre Freundinnen und lässt sich auf einen Felsbrocken sinken. Weit, weit unter ihnen liegt das Meer, und seine Farbe ist türkisblau.
»Ein echter Sommerfrischetag!«, ruft Gisela aus.
»Aber lasst uns weitergehen, zum deutschen Dorf«, drängelt Traute.
»Du hast doch gesagt, du kriegst keine Luft mehr beim Wandern«, bemerkt Gisela. Sie und Marlene wechseln einen Blick. Traute wollte unbedingt mitkommen bei ihrem Wanderausflug, dem ersten richtigen Ausflug, den sie machen. Dabei wandert Traute nicht gern, und manchmal ist sie ja so ein Spielverderber.
Marlene steht auf. Sie können auch weitergehen, wenn Traute das will. Gisela sagt, dann soll Traute auch vorgehen. Die gibt zurück, dass sie dann auch das Lied aussuchen will. Also singen sie doch das Panzerlied, aber nur einmal. Marlene weiß sowieso, warum Traute das singen will: weil ihr Bruder in der Wehrmacht und ein Held ist, behauptet Traute. Giselas Bruder ist in der Luftwaffe. Nur Marlene hat weder Bruder, noch Schwester, und kann da nicht mitreden.
Mit dem Schatten der Pinienhaine ist es bald vorbei, vor ihnen erstreckt sich baumlose Heidelandschaft.
»Könnt ihr irgendwo eine Ziege sehen?«, fragt Gisela, wegen des lustigen Namens des Südkaps von Crozon, Cap de la Chèvre.
»Nö«, sagt Marlene. »Nur Heidekraut, Farne und Brombeerranken. Und den Himmel und das Meer.«
»Aber das Dorf, das muss gleich kommen, oder?«, beharrt Traute.
»Jaaa«, sagen Marlene und Gisela im Chor.
Als Marlene sie auf das Summen der Bienen aufmerksam macht, meint Gisela, das gebe Heide-Honig. Die Bemerkung macht den Freundinnen Appetit und sie rasten, um ihre Stullen zu essen. Traute hat hartgekochte Eier mit, die sie teilen, und Marlene drei Äpfel. Was für ein Festessen! Wie schön ist es, Freizeit zu haben! Heute merkt man gar nichts vom Krieg. Heute ist es, wie Gisela gesagt hat: ein echter Sommerfrischetag!

