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Der größte Teil unseres Schulunterrichts bestand jetzt aus Diskussionen, aus dem Lesen neuer Artikel der Volkszeitung und der Interpretation neuer Richtlinien der Partei, deren Verständnis zu vermitteln jetzt offenbar die wichtigste pädagogische Aufgabe unserer Lehrer schien. Immer wieder hatte man uns über die neuste revolutionäre Entwicklung anderer Einheiten, Universitäten und Schulen berichtet. Dabei mussten wir bald leider selbstkritisch feststellen, dass wir mit unseren Aktivitäten weit hinter anderen Institutionen zurückgeblieben waren. Wir hatten uns wirklich zu beeilen, noch auf den bereits abgefahrenen Zug der Revolution aufzuspringen, um ihn am Ende nicht zu verpassen. Die Volkszeitung hatte schließlich in uns allen mit dem Slogan »Schwingt euren Pinsel wie ein Gewehr, zielt auf die lauernden Feinde unter euch und erschießt sie!« neuen Elan erweckt. Jetzt waren wir Feuer und Flamme und stürzten uns mit Macht und übereifrig auf das Schreiben von Wandzeitungen.
Mittlerweile besuchte ich die dritte Klasse und konnte auch schon ganz anständig schreiben. Sogar ein wenig Kalligraphie hatte ich unter der strengen Aufsicht meiner Eltern und Lehrer geübt. Ich konnte also schon recht gut mit dem Pinsel umgehen. Aber ich war unsicher, gegen wen ich mit meinen Mitteln zu Felde ziehen sollte. Erst nach einer beträchtlichen Zeit des Hinbrütens glaubte ich das richtige Opfer meiner Kritik gefunden zu haben: Dies sollte unsere damalige Grundschul-Vizedirektorin werden! Der wollte ich meine erste Wandzeitung widmen.
Diese mittlerweile fünfzigjährige Dame fungierte seit Jahren als eine äußerst strenge Vizeleiterin der Schule. Unerbittlich im Umgang mit ihren Schülern konnte sie sogar Ohrfeigen austeilen. Eine Kettenraucherin mit »dunkler« Hautfarbe war sie, wodurch sie womöglich noch härter wirkte. Sie trug im Unterschied zu den meisten anderen Frauen keine kurzen Haare, hatte ihre Haare vielmehr zu einem hohen Knoten gebunden. Sie erschien immer perfekt gekleidet. Manchmal konnte man auch eine kleine silberne Kette an ihrem Hals ausmachen. Und sie lebte alleinstehend.
Wie viele andere Schüler hatte auch ich große Angst vor ihr. Wenn wir ihr begegneten, dann wagten wir kaum mehr laut zu atmen. So ging es auch mir. Doch jetzt unter dem Einfluss der Kulturrevolution brauchten wir uns endlich vor ihr nicht mehr zu ducken. Jetzt fühlten wir uns ermutigt, ihr gegenüber selbstbewusster auftreten zu können. Wir schienen als Schüler mehr Macht gewonnen zu haben, konnten ihr endlich zeigen, wie ernst wir die neue uns zugemutete Aufgabe nahmen. Nicht nur als autoritäre Lehrerin und Funktionärin, auch als Person und Charaktertyp schien diese Frau für uns das schlechthin ideale Objekt kritischer Entlarvung und Diffamierung: Die Tatsache, dass sie Kettenraucherin war, passte doch wunderbar ins Bild typischer und althergebrachter feudalistischer Gewohnheiten. Die Halsketten, die sie wenn auch ziemlich unauffällig trug, der altmodische Haarknoten, dies alles schien für ihre offenkundige Zuneigung zum westlichbürgerlichen Lebensstil zu sprechen. Und wenn sie überdies Schüler auch noch mit Ohrfeigen strafte, dann sollte sich diese Gewohnheit mit der Vorstellung ihrer Sympathie für heimliche Brutalität fügen. Darin durfte, nein musste man ihre grundsätzliche Distanz, ihre gewollte Entfremdung von der neuen revolutionären Generation sehen. Ohne Zweifel, so dachte auch ich damals, kam in solchen Verhaltensformen die große Entfernung von der Gesellschaft der Zukunft zum Ausdruck. In ihren stets strengen Gesichtszügen musste sich die Unzufriedenheit mit dem gegenwärtigen neuen System und mit unserer neuen Gesellschaft widerspiegeln. Diese Vizeleiterin unserer Grundschule war zweifellos schon eine ältere Jungfer. Sie hatte keine Familie, war vielleicht ja noch auf heimlicher Suche nach einem Mann. Aber sollte sie wirklich eine Chance haben? Unwahrscheinlich, doch man konnte es nie genau wissen. Vielleicht, so dachten wir, dachte nicht nur ich mit ironischer Häme, vielleicht wartete ja ein Mann in Taiwan auf sie! Kurz, diese Frau schien als die Repräsentantin der von uns zu entlarvenden »Schlangengeister«, »Rinderdämonen« und »Revisionisten« ein geradezu mustergültiges Opfer. Alles sprach in der Tat dafür, dass unsere Grundschul-Vizedirektorin eine vorzüglich getarnte Feindin sein musste, die zu entlarven wir verpflichtet waren.
