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Anfangs war mein Vater noch vorsichtig, Borchers’ Einladung zur Expedition 1932 anzunehmen. Aber es wurde deutlich, dass sich die jeweiligen Pläne von Borchers, Regener und Hoerlin zum gegenseitigen Vorteil kombinieren ließen. Borchers suchte herausragende Bergsteiger für sein Team und wollte gleichzeitig wissenschaftliche Untersuchungen fördern. Regener hing an seinem emsigen Assistenten und sah eine Gelegenheit, die Erforschung der kosmischen Strahlung durch Beobachtungen in großen Höhen nahe dem Äquator vorwärtszubringen. Mein Vater stand gerade am Beginn seiner ernsthaften Karriere, die er nicht aufgeben wollte – und doch war da der Ruf der Berge. Südamerika war aus einem weiteren Grund besonders faszinierend für ihn: Einer der Helden seiner Kindheit, Alexander von Humboldt, war berühmt für seine Forschungsreisen auf diesem Kontinent. War dies eine Chance, in Humboldts wissenschaftliche und bergsteigerische Fußstapfen zu treten?
Die Zeit und die Umstände waren perfekt. Rund um die Welt wurde eine hitzige wissenschaftliche Debatte um das Wesen der kosmischen Strahlung geführt – bestand sie aus Photonen oder Protonen? Protonen, die Kerne der Wasserstoffatome, sind Teilchen mit positiver elektrischer Ladung und Grundbestandteile größerer Atomkerne. Im Gegensatz dazu sind Photonen im Wesentlichen Teilchen elektromagnetischer Strahlung, d. h. Licht, und tragen keine elektrische Ladung. Einer der führenden Physiker auf diesem Gebiet, Millikan, war ein tiefreligiöser Mann und argumentierte, kosmische Strahlen seien Photonen. Er beschrieb sie populär als „Geburtsschrei“ von Atomen und behauptete, sie wären von Gott ausgesandt, um der Zunahme der Entropie („Unordnung“) im Universum entgegenzuwirken. Diese Sicht wurde von anderen Wissenschaftlern in Frage gestellt, vor allem durch Millikans Landsmann Arthur Compton, ebenfalls ein Nobelpreisträger.64 Es war ein Kampf zwischen den Nobel-Giganten, der überdeutlich anhaltende Spannungen zwischen Religion und Wissenschaft illustrierte – Spannungen, die sich bis heute fortsetzen.
Die Antwort auf das Rätsel der kosmischen Strahlung lag im Verstehen der Auswirkungen des Erdmagnetfelds auf die Strahlung. Ein entscheidender Unterschied zwischen Photonen und Protonen ist, dass Letztere aufgrund ihrer elektrischen Ladung den Einfluss des Erdmagnetfelds spüren, während die ungeladenen Photonen dies nicht tun. Die wechselnde Stärke des Erdmagnetfelds in Abhängigkeit von der geografischen Breite bedeutet, dass sich in einem Fall die kosmische Strahlung auf den Äquator hinbewegen würde, im anderen Fall nicht. Zusammengefasst: Kosmische Strahlung würde sich nicht nur mit der Höhe unterschiedlich verhalten, wie zum Beispiel zwischen den Alpen und dem Bodensee (wo Regener Experimente durchführte), sondern auch mit der geografischen Breite – wie zwischen Stuttgart und Lima. 1932 waren drei unterschiedliche Forschungsgruppen auf der Suche nach dem Breiteneffekt: Compton mit seinem Team verteilte sich auf fünf Kontinente, Millikan bereiste den Polarkreis und schickte einen seiner Doktoranden nach Südamerika, und Regener schickte Hoerlin nach Peru.