Nach dem Essen haben sie Durst, aber kein Wasser mehr. Das Dorf taucht noch immer nicht auf, auch nicht nach einer Dreiviertelstunde weiterwandern. Das neue Dorf oder das deutsche Dorf, wie es genannt wird, ist ihnen zur Einkehr empfohlen worden. In Windeseile wurde es als Unterkunft für ihre Soldaten gebaut; was die zum Leben gebraucht haben, wurde angesiedelt. Jetzt ist es ein richtiges Dorf, und es wächst weiter.
Traute meint, vielleicht sind sie schon an dem Dorf vorbei, aber Marlene sagt, das kann nicht sein, sie sind immer die Steilküste entlang gegangen. Eben, erwidert Traute, das Dorf liegt bestimmt nicht so nah am Abgrund. Also schlagen sie sich nach rechts in die Heide. Tatsächlich geraten sie bald auf einen richtigen Feldweg, und dann sehen sie ein einsames Haus. Als sie näherkommen, lesen sie auf einem roten Schild über der Tür: Chez Gégé.
»Da können wir etwas trinken«, freut sich Gisela. Sie waren noch nie in einem einheimischen Lokal, ein echtes Abenteuer!
Drinnen müssen sich ihre Augen erst daran gewöhnen, dass es hier so viel dunkler ist. Ein Tresen, fünf oder sechs Tische. Nur ein alter Mann sitzt allein an einem Tisch. Sonst niemand.
»Es ist komisch hier, lasst uns zum Dorf weitergehen«, murmelt
Traute.
»Ach, papperlapapp!« Gisela setzt sich an einen Tisch, Marlene neben sie.
Der Wirt, den sie gar nicht gesehen hatten, kommt auf sie zu. »Bonjour, les demoiselles. Vous voulez boire quelque chose?«
»Cidre, s’il vous plaît!«, ruft Gisela aus.
»Du willst Alkohol trinken, am Nachmittag?«, fragt Traute entgeistert, als der Wirt gegangen ist.
»Wir sind nicht im Dienst, oder?« Gisela lacht.
Der Wirt kommt mit zwei Flaschen und drei Trinkschalen aus glasierter Keramik. »Trois bolées, du Doux et du Brut. Pour goûter«, der Wirt zwinkert ihnen zu.
Gisela schenkt ein. Sie stoßen an und sind überrascht: Der Apfelwein ist süß und süffig. Sie haben Durst, die Flasche ist schnell geleert. Sie haben nicht den Eindruck, viel Alkohol getrunken zu haben. »Deshalb hat er gleich zwei Flaschen hingestellt«, meint Marlene und schenkt aus der zweiten Flasche nach. Aber das ist ein anderer Cidre, herber als der erste. Sie streiten sich darüber, welcher der bessere ist.
Unterdessen hat sich die Bar gefüllt. Nach und nach sind immer mehr Leute gekommen. Alles nur Männer. Sie werden verstohlen von allen Seiten beobachtet, stellt Marlene fest; verstohlen und misstrauisch.
Aber der Wirt ist freundlich. »Alors, c’est bon, le Cidre?«, ruft er ihnen von hinter dem Tresen zu.
Die Freundinnen nicken und strahlen ihn an.
»Vous voulez goûter autre chose?«
»Was will er?«, fragt Traute, die nicht so gut Französisch kann.
»Er bringt uns noch etwas anderes zum Trinken«, erklärt Gisela. Auf dem Tablett des Wirts stehen drei kleine Gläser und zwei neue Flaschen. Er stellt alles vor ihnen auf den Tisch und schenkt aus der dunkelgrünen Flasche zuerst ein. Die Flüssigkeit in den Gläsern ist goldbraun.
»Das ist was Starkes«, sagt Traute misstrauisch.
»Komm schon, probiere«, sagt Marlene und hebt ihr Glas.
Ein Mann mit Mütze nickt ihr zu. »C’est bon, le Chouchenn«, ruft er. Marlene probiert. Sehr süß, und sehr stark, wie Traute gesagt hat.
»Schmeckt nach Honig«, sagt Gisela.
»Schmeckt nach Medizin«, sagt Traute und verzieht den Mund. Ein paar Einheimische lachen.
»Et après, le Lambig«, sagt der Wirt und zeigt auf die andere Flasche.
»Oh nein, tut es nicht, Mädels«, warnte Florian.
»Ich werde betrunken, wenn ich so viel und schnell trinke«, kichert
Marlene.
»Siehste, Oma.«
»Auf ex!« Gisela trinkt erst einmal das Glas mit dem Honigschnaps leer.
Kaum, dass sie ausgetrunken haben, schenkt der Wirt von dem anderen Zeug ein. Es sieht nicht sehr viel anders aus als das von eben.
»Yehermat«, ruft der alte Mann am Nachbartisch ihnen zu.
»Prost«, rufen sie zurück und trinken.
Marlene hustet, das brennt! Der alte Mann, der ihnen zugeprostet hat, lacht und klopft auf den Tisch. Aber Traute setzt ihr Glas ab und sagt: »Das ist lecker!«
»Dann nimm noch einen«, und Gisela gießt Traute nach.

Als sie aus der Bar in die Sonne treten, fühlt Marlene sich leicht und lustig. Jetzt weiß sie, was ein echter Schwips ist.
»Au revoir«, ruft Gisela lachend über die Schulter zurück.
»A la prochaine«, hören sie den Wirt zurückrufen.
Traute hat Mühe, geradezugehen. Sie hat am meisten von dem Lambig getrunken.
»Was singen wir jetzt?«, fragt Marlene.
Traute fängt schon wieder mit dem Panzerlied an, aber Marlene und Gisela übertönen sie mit Oh Tannenbaum. Danach einigen sie sich auf Kling Glöckchen klingelingeling.
»Jetzt sind wir schon wieder falsch«, ruft Traute aus, als sie bald darauf an den Abgrund treten.
»Hu, mir ist schwindelig«, giggelt Gisela.
»Wir wollten zum Dorf«, mault Traute.
»Du mit deinem Dorf! Du willst dir wohl ’nen Soldaten anlachen!« Gisela lacht überdreht.
Marlene muss mitlachen.
»Sei du nur still«, faucht Traute sie an, »so wie du bei Leutnant Rosen Liebkind machst!«
»Was? Rosen?!«, ruft Marlene aus, mehr belustigt, als empört.
»Stimmt schon, dass er dich auffallend oft anspricht«, bemerkt Gisela und legt den Kopf schief. »Viel Spaß mit dem. Gratulation, Marlene!«
»Du spinnst ja«, protestiert Marlene, nun doch verärgert.
»Nein, Gisela hat Recht«, setzt Traute nach.
»Und du, sei still! Du willst ja nur in das Dorf, weil du sowieso zu faul zum Wandern bist!« Und sie äfft Trautes Gejammer von vorhin nach: »Ich krieg’ keine Luft mehr! Ich bin außer Atem! Oh lasst uns atemlos das Panzerlied singen!«
Gisela kann nicht aufhören zu lachen.
Traute reißt die Augen auf, wendet sich ab und beginnt zu laufen.
»Was ist jetzt?«, fragt Marlene.
»Jetzt ist sie beleidigt«, gibt Gisela prustend zurück.
»Traute, es war doch nur Spaß«, ruft Marlene halbherzig, aber die Beleidigte rennt nur noch schneller.
»Vorsicht!«, ruft Gisela noch, plötzlich nüchtern, aber da passiert es: Traute rutscht auf dem Geröll aus – und stürzt in den Abgrund!

