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Aufstieg durch die drohenden Seracs des Nanga Parbat ins Lager 2

Die Leiche Alfred Drexels, eingehüllt in die Hakenkreuzfahne – ein nachhaltiges Symbol der Politisierung des Bergsteigens (Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Deutschen Alpenvereins)
©Deutscher Alpenverein, München
Fotos der in eine Hakenkreuzfahne eingehüllten Leiche Drexels gingen um die Welt und wurden zu einem sofortigen und lebhaften Zeichen der Nazifizierung des deutschen Bergsteigens.172 Merkl hatte darauf bestanden, dass Fotos und Filmaufnahmen von der Bergung der Leiche und dem anschließenden Begräbnis gemacht wurden.

Noch lachen die Sherpas in Lager 4. Später zählten sie zu den Opfern der Expedition.
Dieser publikumswirksame und politische Umgang mit Drexels Tod ließ Schneider auf die Barrikaden gehen. Aufs Schärfste kritisierte er Merkl für diese von ihm so empfundene Respektlosigkeit – und sprach damit auch für andere Mitglieder der Expedition. Sein direkter Angriff auf Merkls Autorität machte diesen so wütend, dass er drohte, Schneider vom Berg zu verbannen. Schneiders Ärger wiederum ging so weit, dass er hinterfragte, ob Merkl den Tod Drexels aus kommerziellen Gründen filmen wollte, da Merkl den Nationalsozialisten einen inspirierenden Film versprochen hatte.173 Wie die meisten Nanga-Parbat-Bergsteiger lehnte Schneider den Nationalsozialismus ab, tolerierte aber mit Blick auf die bergsteigerischen Ziele den nationalistischen Einschlag der Expedition.174 Doch der Fall Drexel überschritt für ihn die Toleranzgrenze.
Die Stimmung in der Expedition verbesserte sich durch die fast einmonatige Verzögerung zwischen dem ersten Versuch am 7. Juni und dem Aufbruch von Lager 4 zum zweiten Versuch (am 1. Juli) nicht gerade. Der vorgebliche Grund für die lange Pause im Basislager war das Warten auf den Nachschub von Tsampa, geröstetem Gerstenmehl, einem unverzichtbaren Bestandteil der Ernährung der Sherpas. Einer von vielen Nachteilen einer Großexpedition war die Notwendigkeit, für die vielen Teilnehmer ausreichend Verpflegung zu stellen – was einen entsprechenden logistischen Aufwand nach sich zog. Der Vorrat an Tsampa war zur Neige gegangen und die Sherpas rührten sich nicht von der Stelle, bevor er nicht wieder aufgefüllt war. Es dauerte 17 Tage, bis Tsampa ins Basislager geliefert wurde – eine Zeit, in der der Widerstand gegen Merkls Führung gärte. Das Wetter war sonnig, der Himmel wolkenlos. Wertvolle Zeit wurde vergeudet.

