- -
- 100%
- +
»Das war Mirko. Er hat unsere Sachen aus dem Jaguar geholt.«
»Kann er ihn reparieren?«
Tonja seufzte. »Er könnte schon, aber der Wagen muss verschwinden.«
»Um Gottes willen! Das ist ein Jaguar MK II, Baujahr 1969 – daran hängen viele Erinnerungen!«
»Und dein Nummernschild.«
Hans sackte in sich zusammen. Sein Jaguar nun auch weg! Ein weiterer Abschied für immer.
»Was macht denn dieser Mirko mit meinem Auto?«
Sie grinste. »Er hat ein ganzes Lager mit Jaguar-Ersatzteilen. Würde mich nicht wundern, wenn er aus deinem Auto gleich zwei neue bastelt. Jaguare sind im Kosovo sehr beliebt.«
Durstewitz kam Hans in den Sinn. Oft hatte der Gute eine Mariage vorgeschlagen – man nehme ein paar abgestandene Originalteile, füge sie kunstvoll zu einer neuen Antiquität zusammen und schon war der echte Biedermeier-Sekretär fertig. »Ich hätte da ein paar tolle Handwerker aus Polen, die kriegen das erstklassig hin«, hatte Durstewitz gesagt. Ja, das hätte man machen sollen.
Tonja öffnete eine Tür, die noch tiefer ins Innere des Häuschens führte. Viel Inneres gab es nicht, ein kurzer dunkler Flur führte zu drei weiteren Türen. »Links ist das Gästezimmer, rechts schläft mein Vater und am Ende des Flurs ist das Bad. Dort kannst du dich, wenn du magst, etwas frisch machen.«
Im Gästezimmer stand ein Bett, über dem ein eingerahmtes Foto in Sepia hing. Eine Musikkapelle – einige ältere Herren und ihre Instrumente. Wie die Herren und ihre Hunde. Komplettiert wurde die Einrichtung durch eine wurmstichige Truhe, einen Ohrensessel mit fleckigem Bezug und eine gusseiserne Stehlampe mit trauernden Kordeln. So hatte man um 1947 herum gewohnt, meldete sich der Kenner in Hans. Sie luden ihre Koffer und Säcke ab, dazu die treue Hebammentasche.
»Ich weiß, ist ein bisschen eng hier. Aber das ganze Häuschen hat nur 70 Quadratmeter. Vater hat es selbst gebaut«, meinte Tonja.
Hans ließ sich auf dem Bett nieder. Er sackte durch, die Federn ächzten, der Rahmen schwankte wie eine Jolle in schwerer Dünung. Hier hatte sich wohl schon Marschall Tito in der heroischen Zeit ausgeruht, als es gegen die Besatzer, die deutschen Teufel, ging.
Tonja strich ihm übers Haar. »Ruh dich aus, ich muss noch kurz nach Karlovac, wegen der Bankvollmacht.«
Hans fiel schnell in einen leichten, unruhigen Schlaf. Und in einen scheußlichen Traum. Er stand auf Bahnsteig 18 im Frankfurter Hauptbahnhof und wollte den TGV nach Paris besteigen. Doch die zwei Rucksäcke voller Geldscheine, die er trug, ließen ihn einfach nicht vom Fleck kommen, er stand wie festgefroren. Und schon erschienen die Häscher auf dem Querbahnsteig.
Hans wachte auf, sein Hemd klebte feucht und kalt auf der Haut. Dann geh ich mal ins Badezimmer, sagte er sich und holte ein paar frische Sachen aus einem der Koffer.