In dieser Absicht verfassten wir jetzt eine Wandzeitung nach der anderen. Und auch ich beteiligte mich hier mit nicht ganz zu leugnenden Rachegefühlen und mit einem kaum zu überbietenden Eifer, schloss mich wie meine Mitschüler dem Zug der Revolution an, wollte nicht als abgehängter Waggon zurückbleiben. Da ich schon seit geraumer Zeit in einer Malgruppe unserer Schule mitwirkte, versuchte ich neben meinen Textbeiträgen zur Wandzeitung auch Karikaturen dieser Direktorin als Waffe einzusetzen und meiner Kritik damit noch ein zusätzliches Gewicht zu verleihen. Das war für mich ein gefundenes Fressen, denn erst mit dieser Frau hatte ich ein ideales Karikaturobjekt entdeckt. So malte ich sie als eine verruchte Kettenraucherin, als Frau in einem engen Kleid und mit dicken Beinen, an deren Hals eine Perlenkette mit pingpongballgroßen Kugeln hing, als eine Person mit bösen Grimassen, wobei ich ihre Schneidezähne übertrieben hervorhob und ins Groteske verzerrte. Mein Versuch, sie so hässlich wie möglich darzustellen, so dass sie als Inbegriff einer dämonischen Frau erscheinen musste, gelang dann auch zu meiner vollsten Zufriedenheit. Meine Mitschüler amüsierten sich köstlich über meine gelungene Karikatur. Ich war richtig stolz auf mich.
Unser Eifer fand bei unseren Lehrern großes Lob. Jeden Tag registrierten sie mit Genugtuung, wie viel Tinte und Papier wir schon benutzt hätten und rühmten unsere große Aktivität, die ihnen als Beweis für unsere revolutionäre Motivation und Einstellung dienen konnte. Wir sollten nur so weiter machen! Wir fühlten uns gebauchpinselt und ermutigt, immer mehr Wandzeitungen und Karikaturen zu produzieren.
Dabei steigerte sich unser Übermut ins Grenzenlose. Wir glaubten immer neue Personen zu identifizieren, die unserer Meinung nach zu den verdächtigen »Schlangengeistern« zu rechnen wären und die aus uns manchmal selber nicht erklärbaren Gründen ins Revier der Revisionisten geraten zu sein schienen. Der Kreis der kritisierten Opfer wuchs wie ein Schneeball. Unsere Wandzeitungen fielen wie Blätter vom Baum. Bald waren alle Wände voll gehängt. Nicht genug damit. Eine Wandzeitung hatte man kaum lesen können, der Klebstoff war noch nicht einmal richtig trocken, da wurde sie schon von einer neuen überdeckt, so dass am Ende viele Wandzeitungen übereinander hingen und deren Zeichen so gut wie nicht mehr lesbar waren.