Die Route durch den Rakhiot-Eisbruch führte über zerbrechliche Schneebrücken und tiefe Spalten.
Die Spannungen zwischen Schneider und Merkl hielten an. Und in vertraulichen Briefen an die Heimat schrieb der stellvertretende Expeditionsleiter Willo Welzenbach von tiefgreifendem Ärger über Merkl: „Merkl handelt zunehmend wie ein Diktator, der keine Kritik zulässt. Er scheint wirklich zu glauben, dass eine feste und kompromisslose Haltung seine Autorität festigen und seinen Minderwertigkeitskomplex, den er als Emporkömmling offensichtlich fühlt, unterdrücken könnte.“175 Zum Abschluss seiner Schmähschrift stellte Welzenbach vernichtend fest, Merkl sei „seiner Führungsrolle seelisch nicht gewachsen“.176 Es waren keine rosigen Voraussetzungen für einen Gipfelversuch jeglicher Art, erst recht nicht für einen zweiten und möglicherweise entscheidenden. Trotzdem wurden in der ersten Juliwoche nacheinander die Lager 5, 6 und 7 errichtet.177
Es war die Zeit, um zu prüfen, „ob es menschenmöglich war oder nicht, auf den Gipfel zu kommen“, wie Käthe Schmid am 2. Juli an Merkl schrieb.178 Im Lager 7 drängten sich insgesamt 19 Männer – 13 Sherpas und 6 Sahibs – auf einer schmalen Schneeplattform in 7050 Metern Höhe. Als zwei Sherpas krank wurden, begleitete sie Fritz Bechtold hinab, während die anderen am nächsten Tag, dem 6. Juli, angeführt von den beiden Österreichern Schneider und Aschenbrenner, weiter Richtung Gipfel vorstießen. Beide gelangten bis unterhalb des Vorgipfels (7910 m).179 Ein letzter zerscharteter Felskamm führte jenseits davon zum Hauptgipfel. Anschließend warteten beide geraume Zeit auf die nachfolgende Hauptgruppe.180 Die munter jodelnden Tiroler verspürten keine Müdigkeit. Sie waren sich sicher, den Nanga-Parbat-Gipfel zu erreichen. Er schien in greifbarer Nähe, aber der Geist der Gemeinschaft hielt sie davon ab, weiterzugehen. Schneider hatte zuvor Merkls Autorität gestört, doch diesmal ordnete er sich ihr unter und wartete, während die übrigen drei Bergsteiger und elf Sherpas mit ihren Lasten langsam nachrückten.
Merkl hatte jedem den Wunsch der nationalsozialistischen Führung eingeschärft, zur Ehre Deutschlands möglichst viele Bergsteiger auf den Gipfel zu bringen.181 Solch ein Plan ging gegen die übliche Vorgehensweise, dass eine flexible und schnelle Zweierseilschaft aus den stärksten Bergsteigern den ersten Gipfelversuch unternimmt. Welzenbach hatte sich bereits abschätzig über diesen Plan geäußert: „Man kann nicht einen Verein von zehn bis zwölf Leuten auf einen Achttausender bringen wollen. Dann kommt eben keiner hinauf. Aber alles Predigen ist hier vergeblich. Willy weiß alles besser.“182 Als die schwächere zweite Gruppe schließlich zu Schneider und Aschenbrenner aufschloss, entschied Merkl, auf dem weiten Schneefeld des so genannten Silberplateaus in 7480 Metern Höhe Lager 8 einzurichten. Er war überzeugt, dass der Berg am nächsten Tag bestiegen werden würde. Alle 16 Mann verbrachten die Nacht dort, quasi abgeschnitten von jeglicher Unterstützung aus den unteren Lagern, Nachschub oder Hilfe. Zudem litten sie unter Erschöpfung durch die Kletterei in extremer Höhe.
Während der Nacht brach ein Schneesturm mit Orkanstärke über das Lager herein. Ein morgendlicher Aufbruch kam nicht in Frage. Das schlechte Wetter hatte zuvor schon die unteren Regionen des Berges erreicht, doch die Bergsteigermannschaft hatte dies nicht beachtet. Die Gruppe der Wissenschaftler, die sich auf dem Rückweg von ihren kartografischen Arbeiten befanden, beschrieben den Anblick des Nanga Parbat von unten als „… eine Insel [, die] aus dem Wolkenmeer herausragte …“183 In der Hoffnung, das Wetter würde sich wieder bessern, harrten die sechzehn im Lager 8 den 7. und 8. Juli aus. Dann entschlossen sie sich zum vorübergehenden Abstieg, bis sich der Sturm gelegt hätte. Merkl bat die beiden Österreicher, welche am konditionsstärksten waren, im Abstieg vorauszugehen, so wie er ihnen bereits im Aufstieg die Führung aufgetragen hatte. Gemeinsam mit drei Sherpas brachen sie auf. Die anderen planten, sofort nachzufolgen.
Die fünf angeseilten Männer mühten sich bei fast völlig fehlender Sicht durch den tiefen Pulverschnee abwärts und bahnten sich ihren Weg zwischen den Sackgassen und bedrohlichen Graten. Nach etlichen Beinahe-Unfällen fegte eine Sturmböe einen der Sherpas aus den Stufen, doch Aschenbrenner und ein anderer Sherpa konnten den Sturz halten. Dabei hatte es jedoch den Rucksack vom Rücken des Sherpas gerissen, der einen der beiden Schlafsäcke der Gruppe enthielt. „Wie ein Luftballon segelte der große Packsack vor unseren Augen über die Rupalseite hinaus“, berichtete Aschenbrenner später184 – wie als Zeichen, dass sich der Traum von der Besteigung eines Achttausenders ebenfalls in Luft aufgelöst hatte. Nun hatten fünf Männer nur noch einen Schlafsack, es war bereits spät am Tag und alle waren ausgelaugt und entmutigt. Schneider und Aschenbrenner spürten, dass sie schnell nach unten gelangen mussten. Sie banden sich aus dem Seil aus und stiegen weiter ab. Sie nahmen an, die drei Sherpas würden in ihren Spuren nachkommen oder von der zweiten Gruppe dicht hinter ihnen mitgenommen werden. Die beiden gelangten in das aufgelassene Lager 7, in dem sich keine Vorräte mehr befanden, und anschließend ins Lager 6, welches vollständig unter dem Schnee begraben war. Nach einem kurzen Halt in Lager 5, wo sie etwas zu essen fanden, setzten Schneider und Aschenbrenner ihren Weg ins Lager 4 fort. Sie wussten, dort warteten Menschen und Verpflegung auf sie.