Das Badezimmer war kleiner als sein Gäste-WC im Frankfurter Westend, die Ausstattung antiquarisch: ein Klo nebst lockerem Plastikdeckel, ein rissiges Waschbecken und eine Duschkabine, deren Vorhänge an den Rändern schwarze Flecken zierten. Der guguljakische Schimmelpilz. Ein Boiler, den wohl die deutschen Teufel 1945 zurückgelassen hatten. Irgendwie war das alles charmant in seiner Kargheit, machte sich Hans Mut. Er zog sich aus, fischte aus seinem Kulturbeutel ein Fläschchen Duschgel und stieg in die Duschkabine. Misstrauisch musterte er den Duschkopf hoch über sich und drehte vorsichtig an den zwei Hähnen. Im Boiler fing es an zu gurgeln, und ein stechend heißer Wasserstrahl streifte seine Schulter. Hans sprang aus der Kabine, machte ganz lange Arme und drehte erneut an den Hähnen. Nun war die Temperatur angenehm. Er stieg wieder hinein, seifte sich gründlich ein und begann, das Duschen zu genießen. Plötzlich krächzte der Boiler, ein Schwall eiskalten Wassers trieb ihn erneut aus der Kabine. Der Boiler wechselte in eine Art Keuchhusten. Das Wasser versiegte. Da stand er, komplett eingeseift. Neben dem Waschbecken hing ein gelb geflecktes, feucht-fettiges Handtuch. Zitternd versuchte Hans, sich damit trocken zu rubbeln. Dabei schaute er durch ein winziges Fenster in den Garten hinter dem Haus. Auf der Wiese stand eine Gras kauende eitergelbe Ziege. Sie nahm Hans wahr, trottete näher und glotzte ihn mit fahlen Augen an. Hans war sich sicher, dass exakt diese Ziege am Morgen dieses Tages mit genau diesem Handtuch abgetrocknet worden war.
Er seufzte. Sein erster Tag als Multimillionär.
8. Kapitel
Guguljak
»Das wäre erledigt.« Nach gut zwei Stunden kehrte Tonja zurück. Alles an ihr strahlte Zuversicht und Dynamik aus.
Hans fühlte sich immer noch matt. Als sie sich in der Küche zusammensetzten, fragte er leise: »Ich würde gerne wissen, wie es konkret weitergeht?«
Tonja schmunzelte. »Polako, polako – langsam, langsam, nur keine übertriebene Hast. Daran musst du dich gewöhnen. Merk dir dieses Wort, es ist das wichtigste in unserem Land.«
Sie tranken noch einen turska kava, während der Vater unweit des Häuschens im Garten werkelte. Hans starrte trübselig die Uhr an, und Tonja versuchte ihn aufzumuntern. »Nachher gehen wir ins ›Fässchen‹, und morgen um zwölf treffen wir Drago in Zagreb, im Esplanade. Zufrieden?« Sie erhob sich.
Kurz darauf hörte Hans sie im Badezimmer rumoren. Das Wasser der Dusche plätscherte stetig, ihr war der Boiler offenbar voller Hingabe zu Diensten. Hans dachte an seinen Jaguar, an die Beletage im Frankfurter Westend, an all das Schöne und Sichere.
Ehe er ganz in der Erinnerung versank, war Tonja zurück – frisch und mit einem Hauch Rouge auf den Wangen. Betörend.
Die Luft hatte sich merklich abgekühlt, als sie vors Haus traten und den Weg Richtung »Fässchen« einschlugen. Endlich hatte Hans Appetit. Er entspannte sich zusehends und konnte wieder klarer denken.
Mitten im hohen Gras fragte er Tonja: »Was hat es eigentlich mit der Bankvollmacht auf sich?«
Sie wedelte mit den Händen. »Ich war bei der Sparkasse in Karlovac, ich kann nun das Konto der stari rokeri mitbenutzen.«
»Stari was?«
»Die Altrocker – so heißt die Band, in der mein Vater spielt. Das Foto, das du im Gästezimmer gesehen hast. Die stari rokeri sind noch oder schon wieder in, werden sogar von jungen Leuten zu Hochzeiten gebucht. In der Kirche spielen sie brav die alten Lieder, bei der Feier danach in der Kneipe geben sie dem Schwein die Freiheit.«
»Du meinst, sie lassen die Sau raus.«
»Wie auch immer. Jedenfalls kommen die Altrocker sehr gut an. Tihomir ist ihr Kassenwart, er spielt meist Bass, kann aber auch Gitarre und Mundharmonika.«
»Und wofür brauchen wir das Konto?«
Tonja blickte Hans nachsichtig an. »Schatz, dort deponieren wir ein bisschen Geld zum Leben. Außerdem möchte ich etwas für Vater tun. Und für meine Onkel.«
»Wie viele Onkel hast du denn?«
»Acht«, antwortete sie fröhlich.