Als im Eifer des Gefechtes schließlich immer mehr Lehrpersonal karikiert und ein Pädagoge nach dem anderen vermeintlich als »Bösewicht« entlarvt und auf diese Weise verunglimpft wurde, begann ich doch langsam nachdenklich zu werden und mir Gedanken zu machen – meines Vaters wegen. Ich erinnere mich heute noch daran, eines Tages meine Mutter gefragt zu haben, ob mein Vater als Parteisekretär der Schule vielleicht auch in Gefahr geraten könnte, da jetzt so viele Funktionäre unserer Schule schon aus ihrem Amt gejagt worden waren. Meine Mutter hatte mich damals beruhigt mit den Worten, das sei höchst unwahrscheinlich. Denn gegen meinen Vater gebe es seiner makellosen Vergangenheit wegen kaum Gründe für eine solche diffamierende Kritik, wie sie gegenwärtig allerorten wütete. Schließlich war mein Vater schon mit sechzehn Jahren in die kommunistische Partei eingetreten, zu einer Zeit also, als diese Partei noch nicht einmal offiziell etabliert war. Damals galt er öffentlich lediglich als ein Grundschullehrer, der er tatsächlich war, aber in Wirklichkeit war er überdies hauptsächlich zuständig für die Werbung neuer Mitglieder der Kommunistischen Partei. Er versuchte alle möglichen Leute für die Partei zu gewinnen. Er hatte bei seinem Engagement für die Kommunisten viele Probleme und Gefahren zu fürchten, sogar sein Leben aufs Spiel setzen müssen. Denn wäre seine geheim gehaltene politische Tätigkeit von der damaligen Regierung vor der Gründung der VR China, d.h. bei den damaligen Gegnern der Kommunisten, herausgekommen, dann hätte er sogar mit der Enthauptung rechnen müssen. Dies müssten doch zumindest seine Parteigenossen zu schätzen wissen und somit für ihn bürgen. Deshalb sei er auch schon in jungen Jahren mit der hohen Position des Parteisekretärs betraut worden. Auch hinsichtlich seiner Herkunft würde man vielleicht keinen Kritikpunkt finden, denn mein Vater stammte aus einer mittelreichen Bauernfamilie, aber da seine Familie keine Knechte beschäftigt hatte, zählte sie deshalb regulär nicht zu den Großgrundbesitzern und gehörte mithin zu einer sozialen Klasse, die nicht zu den Ausbeutern rechnete. Mein Vater könne sich der Solidarität der Kommunisten im Grunde sicher sein. Meine Mutter betonte außerdem, seit der Gründung der Volksrepublik habe es schon so viele politische Bewegungen gegeben, doch mein Vater habe immer auf der Seite der überzeugten Kommunisten gestanden, welche die anderen entlarvt und aus den Ämtern gejagt hätten. Und deshalb, davon war sie fest überzeugt, könne ihm auch dieses Mal nichts Widriges zustoßen.
Hinsichtlich ihrer selbst, so meine Mutter, brauchte ich mir auch keine Sorgen zu machen. Ihre Eltern wären einmal ziemlich reich gewesen, doch seit ihre Großmutter immer tiefer dem Opiumrausch verfallen sei, habe dies Folgen für ihre Familie gehabt, sie sei nämlich allmählich immer ärmer geworden, weil man wegen der Sucht ihrer Großmutter immer mehr Schmuck, später sogar Häuser und einiges Ackerland hatte verkaufen müssen. Entscheidend und zukunftsbestimmend war die Tatsache, dass ihre Familie bei der Bodenreform Anfang der fünfziger Jahre nicht der Klasse der Großgrundbesitzer zugeschlagen worden war. Dafür maßgebend war der Umstand gewesen, dass ihr Vater und dessen zwei Brüder kurz vor der Bodenreform das übriggebliebene Eigentum der Familie unter sich aufgeteilt hatten. Außerdem hatte ihr Vater seine Nebenfrau gehen lassen müssen, weil die Sitte der Polygamie inzwischen abgeschafft worden war. Ihr Vater hatte deshalb eine Heirat seiner Nebenfrau mit einem seiner älteren Knecht arrangiert. Dafür hatte er zudem einen beträchtlichen Teil seines Vermögens eingesetzt. Alle dieser eigentlich unglücklichen Umstände hatten schließlich doch zu einem glücklichen Ende geführt. Denn bei der Bodenreform hatten sich diese Momente als eine Rettung erwiesen: Der Vater meiner Mutter war verschont geblieben von der Zuordnung zur Klasse der ausbeutenden reichen Bauern und Grundbesitzer. Die Eltern meiner Mutter gehörten also auch zu der Gesellschaftsschicht, mit der sich die Kommunisten solidarisch erklärten.
