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Zum Erstaunen aller Bewohner unserer Schule hatte man eines Tages im Kreis der gewöhnlichen Mitarbeiter selbst unseren Hausmeister als einen raffiniert getarnten Feind entlarvt. Ein Handwerker wie dieser zählte doch im Grunde zu den Gewährsleuten revolutionärer Gesinnung und trug sozusagen einen roten Schutzpanzer. Niemand konnte glauben, dass dieser schweigsame und fleißige Mann, wie man herauszufinden geglaubt hatte, früher ein Ausbeuter gewesen war, nicht gerade ein Großbauer, aber doch ein Bauer mit Besitz, der einige kleinere Grundstücke vermietet hatte und deshalb eben auch der ausbeutenden Klasse zuzurechnen war. Jedenfalls stand das in diesem Sinn schwarz auf weiß auf einer Wandzeitung, signiert von Vertretern der revolutionären Masse.
Diese Denunzierung hatte viele nicht nur unangenehm überrascht, sie musste geradezu reichlich Verwirrung stiften, denn alle hatten doch den Hausmeister als einen integren Zeitgenossen vor Augen und konnten sich beim besten Willen nicht erinnern, auch nicht vorstellen, dieser Mann hätte sich jemals eines Vergehens schuldig gemacht. Unser Hausmeister war immer hilfsbereit gewesen, war jemand, der als erster in der Schule aufstand und wohl als letzter ins Bett ging, der sich schlechterdings um alles kümmerte, immer sofort kam, wenn man ihn brauchte, selbst an den Wochenenden und wenn er frei hatte. Alle wussten das, viele hatten das selber erfahren. Und jetzt, seit dem Aushang dieser Wandzeitung, wurde er wie eine Ratte gejagt und denunziert. Wenn er nun wirklich ein Ausbeuter gewesen war, dann gab es den neuen Regeln entsprechend keine Gnade für ihn, dann gehörte er jetzt wirklich auch zu den Feinden des Volkes! Sogar mit einem verächtlichen und teuflischen Spruch hatte man ihn bedacht und ihn mit folgender bitteren Satire zu erniedrigen gesucht:
»Der Hausmeister, eine getarnte Ratte, saugt das Blut der armen Bauern«.
Es dauerte nicht lange und alle Kinder, viele Schüler nahmen diesen Spruch in den Mund und riefen ihm diese Schmähworte hinterher.
Das traf den Hausmeister wie ein Pfeil mitten ins Herz. Drei Tage später, noch ehe man entschieden hatte, welche Art von Strafe man für diesen Ausbeuter anwenden sollte, wusste man doch nicht recht, ob man einen Hausmeister, der doch eigentlich zu den Arbeitern gehörte, genauso behandeln sollte wie die anderen »Schlangengeister« und »Rinderdämonen«, hatte der Betroffene selber ein Gift gegen die Ratte, die er verkörpern sollte, genommen, war auf den mindestens zehn Meter hohen Schornstein der Mensa gestiegen und hatte sich hinuntergestürzt. Niemand hatte das gesehen. Erst später hat man seine Leiche entdeckt. Ich sah von weitem nur die Füße unseres toten Hausmeisters, der mit einem zu kurzen Tuch notdürftig bedeckt neben dem Schornstein lag. Ich glaube, hier das erste Mal in meinem Leben einen Toten gesehen zu haben.
Ein weiteres unerwartetes Opfer der Wandzeitungskampagne war unsere Englischlehrerin, obwohl sie gleich zu Beginn der Kulturrevolution vorsichtshalber ihren verdächtigen Namen, der auf eine bürgerliche Herkunft schließen ließ, geändert hatte. Auf einmal hieß sie von heute auf morgen nicht mehr Meimei Sun, übersetzt also die Schönheit Sun, sondern jetzt Weimin Sun, also Sun für das Volk. Sie hatte also ihren Vornamen offenkundig im politischen Interesse geändert. Aber das hat ihr am Ende nicht viel geholfen. Trotzdem ist sie nicht ungeschoren davongekommen. Man hat sie dennoch als ein typisches Beispiel für den bourgeoisen Lebensstil scharf kritisiert. Das konnte die meisten auch nicht überraschen, denn Meimei Sun hatte sich, wie ihr ursprünglicher und vielen noch bekannter Name besagt, wie ein Pfau (= Meimei) in der Schule, immer auffällig modisch gekleidet, hatte sich wie ein vornehmes bürgerliches Fräulein aufgeführt. Überdies wussten viele, dass sie viele englische Bücher besaß. War nicht England ein kapitalistisches Land? Jetzt also war diese Lehrerin das Ziel der Kritiken vieler Wandzeitungen geworden und ein dankbares Objekt vieler Karikaturen. Als demütigende Strafe hatte man dieser Person, der vornehmsten Frau unserer Schule, zugemutet, nun den Schulhof zu fegen und sie auf diese Weise der Lächerlichkeit preisgegeben. Früher hatte sie meist eine duftende Parfümwolke hinterlassen, wenn sie an einem vorbeiging, jetzt musste sie unfreiwillig eine Staubfahne hinter sich herziehen.
Kaum waren dann ein paar Tage ohne spektakuläre Vorfälle verstrichen und alle hatten tief durchgeatmet, weil endlich Ruhe eingekehrt zu sein schien, vielleicht sogar Schluss mit der Serie der Entlarvungen war, da wartete schon wieder eine neue Wandzeitung mit einer Sensation auf: Unser Lehrer für Physik wurde als Spion der Kuomintang enttarnt. Man vermutete, dass der Physiklehrer heimlich ein Radio gebaut hatte, um Nachrichten von Taiwan empfangen zu können. In der Tat war die Arbeit mit elektrischen Geräten sein Hobby. Außerdem hatte er einen Bruder, der 1949 mit der Truppe der Kuomintang nach Taiwan gegangen war. Es gab zwar keine ernsthaften Beweise dafür, aber die Tatsache, dass sein Bruder in Taiwan lebte, reichte schon aus für einen Verdacht. So wurde er zum Heizer degradiert, der immer dafür zu sorgen hatte, dass der zentrale Wasserkessel heißes Wasser liefern konnte, mit dem alle Bewohner unserer Schule dann ihre Thermosflaschen gefüllt haben.
So verliefen die Tage voller Unruhe und angespannter Erwartungen. Niemand in unserer Schule fühlte sich mehr sicher, jeder fürchtete, selber das nächste Opfer der Wandzeitungskampagne, der schrecklichen Lawine kritischer Entlarvungen zu werden. Auch mich trieb es jeden Tag erneut in die meinen Eltern vorbehaltenen Wandzeitungsräume, immer in der Sorge, man könnte wieder neue »Sünden« entdeckt und mit himmelschreienden Slogans oder durch Karikaturen ausgedrückt haben.
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