»Meine Güte. Wo leben die denn alle?«
»In Guguljak.«
»Und was tun sie?«
»Nichts.« Leise fügte sie hinzu: »Aber sie sind meine Onkel.«
Hans meinte: »Dann hoffen wir mal, dass für uns noch etwas übrig bleibt.«
Tonja erwiderte: »Mehr als genug, mein Lieber.«
Im »Fässchen« empfing sie sprudelndes Leben. Gänzlich tot war das Dorf also nicht. Hans kam es so vor, als ob sich alle 244 Guguljakaner an den Holztischen der kleinen Gaststube mit ihren weiß getünchten Wänden versammelt hatten. Direkt neben der Theke stand eine Jukebox, die Hans sofort anzog.
Tonja flüsterte: »Hier im Bačvica hat sich seit den 60er-Jahren nichts verändert. Da gab es mich noch gar nicht.«
Hans näherte sich dem gleißenden Plexiglas und den Bonbonfarben. Er streichelte die Jukebox. »Herrlich – das ist eine Wurlitzer. Das Jubiläumsmodell von 1956.« Tonja lächelte. »Ich weiß, früher war es schöner. Darüber kannst du dich gerne mit dem Wirt unterhalten. Der hockt oft nach Mitternacht allein vor dem Ding und spielt ›I can hear music‹ von den Beach Boys. Zur Not zehnmal hintereinander.«
Der Hit von 1969. Hans fühlte Wärme in sich aufsteigen. Er war nicht allein.
Gläser klirrten, Besteck klapperte, es roch appetitlich nach einem Braten, alle schwatzten fröhlich. Der eisgraue Schrat begrüßte sie mit einem freundlichen Kopfnicken.
Zielbewusst steuerte Tonja auf die hinterste Ecke zu, wo noch zwei Plätze frei waren – direkt neben einem runden Tisch, an dem sechs Männer die Köpfe zusammensteckten, eingenebelt von den Rauchschwaden ihrer Zigaretten.
»Das Business Center«, sagte Tonja leise, während sie sich setzten. »Hier geht es um Gälder, hier werden die großen Gäschäfte gemacht.«
Hans überließ ihr die Bestellung. Der Wirt brachte zwei Gläser gemišt: zwei Drittel Weißwein und ein Drittel Mineralwasser. Dazu gab es eine mächtige Platte mit getrocknetem Schinken und Maisbrot. Hans langte zu, es schmeckte vorzüglich. Nach dem zweiten Glas gemišt fragte er Tonja aufgeräumt: »Und was machen die Bisnissmän in diesem Bisniss Zäntar genau?«
Sie flüsterte: »Keiner von denen hat Geld, aber sie kennen Leute, die Leute kennen, die angeblich Geld haben. Oder besondere Geschäftsideen. Und das bemurmeln die jeden Abend.« Sie lauschte unauffällig, dann fasste sie das Gehörte zusammen. »Im Moment geht es darum, wie man Goldbarren herstellt, die im Kern nur aus Wolfram bestehen. Soll besser sein als Füllungen aus Blei oder Stahl, weil nicht so schnell nachweisbar.«
Hans trank seinen dritten gemišt und beobachtete den Nachbartisch. Der Wortführer trug als Einziger Anzug und Krawatte. Ein fragender Blick zu Tonja.