Ich hatte die beschwichtigenden Erklärungen meiner Mutter damals noch nicht ganz begriffen, aber sie hatten doch die Wirkung einer Beruhigung. Ich fand mich in meiner kindlichen Begeisterung und Aktivität für die Ziele der kommunistischen Revolution (der Kulturrevolution) durchaus bestätigt und sah zuversichtlich in die Zukunft. Eine Bestätigung blieb auch von anderer Seite nicht aus. Meine Wandzeitungsartikel und Karikaturen im Dienst der Revolution wurden jetzt von allen immer wieder bewundert. Alle fanden sie ausgezeichnet und komisch. Ich durfte mich beinahe in einem Rausch baden.
Und in meinem Übermut wollte ich jetzt auch meinen Eltern und unseren Nachbarn imponieren und ihnen demonstrieren, wie gut ich inzwischen außerdem in der Technik der Kalligraphie vorangekommen war. Dazu diente mir als Muster ein Slogan, für den ich extra ein ungewöhnliches grünes Papier aussuchte, auffällig genug, weil die meisten ihre Slogans auf ein rotes Papier schrieben. Ich nahm einen besonders großen Pinsel und malte überaus sorgfältig und in kalligraphischer Manier, wobei ich mich wahnsinnig anstrengte, einen Slogan hin mit dem Wortlaut: »Nieder mit allen Schlangengeistern und Rinderdämonen!« Damit die hier beschworenen Geister und Dämonen in meiner Kalligraphie auch recht lebendig und bedrohlich wirkten, hatte ich versucht, die Formen der Bögen und Striche so zu konturieren, dass sie geradezu in weitem Schwung herumtanzten und dass sie bösen Geistern wirklich ähnlich schienen. Damit jeder auch sehen konnte, dass die schöne Kalligraphie von meiner Hand stammte, hatte ich unter den Slogan sogar meinen Namen geschrieben, was eigentlich nicht üblich war. Dann hatte ich das frisch hergestellte Blatt auf die Vorderwand unseres Wohngebäudes gehängt. So wurde man tatsächlich auf meinen Slogan sofort aufmerksam, und ich konnte schon am selben Abend die erste Ernte einer wahren Bewunderung einfahren.
Als ich am zweiten Tag von der Schule nach Hause kam, noch ganz in stolzen Gedanken über meine gelungenen Karikaturen, trug ich mich in der Hoffnung, neue Lobgesänge meiner Nachbarn wegen meines Slogans vor unserem Haus zu hören. Bestimmt hatten noch nicht alle bemerkt, dass die schöne Kalligraphie dieses Slogans doch von mir stammte. Näher gekommen sah ich eine aufgeregte Menschenmenge vor unserem Haus versammelt. Mich erfasste bei diesem Anblick ein jäher Schrecken, besonders als ich meinen Vater mitten in diesem Kreis entsetzlich erregter Menschen wahrnehmen musste. Bei näherem Hinsehen war er offenkundig von Rotgardisten umringt. Diese schienen meinen Vater mit einem Schwall entsetzlicher Vorwürfe zu bombardieren. Mein Vater verhielt sich vergleichsweise besonnen und gefasst und schien mit einer entschlossenen Handbewegung etwas wie eine Erklärung abzugeben. Aber seine Worte versandeten in dieser Brandung der brüllenden und schreienden Menschenmasse. Einige der Rotgardisten wurden sogar handgreiflich gegen ihn. Soweit ich es verstehen konnte, schleuderten ihm die Rotgardisten kritische Worte wie »Revisionist«, »Abweichler auf dem kapitalistischen Weg« »Konterrevolutionär«, und ähnliche Schimpfworte ins Gesicht.
Mir rutschte das Herz in die Hose. Ich sah meinen Vater, wie er sich hilflos zu wehren versuchte, aber gegen diesen Mob überhaupt keine Chance hatte. Ich ahnte Fürchterliches.