Nanga Parbat: Uli Wieland am „Schaumrollengrat“ zum Silbersattel. In Bildmitte der „Mohrenkopf“, an dem Willy Merkl und sein Träger Gaylay starben.

Nanga Parbat: Der höchste erreichte Punkt der Expedition 1934 am Silberplateau. Hinten v. l. n. r.: Hauptgipfel (8125 m), Schulter (8072 m), Bazhin-Scharte (7812 m), Vorgipfel (7910 m), Obere Diamirscharte (7840 m)
Als der Sturm aufzog, hatten die drei Bergsteiger im Lager 4 versucht, Nachschub in die höheren Lager zu bringen. Doch das schlechte Wetter hatte sie zurückgeworfen. Nachdem nun ihre erschöpften Kollegen zu ihnen gestoßen waren, wartete die Gruppe mit wachsender Sorge auf die anderen. Der Sturm tobte weiter, doch spät am nächsten Morgen rissen die Wolken kurz auf und sie erhaschten einen Blick auf eine ziemlich große Menschenkette. Sie befand sich noch beunruhigend weit oben am Berg, aber sie war im Abstieg. Ein einzelner Punkt folgte ihr.
Es war der Beginn einer Tragödie, die „mit ihren andauernden Qualen keine Parallele in der Bergsteigergeschichte hat“.185 Wieland, der später als der einsame Nachzügler identifiziert wurde, starb am 9. Juli kurz vor den Zelten von Lager 7186, Welzenbach zwischen dem 12. und 13. Juli in Lager 7 und Merkl mit seinem Sherpa Gaylay nahe Lager 6 zwischen dem 15. und 16. Juli. Am Morgen des 15. Juli lebten die letzten beiden noch, und ihre verzweifelten Hilferufe konnten im Lager 4 gehört werden. Fünf Sherpas konnten sich im Lauf der Tage mit schweren Erfrierungen ins Lager 4 hinabschleppen und lieferten schreckliche Berichte vom langsamen und qualvollen Sterben der einzelnen Expeditionsmitglieder. Alle Versuche zur Rettung der drei übrigen Sahibs und sechs Sherpas waren vergeblich. Der tobende Sturm und „grundlose Schnee“187 erstickte alle Vorstöße auf halbem Weg und hielt die Bergsteiger in Lager 4 fest. Es war ein fürchterlicher Albtraum, der eine Woche andauerte: geisterhafte Bilder der absteigenden Bergsteiger zwischen den Wolken; die Hilferufe in Hörweite; die Unsicherheit darüber, wer überlebt hatte und wer gestorben war; und die Qual völliger Machtlosigkeit. Damals war es die größte Katastrophe in der Geschichte des Himalaya-Bergsteigens.
Aufgrund der unvermeidlichen Verzögerung bei der Nachrichtenübermittlung hatte Käthe „Frau Dr.“ Schmid erst am 15. Juli Hoerlin nach Stuttgart geschrieben, dass die Expedition in ernsthaften Schwierigkeiten stecke. Sie schloss das Schreiben mit: „Aber es ist wohl an der Zeit, mit allen guten Wünschen an die Männer zu denken.“188 Am 18. Juli hatten die Münchner Neuesten Nachrichten einen Artikel abgedruckt, dessen Balkenüberschrift den Ernst der Lage unterstrich: „Schwere Sorgen um die deutsche Himalaja-Expedition: Merkl, Wieland und Welzenbach vermisst.“189 Niemand wusste, dass sie zu diesem Zeitpunkt bereits tot waren. Man klammerte sich an die leise Hoffnung, dass zumindest Merkl und Welzenbach irgendwie überleben würden, da sie ein bemerkenswertes Durchhaltevermögen gezeigt hatten, als sie 1931 in der Nordwand der Grandes Charmoz im Mont-Blanc-Gebiet 60 Stunden lang in einem Biwak einem Sturm trotzten.190 Diesmal ließ sie jedoch ihr Glück im Stich.