Die meinte, der käme sicher aus Zagreb. »Nun spricht er über garantiert echte künstliche Diamanten.«
Danach wurde laut Tonja der Verkauf von Anteilscheinen einer nichtexistenten Ölbohrplattform in der Bucht von Rijeka diskutiert, gefolgt von einem Sonderposten Benzin aus serbischen Armeebeständen und vier Lastwagen Schmuggelzigaretten aus Montenegro. Hans war auf einmal bester Laune, er wünschte sich Durstewitz in diese Runde.
Als Hans und Tonja das »Fässchen« verließen, erörterten die Bisnissmän das neueste Geschäftsmodell: den doppelten Verkauf von Ferienwohnungen an der Adria.
Unter sternenklarem Himmel spazierten Hans und Tonja Hand in Hand Richtung Schachtel. Hans freute sich darauf, mit Tonja die Jolle im Gästezimmer zu besteigen.
Er wurde nicht enttäuscht. Es schwankte und ächzte, Tonjas zärtliche Seufzer mischten sich in den Gesang der Zikaden draußen vor dem offenen Fenster. Hans war es, als höre er das 150 Kilometer entfernte Meeresrauschen. Er verlor sich im Duft ihrer Pfirsichhaut, in ihren Säften, in ihrer Weichheit und Wärme. Wonne ohne Ende. Und Vater Tihomir, der ewige Bassist, schaute aus seinem Foto heraus zu.
9. Kapitel
Zagreb
»Odlično!« Juchzend jagte Tonja den alten Renault ihres Vaters durch Guguljak. Hühner stoben auseinander, Staub wirbelte hoch. Es war gegen elf und der Tag nicht so heiß wie der gestrige. Hans wusste schon, was odlično bedeutete – toll, prächtig, ausgezeichnet. Auf Höhe der Zwillinge drosselte sie das Tempo. Durch die offene Seitenscheibe hörte Hans das vertraute »Pi me ga, pi me ga« herüberwehen.
Tonja sagte: »Eigentlich sind es brave Burschen, Slavko und Branko. Mit denen habe ich noch einiges vor.«
Grundgütiger, dachte Hans und duckte sich tief in seinen Sitz, als Tonja das Gaspedal wieder durchtrat.
Der Fahrtwind wirbelte ihre schwarze Mähne auf, sie schnalzte mit der Zunge. »Wie aufregend! Ist doch herrlich, mal etwas völlig Neues anzufangen.«
Ergeben nickte Hans. Er wollte nur die Fahrt bis in die Hauptstadt überleben. Der Wagen donnerte bergab, Hans schloss die Augen. Er öffnete sie erst wieder, als er das Auto in der Horizontalen wähnte. Sie waren auf der Autobahn nach Norden, Tonja fuhr gesitteter und reihte sich in den Verkehr ein, der umso dichter wurde, je näher sie Zagreb kamen. Auf einer mehrspurigen Straße durchquerten sie Novi Zagreb, den Südteil der Hauptstadt. Hans sah vielgeschossige graue Wohnmaschinen, dazu moderne Bürohochhäuser, viel Stahl, Beton und Glas. Sie fuhren über die Save, die den Süden und Norden der Stadt trennte, und hinein in das alte Zagreb. Prächtige Fassaden, Ringstraßenarchitektur; unversehens sah sich Hans in das alte Wien seiner angenehmsten Erinnerungen versetzt. Endlich wieder Großstadt, zurück in der Zivilisation.
Tonja stellte das Auto vor dem Hauptbahnhof ab, einem eleganten, klassizistischen Bau.
»Ich will dir was zeigen«, sagte sie, während sie ausstieg. Sie zog ihn durch das Gewimmel der Menschen, und plötzlich standen sie vor einem mächtigen Denkmal, einem mittelalterlichen Reiter mit gezücktem Schwert. »Tomislav, unser erster König. 925. Ist zwar ein Weilchen her, aber wir sind stolz auf ihn.«
Hans war beeindruckt. Vom Denkmal aus öffnete sich eine Blickachse über einen von Baumalleen gesäumten Park bis hin zur Oberstadt mit zwei blendend weißen Kirchtürmen. Am Horizont sah Hans die Silhouette eines gewaltigen Bergmassivs.