In dieser Situation stach mir der grüne Slogan an der Wand vor unserem Haus in die Augen, der Slogan, den ich in auffälliger Kalligraphie angefertigt und einen Tag zuvor dort aufgehängt hatte. Jetzt leuchtete er mir grell und giftiggrün entgegen, und mit Entsetzen sah ich blitzartig einen mir bisher unbekannten Zusammenhang zwischen meinem Slogan und der heutigen Attacke auf meinen Vater. Jetzt machte ich mir die schlimmsten Vorwürfe. Hatte ich doch den Teufel an die Wand gemalt, und dieser war nun tatsächlich erschienen in der Gestalt von Rotgardisten, die meinen Vater in die Hölle verbannen wollten. Ich selber hatte dazu mit meiner Kalligraphie unwissentlich beigetragen, und ich selber hatte mich damit schuldig gemacht und meinen Vater durch meinen Slogan mitangeklagt.
Spät an diesem Abend, noch in der Dunkelheit schlich ich reumütig aus dem Haus und riss das Papier mit meinem Slogan, den ich doch so stolz und selbstgewiss auf die Wandzeitung gemalt hatte, von der Wand ab, faltete das giftgrüne Teufelsblatt zusammen und warf es in den Müll, in der Absicht und in der naiven Hoffnung, den Teufel aus unserem Haus verbannen zu können.
WANDZEITUNGEN
Nachdem Lehrer wie Schüler durch einen politischen Aufruf zum Widerstand gegen alle revisionistisch gesinnten Autoritäten und zur Kritik aller bürgerlichen Lebensformen verpflichtet worden waren, kam es in unserer Einheit zu einer nachhaltig aggressiven Stimmung, die alle erfasste und zu einer Flut hektischer Aktivitäten führte. Alle sahen sich nun aufgefordert und legitimiert, ihre Spionagefähigkeit zu mobilisieren und mit Entschiedenheit gegen die versteckten Feinde von Maos neuem kommunistischen System zu Felde zu ziehen. Da es aber keine verbindlichen Bestimmungen und Regelungen gab, was denn genau unter einem Revisionisten oder einem bürgerlich orientierten Abweichler zu verstehen sei und woran man mit Gewissheit erkennen könne, ob jemand auf den kapitalistischen Weg geraten sei und diesen nun propagiere, kam es oft zu fragwürdigen Diskriminierungen. Denn jeder interpretierte Denk- und Verhaltensweisen seiner Mitmenschen nach seinen eigenen Vorstellungen. Die Gefahr falscher Diagnosen und fragwürdiger Entlarvungen war groß. Die beliebtesten Mittel öffentlicher Diffamierung waren die Wandzeitungen, die jetzt wie Schneeflocken vom Himmel fielen. Anfänglich hatten sie höchstens einen Umfang von zwei Seiten, aber mit der Zeit wurden sie immer länger. Schließlich konnten sie kein Ende finden und sie wurden serienweise ausgehängt. Es währte nicht lange, und alle Außenwände unserer Schule waren damit übersät. Alle Schulgebäude sahen aus, als wären sie in bunte Pappe eingehüllt. Nicht einmal Baumstämme wurden verschont.
Als zuletzt die Außenwände nicht mehr ausreichten, hatte man auch die Aula, die Sporthallen und etliche Klassenräume in Wandzeitungsräume umfunktioniert. Für meinen Vater, der als bedeutender Funktionär offenbar einen besonderen Fall ausgiebiger Diskriminierung darstellte, hatte man sogar mehrere Extraräume reserviert, in denen alle Wandzeitungen hingen, die ausschließlich ihm galten. Wenig später sah sich dann auch meine Mutter als die Frau dieses exemplarischen »Revisionisten« betroffen. Auch ihr widerfuhr die »Ehre«, mit einem gesonderten Klassenraum für nur ihr gewidmete kritische Wandzeitungen bedacht zu werden.