Die fünfzehn Monate vor der Abreise der Expedition am 31. März 1932 mühte sich mein Vater mit der Anfertigung und Verbesserung der Ausrüstung ab. Er versuchte, sie widerstandsfähig genug gegenüber der langen Reise, der Hitze und Feuchtigkeit der Tropen, dem Transport auf Maultieren und Trägern und schließlich den verheerenden Höhenstürmen zu machen. Obwohl Borchers seine Forschungen ohne Einschränkungen unterstützte, ließ ihn die Ankunft des „Reisegepäcks“ meines Vaters am Bremer Hafen nach Luft schnappen: 550 Kilo an Ausrüstung, zwei Kubikmeter im Volumen. „Du hast wohl die Kaaba aus Mekka geraubt!“, rief Borchers aus.65
Während der fünfwöchigen Reise vertrieben sich die Bergsteiger – unter ihnen Pallas’ Kletterpartner Erwin Schneider – die Zeit, indem sie tagsüber Shuffleboard spielten (eine Art Curling auf dem Schiffsdeck) und abends Spanisch lernten. „Der Einzige, der von Anfang an wirklich intensiv arbeitete – war Hoerlin.“ Stundenlang nahm er im stickig heißen, von den Dieselabgasen der Motoren durchdrungenen Frachtraum des Schiffs Messungen vor, wo seine Instrumente installiert waren.66 Als das Schiff die Hitze und Feuchtigkeit des Panamakanals durchfuhr, wurden die Bedingungen an Bord unerträglich.
Bei der Fahrt durch den 77 Kilometer langen Kanal richtete sich die Aufmerksamkeit von jedem an Bord auf diesen überwältigenden Triumph der Ingenieurskunst. Ein kompliziertes System aus drei massiven Schleusen, von denen jede einzelne ein Schiff um gut 25 Meter anhob, erlaubte die Passage zwischen den großen Ozeanen Atlantik und Pazifik. Der Frachter erreichte den Pazifik Ende April, wo er bei Vollmond und unter einem sternenklaren Himmel von einem Schwarm Delfine wie von einer Eskorte begrüßt wurde. Der Zauber dieser Begrüßung der Gruppe in Südamerika verstärkte sich noch, als sie bei Sonnenaufgang die schneebedeckte Kette der Cordillera im Sonnenlicht erglühen sah. Schneider war so inspiriert von dem Anblick, dass er es „Gottes eigenes Land“ nannte – eine Bezeichnung, die er noch 35 Jahre später benutzte.67

Die Täler der Cordillera Blanca in den Anden
Die Verbindung zwischen Deutschland und Südamerika ist historisch gewachsen. Der deutsche Kosmopolit und die Inspiration meines Vaters, der Wissenschaftler, Forscher und Naturalist Alexander von Humboldt (1769–1859), hatte viele Jahre in Südamerika zugebracht. Wie sein schriftstellerisches Gegenüber, der Dichter und Freund Johann Wolfgang von Goethe, reichte Humboldts Berühmtheit über die Grenzen seiner Heimat hinaus. Unter seinen Bekannten und Bewunderern waren Napoleon, der venezolanische Unabhängigkeitskämpfer Simon Bolivar und der amerikanische Founding Father Thomas Jefferson. Humboldt legte die Grundlagen für die moderne Geografie und Meteorologie und war darüber hinaus ein Pionier bei der Erforschung des Erdmagnetfelds. Außerdem war er ein Bergsteiger, der 1802 am Chimborazo in Ecuador einen damaligen Höhenrekord von rund 5900 m aufstellte, auch wenn er den Gipfel nicht erreichte.68 Humboldts kleines Buch mit dem passenden Titel Über einen Versuch, den Gipfel des Chimborazo zu ersteigen69 hatte mein Vater mit 12 Jahren von seinem Vater geschenkt bekommen. Es begleitete Pallas auf seiner Reise nach Peru. Heute steht es in meinem Bücherregal, abgegriffen vom vielen Lesen meines Vaters, während er zweifellos davon träumte, Humboldts Spuren zu folgen. Zeit seines Lebens bewunderte Hoerlin, wie Humboldt seine Unternehmungen mit Beiträgen zur Wissenschaft verbunden hatte.70 Der Gedanke machte ihm besondere Freude, dass die Untersuchung der Effekte des Magnetismus in großen Höhen zwei bedeutende Vermächtnisse Humboldts kombinierte.