Nanga Parbat, Rückkehr der letzten überlebenden Sherpas
Vier Jahre später, 1938, fand eine weitere deutsche Expedition Merkls Leiche. In seiner Jackentasche entdeckte man eine Notiz, die Welzenbach in Lager 7 geschrieben hatte. Es war ein letzter, verzweifelter Hilferuf [Hervorhebungen im Original]:
„An die Sahibs zwischen Lager 6 und Lager 4, insbesondere an Dr. Sahib.
Wir liegen seit gestern hier, nachdem wir Uli im Abstieg verloren. Sind beide krank, Ein Versuch, nach 6 vorzudringen, misslang wegen allgemeiner Schwäche. Ich, Willo, habe vermutlich Bronchitis, Angina und Influenza. Bara Sahib hat allgem. Schwächegefühl, und Erfrierungen an Füßen und Händen. Wir haben beide seit 6 Tagen nichts Warmes gegessen und fast nichts getrunken.
Bitte helft uns bald hier in L. 7.Willo und Willy“ 191
Vom 9. bis zum 13. Juli hatten Merkl und Welzenbach gemeinsam im Zelt von Lager 7 gelegen, zu erschöpft und von Erfrierungen gezeichnet, um weiter abzusteigen. Sie warteten auf Rettung aus Lager 4, dessen Zelte sie in Sturmpausen unter sich sehen konnten. Sie sahen, wie man versuchte, zu ihnen aufzusteigen. Ich frage mich, wie oder ob sie sich in diesen letzten Tagen ihre gegenseitigen Ressentiments eröffneten. Merkl dürfte die weitreichenden Folgen der Katastrophe erahnt haben.
Käthe Schmids Brief an Merkl vom 2. Juli erreichte diesen nicht mehr. Während er im Himalaya um sein Leben kämpfte, durchlebte sie in München die „schwerste Zeit meines Lebens“.192 Zwei Tage zuvor war ihr Mann von Hitlers Gefolgsleuten verschleppt worden und sie wusste nichts über sein Schicksal. Um Merkl ihre Gefühle der Verzweiflung und Furcht zu ersparen, verschweigt sie ihm die Details und versichert ihm, „… aber die Arbeit wird gemacht, sei außer Sorge“.193
In ihrem zweiseitigen Schreiben erwähnt sie Finanzen der Expedition sowie Anfragen der Presse nach Fotos, und sie bittet Merkl, ihren Lieblingsneffen Postkarten zu schicken. Der nüchterne Ton ihrer Korrespondenz steht im krassen Gegensatz zu den unvorhersehbaren Tragödien, die sich für beide anbahnten.
Einen Tag nachdem sie ihren Brief an Merkl geschrieben hatte, erhielt Käthe Schmid die Nachricht, dass ihr Mann tot sei. Trotzdem hielt sie ihr Versprechen und erledigte die Arbeit für die Expedition, indem sie die immer unheilvolleren Pressemitteilungen herausgab und mit der Kontaktperson im Alpenverein, Hermann Hoerlin, in Verbindung blieb.194 Aber als sie schließlich von den widersprüchlichen Meldungen über die Todesopfer überwältigt wurde, bat sie um die Hilfe eines Experten … und diese Hilfe kam mit Hermann Hoerlin. Hoerlin war sofort nach München gereist, nachdem er am 17. Juli folgendes Telegramm erhalten hatte:

Die Routen der Nang-Parbat-Expeditionen von 1932 und 1934: Einige Höhenangaben und Ortsangaben im Bild weichen von den heute gültigen Angaben ab.
Der Gipfel ist z. B. 8125 m hoch, und der Todesort von Willy Merkl lag weiter links am Mohrenkopf.
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