Angesichts solcher Umtriebe lag es nahe, wenn mich die Neugierde zu einer scharfen Beobachterin werden ließ. Ich wollte natürlich wissen, welche »Sünden« denn meine Eltern begangen haben sollten, und mischte mich täglich unter die erwachsenen Besucher der Wandzeitungsräume. Ich hatte zu der Zeit schon drei Jahre die Schule besucht und konnte schon ganz gut lesen. So war ich in der Lage, die Wandzeitungen zu studieren, wobei ich erst einmal alle Schlagzeilen überflogen und dann herzklopfend die Artikel genauestens angeschaut habe, die mir am sensationellsten zu klingen schienen. Dies geschah freilich immer in meiner arglosen Hoffnung, die Sünden, die den Betroffenen dort vorgeworfen wurden, wären womöglich gar nicht so schwerwiegend. Sprachlich glaubte ich tendenziell die Texte weitgehend zu verstehen, doch da mir viele Begriffe fremd waren, konnte ich vieles doch nicht ganz begreifen. Ich wusste lediglich, dass die mir unbekannten Wörter etwas Negatives bedeuten sollten, was aber genau gemeint war, das blieb mir oft rätselhaft. Was sollte das eigentlich heißen, wenn vom »Kapitalistischen Weg«, vom »Revisionismus« die Rede war oder vom »Wiederherstellen des alten Systems«? Bei meinem Vater war meist dessen »falscher Weg« kritisiert worden. Ich war irritiert.
Da alle Wandzeitungen signiert waren, konnte jeder wissen, wer dafür verantwortlich zeichnete. Darunter waren auch mir vertraute Namen, sogar von Personen, die mein Vater beruflich gefördert hatte. Jetzt musste er den von ihm selbst gebrannten Schnaps trinken, der inzwischen nicht nur einen bitteren Geschmack gewonnen, sondern sich sogar in Gift verwandelt hatte.
Furchtbar erschrocken aber war ich, als mir auf einer Wandzeitung plötzlich die Wörter »seine Tochter« in die Augen fielen und hier ausdrücklich von mir die Rede war. Da begann mir das Herz bis zum Halse zu klopfen. Jetzt hatte man tatsächlich auch bei mir etwas zu kritisieren gefunden, legte auch mir eine »Sünde« zur Last! Genauer gesagt war von meinem Vater die Rede, der seine Position missbraucht habe, indem er seine Tochter ein Jahr früher als üblich hatte einschulen lassen. Die Vorschrift besagte, der Schlusstag für die jeweilige Einschulung sei der 30. August eines Jahres. Mein Geburtstag aber fällt auf den 14. September. Ich hätte also erst ein Jahr später beginnen dürfen, in der Schule zu lernen, sei also unrechtmäßig vorzeitig eingeschult worden. Mein Vater hatte sozusagen kraft seiner Position eine Ausnahme erwirkt und damit seine Macht missbraucht. Im Grunde hätte ich noch ein Jahr warten müssen. Erst jetzt wurde mir auch klar, warum ich in meiner Klasse die jüngste Schülerin war. Das war also die Erklärung. Ich bin auch nicht einfach so eingeschult worden, sondern hatte zuvor einen Test machen müssen. Ich konnte mich noch genau daran erinnern, wie dieser Test aussah. Man zeigte mir zuerst zehn Gegenstände, wozu beispielsweise eine Schere, ein Pinsel, ein Lineal und ein Stempel gehörten, und verdeckte diese mit einem Tuch. Ich sollte diese mir jetzt verborgenen zehn Gegenstände wieder aufzählen. An sechs Dinge hatte ich mich noch erinnern können und hatte damit gerade noch den Test bestanden. Ein weiterer Test bestand darin, dass ich einige chinesische Zeichen, die man mir vorgelegt hatte, lesen und deren Bedeutungen erkennen musste, was mir zum Glück auch gelang. Damit hatte ich eigentlich die Qualifikation für die Einschulung erworben. Gegen mich sprach im Grunde genommen nur ein formaler Einwand, dass ich nämlich zu jung war. Und dieser Umstand wurde jetzt gegen meinen Vater ausgespielt. So überkam mich ein unerklärliches Unbehagen, ich fühlte mich meinem Vater gegenüber plötzlich schuldig. Meinetwegen musste er jetzt noch zusätzlich Kritik ertragen.