Alpamayo, der perfekte Berg
Spanische Übersetzungen von Humboldts Schriften gab es seit 1822 und sie halfen, seinen Ruf dauerhaft zu festigen. Weitere Beziehungen zwischen Deutschland und Südamerika wurden mit Handelsabkommen untermauert, mit deutschen Siedlungen und – überraschenderweise – mit zwei Sektionen des Deutschen und Oesterreichischen Alpenvereins in Chile. Dank dieser starken Verbindungen erwarteten die Einheimischen mit Freude die Ankunft der Expedition von 1932 in Peru. Als die Gruppe am 2. Mai in der kleinen Hafenstadt Casma an Land ging, stellte die peruanische Regierung alle Zollformalitäten zurück und transportierte sie (samt Gepäck) zügig nach Huaraz, der Provinzhauptstadt. Ihre Ankunft wurde mit einem offiziellen Fest gefeiert, das bis zum frühen Morgen dauerte und an dem hohe Regierungsbeamte, der oberste Verwaltungsbeamte, der Bischof und Offiziere des Militärs teilnahmen. Auf das Fest folgte die ernüchternde Nachricht von Unruhen in Peru, die einen bevorstehenden anti-imperialistischen Aufstand ankündigten.71
Meinem Vater fiel auf, dass er bereits zum zweiten Mal in ein Land kam, das am Rand einer Revolution stand. Erst Indien, nun Peru. Während des folgenden Monats erkundete die Expedition die Cordillera Negra (eine der Cordillera Blanca vorgelagerte Bergkette) und das Land wirkte friedlich. Doch als sie Yungay ansteuerten, die Stadt, die als Ausgangsbasis für eine Besteigung des Nevado Huascarán dient, schallte immer wieder Gewehrfeuer durch die Vorberge. Am 13. Juli riegelte ein Aufstand von Reformisten Yungay ab, als die Expedition gerade dabei war, Träger, Pferde und Packesel für den Marsch zur Schneegrenze auszuwählen. Fast hätten sie ihre Pläne aufgeben müssen. Eine Order war ausgegeben worden, alle Lasttiere in der Region zu beschlagnahmen, was im Endeffekt die Expedition gelähmt hätte. Die Gruppe war sehr erleichtert, als ein Stellvertreter der Revolutionskräfte Borchers zuflüsterte, er könne die Order nicht ausführen, wenn die Tiere den Ort verließen. „Den Rat befolgten wir gerne“, meinte der Expeditionsleiter72 und machte sich geschwind mit seinen Bergsteigern, neun Trägern, sechs Pferden und sieben Packeseln auf den Weg.
Während der nächsten sechs Monate bestieg das Cordillera-Blanca-Team fünf Gipfel über 6000 Meter, 14 Gipfel zwischen 5000 und 6000 Metern, und erkundete viele weitere. Unter den erkundeten Gipfeln war auch der Alpamayo, das „Matterhorn der Anden“, eine beeindruckende Pyramide, die viele für den schönsten Berg der Welt halten.73
Die bedeutendste Besteigung war die des Nevado Huascarán, der nach einem Inkafürsten und rechtmäßigen Erben des Inkareichs benannt war. Der Berg weist zwei ausgeprägte Gipfel auf. Die umstrittene Besteigung des niedrigeren Nordgipfels durch die Amerikanerin Annie Peck 1908 führte zu einer bitteren Kontroverse um die Frage, ob sie oder ihre Rivalin, Fanny Bullock Workman, den Höhenrekord für Frauen hielt. Peck bestand auf den Titel, zumal sie behauptete, der Huascarán Norte sei höher als der von Bullock Workman 1906 bestiegene Pinnacle Peak (6930 m) im Himalaya.74 Der sehr öffentliche Disput war besonders unglücklich, da beide Frauen viele Gemeinsamkeiten hatten. Beide stammten aus wohlhabenden amerikanischen Familien, waren erfahrene Bergsteigerinnen und sprachen sich für das Wahlrecht von Frauen aus – was sie nicht selten zur Zielscheibe von Verachtung und Spott männlicher Bergsteiger machte.75 Um der Stichelei die Krone aufzusetzen, hatte sich Peck vor der Besteigung des Nevado Huascarán sogar einen Schnurrbart aufgemalt.