Sie weiß nicht, wie sie dorthin gekommen ist, aber als Marlene wieder klar denken kann, starrt sie in die Tiefe.
»Traute! Nicht bewegen!«, schreit Gisela neben ihr.
Gut vier Meter unter ihnen liegt Traute auf dem Rücken. Ein Auswuchs des Felsens hat sie gerettet. Unter ihr, gähnende Leere; dann, ganz weit unten, das anrollende Meer. Trautes Bein sieht merkwürdig verrenkt aus.
»Wir brauchen Hilfe«, sagt Marlene, »aus der Bar!«
»Du oder ich?«, fragt Gisela. Marlene stürzt los.
Der Schock hat sie ernüchtert. Sie läuft, was sie laufen kann. Der
Weg kommt ihr weit vor. Endlich, das Chez Gégé!
»Hilfe, à l’aide«, bringt Marlene hervor. Sie sieht in fragende, fast irritierte Gesichter. Sind die Leute hier noch mehr geworden? Alles ist so verqualmt.
Der Wirt tritt auf sie zu.
»Traute, mon amie! Tombée!« ruft Marlene verzweifelt.
Der Wirt nickt langsam. Er verschwindet in einem Nebenraum. Als er zurückkommt, trägt er ein zusammengerolltes Seil und eine Schaufel über der Schulter. Vier weitere Männer begleiten sie zu der Absturzstelle.

»Endlich!«, ruft Gisela ihnen entgegen.
Der Wirt schaut hinab. Traute liegt noch so da wie vorhin. Sie schluchzt hysterisch, will oder kann sich nicht bewegen.
Während einer der Männer das Seil um seine Hüften knotet, gräbt ein anderer eine Rille. Marlene begreift. Die Rille soll den Füßen der Männer Halt geben, die das Seil halten werden.
Es ist so weit. Der Angeseilte klettert zu Traute. Er beugt sich über sie, tastet sie ab. »C’est son genoux!«, ruft er nach oben.
Die Männer beraten sich. Marlene und Gisela schauen sich bange an.
Einer geht fort. Kommt Minuten später wieder, mit einem weiteren Seil und in Begleitung eines Einheimischen, der auffallend muskulös und groß ist. Der trägt eine Bahre, wie die aus dem Feldlazarett, und eine Decke. Wo haben die diese Bahre her, fragt sich Marlene? Aber sie geht dieser Frage nicht nach. Hauptsache, sie retten Traute!
Der Große wird abgeseilt. Marlene beugt sich vor. Jetzt ziehen sie den Mann, der Traute untersucht hatte und der bei ihr geblieben war, wieder nach oben. Dann binden sie die Bahre und die Decke an das Ende des Seils und lassen beides herunter. Auf der Felsnase ist kaum Platz, um die Decke über der Bahre auszubreiten. Der Große muss sich breitbeinig über Traute stellen, um das zu tun.
Marlene tritt einen Schritt zurück. Sie kann nicht länger hinabsehen. Ihr wird schlecht, sie erbricht sich. Wortlos reicht ihr einer der Umstehenden ein Taschentuch.
Es dauert noch lange, bis Traute auf die Bahre gebettet, in die Decke gerollt und mit dem Seil an der Bahre festgezurrt ist. Dann ziehen die Männer sie nach oben.
Am späten Nachmittag kommen Marlene und Gisela in dem Dorf an, das Traute so gerne sehen wollte. Sie liegt apathisch auf der Bahre, die stets zwei ihrer Helfer abwechselnd tragen.

Wochen später bestätigt sich die Befürchtung des Arztes: Trautes Knie ist steif. Sie wird ihr Leben lang lahm bleiben.
Es ist ihre Schuld, Marlenes. Ihre und Giselas; sie haben sich beide über Traute lustig gemacht. Deshalb ist die zu nah am Abgrund fortgerannt und hinuntergestürzt. Aber noch mehr ist es ihre Schuld, weiß Marlene; sie hat Traute zuletzt nachgeäfft. Sieht Gisela das genauso? Marlene weiß selbst nicht, wie es dazu kommt, es passiert einfach: Ihr Schuldbewusstsein schiebt sich zwischen sie und ihre einst beste Freundin. Marlene und Gisela verlieren Kontakt. Sie grüßen sich noch, wenn sie sich sehen, aber mehr nicht.