Mit der Zeit nahmen die Wandzeitungen nicht nur Personen aufs Korn, bei denen die Funktion vermeintlich automatisch zu politisch und moralisch kritisierbaren »Sünden« geführt hatten, sondern sie thematisierten bald auch immer neue Fälle neuer an den Haaren herbeigezogener Enttarnungen. Immer wieder geschah es, dass man bisher gut getarnte »schwarze Flecken« bei manchen Personen mit einer dunklen Vergangenheit oder fraglichen Klassenzugehörigkeit entdeckte. Fast täglich wurde man mit derartigen vermeintlichen Nachweisen konfrontiert und überrascht. Auch die Lautsprecher wurden jetzt eingeschaltet, um gemeinsam mit den Wandzeitungen bisher verborgene Missstände aufzudecken. Es spielte keine Rolle mehr, wenn jemand, der heute denunziert wurde, früher vielleicht ein angesehener und beliebter Mensch gewesen war. Jeder hatte das Gefühl, auf einer dünnen Eisschicht zu gehen, die jeder Zeit einbrechen konnte.
Immer wenn eine neue Wandzeitung aufgehängt wurde, versammelte man sich scharenweise davor, um den neuesten Stand der Spionageergebnisse zu erfahren. Man hatte nämlich längst registriert, dass sich die Spurensuche nicht mehr nur auf die ehemaligen Funktionäre konzentrierte, sondern sich auch auf die untere Ebene der Hierarchie ausgeweitet hatte. Jetzt standen die kleineren Funktionäre im Rampenlicht. Und zuletzt richteten die Rotgardisten sogar auf unsere sämtlichen Lehrer ihre gnadenlosen Angriffe. Die Liste der in ihre Kritik geratenen »Schlangengeister« und »Rinderdämonen« wurde mit jedem Tag länger und länger. Niemand konnte mehr sicher sein, ob er nicht am nächsten Tag als Feind des gegenwärtigen Gesellschaftssystems angeschwärzt und irgendeiner Kategorie von »Sündern« zugeschlagen wurde. Jedermann war jetzt besorgt um sich selbst. Jeder versuchte dem dadurch vorzubeugen, dass er seine revolutionäre Gesinnung so plakativ wie möglich demonstrierte. Jeder wollte als ein Roter erkannt werden und als zweihundertprozentiger Revolutionär auffallen.
Als in den Wandzeitungen schließlich sogar Menschen mit Haustieren oder einer Haushälterin ins Visier der Kritik gerieten und auch dies als ein verräterisches Zeichen für den bourgeoisen Lebensstil reklamiert wurde, da hatte dies zur Folge, dass alle, die eine Haushälterin bei sich beschäftigten, aus Angst, sie könnten die nächsten Opfer der Denunzierung werden, in ihrer Nervosität in der Weise reagierten, dass sie ihre Haushälterinnen sofort entließen. Daraus entstand manche Tragödie, denn viele Haushälterinnen hatten entweder schon längst kein Zuhause und damit also keine Zufluchtsstätte mehr, oder sie hatten nach Verlust dieser Arbeitsstelle keine andere Chance mehr, für ihren Lebensunterhalt zu sorgen. Außerdem gehörten sie meist schon zur Familie, in der sie beschäftigt waren.
Die Besitzer von Haustieren mussten auch sofort handeln und ihre Lieblinge entweder in einem Park oder in der freien Natur aussetzen, es sei denn, sie konnten diese Tiere einer Familie auf dem Land anvertrauen. Wer hier zu spät reagierte, der musste damit rechnen, dass die Rotgardisten ihm die Tiere wegnahmen. Meine Freundin hat mir einmal erzählt, als ihr Xiaohei, ein kleiner schwarzer Hund, von Rotgardisten mit Gewalt fortgenommen wurde, habe sie ihren Vater zum ersten Mal in ihrem Leben weinen sehen.
Mit der Zeit veränderten sich auch Sprache und Stil der Kritik. Die Aggressionen nahmen mehr und mehr zu. Hass und Brutalität brach aus allen Zeilen hervor. Angesichts dieser streitsüchtigen Wandzeitungssprache konnte man in der Tat den Eindruck gewinnen: In der Luft roch es schon nach Schießpulver.