Kletterei durch absturzbereite Eis- und Schneeblöcke am Nevado Huascarán
Vor diesem Hintergrund und anhaltenden Gerüchten, Peck habe den niedrigeren Gipfel gar nicht erreicht, setzte sich die Expedition 1932 den höheren Südgipfel zum Ziel, den Peck nicht versucht hatte. Damit erkannten sie die Besteigung des Nordgipfels durch Peck an, die dieser im Alter von 58 Jahren im sechsten Anlauf gemeinsam mit zwei erfahrenen Schweizer Bergführern gelungen war. Der Nevado Huascarán weist enorme Spalten, brüchige Schneebrücken und fürchterliche Seracs (Eisabbrüche) auf, welche den Weg zur Garganta, dem Sattel zwischen Nord- und Südgipfel, blockieren.
Nachdem sie einen Weg durch das verschlungene Labyrinth gefunden hatte, hielt die Seilschaft von 1932, bestehend aus vier Deutschen und einem Österreicher76, auf den Südgipfel zu. Sie wateten durch Tiefschnee und versuchten sich von der monotonen Stapferei abzulenken, indem sie zunächst Schritte und dann auf Vorschlag des Expeditionsarztes ihren Pulsschlag zählten. Um 17 Uhr hatten alle den Gipfel erreicht. Schnell setzten sie einen 16 Meter hohen Fahnenmast, den sie in Segmenten hinaufgetragen hatten, zusammen und hissten die peruanische Flagge „… als Zeichen des Anstands“77 auf dem höchsten Berg des Landes. Wenige Tage später reichten sie in Yungay ein Teleskop unter den skeptischen Einheimischen herum, die noch immer Zweifel an Annie Pecks Besteigung hegten.78 So sahen sie mit eigenen Augen den Beweis, dass der Gipfel „ihres“ Huascarán erreicht werden konnte: Die Flagge war noch aus 19 Kilometern Entfernung sichtbar und blieb fünf Wochen lang stehen. Die Dorfbewohner schienen mehr darüber erfreut zu sein, ihre Landesflagge auf dem Gipfel wehen zu sehen, als über die erfolgreiche Gipfelbesteigung durch die „verrückten Gringos“. Traurigerweise stürzte durch ein Erdbeben 1970 ein gewaltiger Eis- und Felsblock vom Nevado Huascarán hinab und löste einen gigantischen Erdrutsch aus, der Yungay und einen Großteil seiner 19.000 Einwohner auslöschte.

Nevado Huascarán, der höchste Berg Perus
Nach dem Erfolg am Nevado Huascarán teilte sich die Gruppe auf. Die einzelnen Teilnehmer führten Erstbesteigungen von einigen zuvor unbestiegenen Gipfeln durch79 und gingen ihren jeweiligen topografischen, geografischen und kulturellen Forschungen nach. Was die Kartierung der Region anging, war es der Beginn einer langen Tätigkeit des angehenden Kartografen Schneider, der 1936, 1939, 1950 und 1954 nach Peru zurückkehrte.80 Heute verdeutlichen seine Aufnahmen und Messungen den dramatischen Rückgang der Gletscher über die Jahre. Seine genau gezeichneten Karten werden noch immer genutzt und von den peruanischen Bergführern gepriesen. Mein Sohn Noah und seine Verlobte Katherine erfuhren dies selbst, als sie im Herbst 2006 in Peru bergstiegen. Als Noah erwähnte, dass sein Großvater an der Expedition 1932 teilgenommen hatte, war sein Bergführer begeistert und zeigte ihm die Karte, die er benutzte – eine Landkarte des Deutschen und Oesterreichischen Alpenvereins, erstellt von Erwin Schneider. Das Exemplar meines Vaters hängt in einem edlen Rahmen im Schlafzimmer von Noahs und Katherines kleinem Sohn.

Nestor Montez mit Hoerlins Geräten zur Messung der kosmischen Strahlung
Hoerlin hatte im Hochland der Cordillera Blanca mit seinen wissenschaftlichen Experimenten, den Messungen der kosmischen Strahlung, begonnen. Beim Aufstellen seine schweren Messinstrumente assistierte ihm ein bemerkenswerter Träger, Nestor Montez. „Der intelligente Mann überraschte mich mit Kenntnissen über unser Sonnensystem, […] der anderen Planeten, […] und auch politischen Gesprächen“, so mein Vater.81
Nestor82 war der kleinste unter den Trägern und besaß eine schier unersättliche Neugierde in Bezug auf die Forschung nach der kosmischen Strahlung. Mein Vater brachte ihm die Grundlagen bei, während Nestor ihn im Gegenzug über die politische Bewegung der APRA (Alianza Popular Revolucionaria Americana) aufklärte. Wie schon in Indien sympathisierte mein Vater mit der Revolution. Die Kämpfe hielten zehn Jahre an und kosteten schließlich auch Nestor das Leben.
Es war kein Problem, die sperrigen Gerätschaften Hoerlins auf einem Packesel zu transportieren. Sie jedoch zu einem 6000 Meter hoch gelegenen Beobachtungspunkt zur Messung der kosmischen Strahlung zu tragen, war etwas anderes. Das Strahlenmessgerät wog rund 300 Kilo. Es wurde zerlegt und von Trägern auf den Hualcan transportiert, einen der leichteren, aber dennoch nicht ungefährlichen Gipfel. Hoerlin errichtete dort eine Reihe von Messstationen, in denen er jeweils alleine einige Tage zubrachte: in der ersten auf 4700 m zwanzig Tage, in der nächsten auf 5500 m fünfzehn Tage und in der letzten auf 6100 m sechs Tage. Die letzte Station auf einer Schneekuppe machte es ihm einfach, während seines Aufenthalts mehrfach den nahen Gipfel (6122 m) zu besteigen.
Obwohl der Hualcan relativ einfach zu besteigen war, erwies er sich in anderer Hinsicht als unglückliche Wahl. Aufgrund seiner Lage innerhalb der Bergkette und zu den umliegenden Tälern zog er beständig eine Wolkendecke, heftige Gewitter und tosende Stürme an. Unter diesen furchteinflößenden Umständen und allein waren die Tage für Pallas quälend lang, und zu häufig verhinderte das Wetter jegliche Forschungsarbeiten. An einigen Tagen blieb dem einsamen Bergsteiger-Forscher nichts anderes übrig, als in seinem Zelt auszuharren. Seine einzige Begleitung waren attraktive, glänzende und – in einigen Augen – übergewichtige Instrumente, die sich ohne Entschuldigung in der engen Behausung breitmachten und ihm kaum Platz für seinen Schlafsack ließen. Andererseits dienten sie als sichere Verankerung für das Zelt, wenn Winde mit Sturmstärke drohten, ihn vom Berg zu blasen. In den schlimmsten Momenten der Gewitter verzog sich Pallas in eine Schneehöhle, die er gegraben hatte, da er befürchtete, das Zelt und sein Inhalt würden Blitze anziehen. Ein ums andere Mal riss der Himmel auf und erlaubte ihm, die Monotonie zu unterbrechen und den nahen Südgipfel des Hualcan zu besteigen, von wo aus er die spektakulären Berge der Umgebung bewundern konnte. „Da saß ich zufrieden und glücklich vor dem Zelt und freute mich der Schönheit [sic] dieser Hochgebirgslandschaft und der weiten Welt. Stundenlang konnte ich so sitzen …“83

Die höchste Messstation für kosmische Strahlung auf der Welt: Hoerlins Zelt mit dem Gipfel des Hualcan im Hintergrund
An diesen seltenen Tagen stapfte eine Handvoll Träger – meistens mit Nestor – in Begleitung des 47-jährigen Borchers den Berg hinauf, brachten Nachschub an Verpflegung und halfen, die Messinstrumente zu bewegen. Sehr zur Freude Hoerlins brachten sie Briefe von der Familie und Freunden – sicherlich einer der welthöchsten Postdienste. Diese willkommenen Abwechslungen, die mehr vom Wetter als von der Planung der wissenschaftlichen Arbeit bestimmt wurden, durchbrachen für kurze Zeit Hoerlins Einsamkeit, doch ansonsten war er über insgesamt 45 Tage allein. Pallas stellte damit vielleicht einen Rekord der anderen Art auf: die längste Zeit, die eine einzelne Person in dieser Höhe zugebracht hatte.84 Sicher brach er den Rekord für die Aufstellung und Besetzung der höchsten Messstation für kosmische Strahlung weltweit.
Bei Pallas’ Rückkehr ins Basislager herrschte große Freude. Den Teilnehmern der Expedition lag sehr viel am Erfolg seiner Forschungsarbeit. Seine Messinstrumente waren ein fester Bestandteil des Unternehmens geworden, eine geteilte logistische Herausforderung, die die körperliche und emotionale Unterstützung des ganzen Teams forderte. Borchers hatte eine Atmosphäre der gegenseitigen Unterstützung und Fürsorge geschaffen, weshalb Pallas ihn verdienterweise als „meinen Bergvater“85 bezeichnete. Mein Vater war in Hochstimmung über seine Resultate und seine Rückkehr in die „Zivilisation“, aber er schien um mindestens dreißig Jahre gealtert. Er sah faltig und abgemagert aus, sein glattes, jugendliches Gesicht hatte unter dem rauen Wetter und der Austrocknung in der Höhe gelitten. Als er ein Foto von sich selbst an seine Familie schickte, schrieb ihm seine Schwester zurück: „Mutter guckte das Photo an und sagte: Ist das mei Bua? Nein, er ist es nicht. Oder doch? Nein, nein, der ist es nicht.“86 Sie konnte ihren eigenen Sohn nicht wiedererkennen. Nach dem Leben in gefälligeren Höhen war das altersgemäße und vertraute Aussehen meines Vaters bald wieder hergestellt.
Die wesentlichen Ziele der Expedition waren erfüllt und ihre Teilnehmer trennten sich. Einige blieben, um weitere geologische Forschungen durchzuführen, andere, um weiter bergzusteigen87, und Hoerlin, um weitere Messungen vorzunehmen. Neben den Messungen auf Meereshöhe während der fünfwöchigen Anreise von Deutschland nach Peru konnte er weitere Ergebnisse während der einwöchigen Bootsfahrt von Peru nach Chile und der neunwöchigen Rückreise durch die Magellanstraße gewinnen.
Hoerlins südlichste Messungen, durchgeführt auf 42° südlicher Breite, waren fast genauso weit vom Äquator entfernt wie Hamburg, wo die nördlichsten Messwerte genommen wurden (53° N). Indem er Messwerte von beiden Orten verglich, konnte Hoerlin den Äquator-Effekt auf die kosmische Strahlung nachweisen und die Genauigkeit seiner Instrumente überprüfen. Seine Messergebnisse zeigten, grafisch aufgezeichnet, für Stärke und Richtung der kosmischen Strahlen ein fast symmetrisches Verhältnis zwischen beiden Erdhalbkugeln.
Ein amüsanter Aspekt des internationalen Wettbewerbs bei der Erforschung der Abhängigkeit der kosmischen Strahlung von der geografischen Breite wurde Anfang Dezember 1932 deutlich, als Hoerlin in Lima auf einen Frachter nach Europa wartete. Dort traf er die Assistenten von Millikan und Compton, den beiden Konkurrenten. Obwohl der Zeitpunkt des Treffens ein verblüffender Zufall war, war es doch nicht völlig zufällig, dass die ähnlichen Forschungsunternehmen auf der südlichen Hemisphäre in Kontakt kamen. Millikans Assistent war in den Bergen Südperus unterwegs gewesen, während Comptons Assistent Messwerte vom Dach eines Hotels in Lima aus genommen hatte. Die drei tauschten ihre Erfahrungen in einer spontanen Konferenz über kosmische Strahlung aus. Keiner der anderen Forscher hatte eine ähnlich reichhaltige und detaillierte Datensammlung über kosmische Strahlung in den Anden wie Hoerlin, aber beide nahmen an größeren Projekten teil, die über die ganze Welt ausgedehnt waren. Für meinen Vater war es der erste Kontakt mit der amerikanischen Wissenschaftsszene, die sich kühn in einem Forschungsgebiet zu etablieren begann, das bis dahin von Europäern dominiert worden war. Ein neues Zeitalter bahnbrechender Wissenschaft dämmerte, und die Sonne ging in den Vereinigten Staaten auf. Fünf Jahre später sollte Hoerlin selbst ein Teil dieser amerikanischen Szene sein.

Hoerlin vor seinen Forschungen zur kosmischen Strahlung am Nevado Huascarán.

Hoerlin, ausgedörrt, wettergegerbt und glücklich nach seiner einsamen Arbeitsschicht auf 4700 bis 6100 m am Nevado Huascarán.
Auf der Versammlung der American Association for the Advancement of Science zu Weihnachten 1932 nahmen Millikan und Compton an einem Symposium über kosmische Strahlung teil. Mein Vater befand sich zu diesem Zeitpunkt noch auf dem Frachtschiff nach Deutschland. Die beiden Wissenschaftler gingen kaum zivilisiert miteinander um und weigerten sich am Ende der Sitzung sogar, sich die Hand zu geben. Die Presse stürzte sich auf ihre beißende Debatte, welche schnell mit dem Bild von Wissenschaftlern als „[…] nüchtern, sachlich, vorsichtig, genau – und damit wert, gehört zu werden“ aufräumte. „Hier nun waren zwei Nobelpreisträger, die alle Leidenschaft und Fehlbarkeit gewöhnlicher Menschen zeigten.“88
Im Februar 1933 setzten sich schließlich Comptons Erkenntnisse durch: Die Abhängigkeit kosmischer Strahlung von der geografischen Breite war unbestreitbar und kosmische Strahlen somit definitiv Protonen. Mit den Worten eines angesehenen Wissenschaftshistorikers: „[Millikan] sprach fortan nicht mehr von Geburtsschreien der Atome und überließ es dem Klerus zu entscheiden, ob der Schöpfer noch immer am Werk sei.“
Erst im März beendete mein Vater seine Reise und kehrte nach Deutschland zurück. Seine Forschungsergebnisse, die mit jenen Comptons übereinstimmten, wurden erst im Juli 1933 in der renommierten Zeitschrift Nature veröffentlicht. Compton hatte seine Ergebnisse bereits in der Märzausgabe der Physical Review publiziert. Angesichts des großen Bekanntheitsgrads von Compton sowie der Größe und Ausdehnung seiner Forschungen – etwa sechzig Mitarbeiter und acht Expeditionen rund um die Welt – ist es nicht überraschend, dass ihm hauptsächlich die Feststellung des geomagnetischen Effekts auf kosmische Strahlung zugeschrieben wird. Aber wie in vielen anderen Bereichen der Wissenschaft war auch diese Entdeckung mehreren Forschern geschuldet. Einer davon war mein Vater.
KAPITEL 4: WO BÜCHER VERBRANNT WERDEN