»Unsere Kathedrale, und dahinter siehst du das Medvednica-Gebirge mit dem Sljeme, dem Hausberg von Zagreb«, sagte Tonja.
Hans nickte zustimmend, das alles gefiel ihm.
Tonja bemerkte seine Freude. »Kroatien ist klein, aber größer als Guguljak.« Sie lenkte seinen Blick nach links. »Und das ist das Esplanade.«
Ein paar Hundert Meter entfernt ragte das Hotel wie eine Zauberburg vor ihm auf. Sechs zartgraue Geschosse zählte Hans, vorgelagert waren eine große Terrasse und ein Springbrunnen mit mächtiger Wasserfontäne.
»Art déco von 1925, hier machten früher die Reisenden aus dem Orientexpress Station. Inzwischen zum Glück wieder ein Fünf-Sterne-Haus«, sagte Tonja.
Hans blieb stehen und staunte, bis sie ihn am Arm nahm und mahnte: »Wir müssen los, wir sollten pünktlich sein.«
Hans witzelte: »Habt ihr hier nicht eher ein mediterranes Zeitgefühl? Von wegen polako?«
Tonja lachte. »Du lernst schnell. Aber Drago ist überpünktlich. Wie der Prokurist einer deutschen Schraubenfabrik.«
Eine geschwungene Auffahrt, in der gerade ein Bentley entladen wurde, führte sie ins Foyer des Hotels. Alles in Hans atmete auf. Er musterte den schwarz-weißen Marmor der Wände, die edeldünnen Teppiche, die ausladenden Treppenaufgänge, die prachtvollen Lüster und Uhren im Stil von 1925, die die Ortszeiten in New York, Buenos Aires, London und Paris anzeigten. Hans war versucht, die Uhren »Zeitmesser« zu nennen. Vor der Rezeption stand das zum Bentley gehörende Paar: ein gepflegter Herr und eine junge Brünette, die mit Sicherheit nicht seine Tochter war. Hans genoss die luxuriöse Ruhe. Hier liefen keine Ziegen herum, hier wurde auch nicht geschossen.
Tonja lenkte ihn sanft in die angrenzende Bar mit ihren Spiegeln und dem glänzenden Parkett. Nur wenige Tische waren besetzt. Ein Pianist spielte dezent im Hintergrund, Kellnerinnen in weißen Schürzchen und Schnürschuhen schwebten durch den Raum. In einer Ecke erhob sich ein junger Mann. Drago sah ganz anders aus, als Hans ihn sich vorgestellt hatte. Er schätzte ihn auf Anfang 30, Tonjas Alter. Drago neigte schon zur Fülle, er hatte kurz geschnittenes Haar, große, flinke Augen. Seine Pausbäckchen erinnerten Hans an die Putten in der Fassade seiner Westend-Wohnung.
Drago kam ihnen in einer weit ausholenden Kurve entgegen, orderte im Vorübergehen bei einem der Engel in Schwarz-Weiß Champagner und Sandwiches. Er küsste und umarmte Tonja. Hans wurde mit einem kräftigen, weniger langen Händedruck bedacht. Aber beide lud Drago überschwänglich ein, sich zu setzen. Sie waren die Einzigen in dieser hintersten Ecke der Bar.
Hans sank in einen schwarzbraunen Ledersessel. Seine linke Hand liebkoste das erstklassig vernähte Leder, mit der rechten streichelte er den feinen Samt an der Seite. Auf dem runden Clubtisch vor ihm schwamm in einem kugeligen Glas das weiße Köpfchen einer Rose. Sein Blick ging durch eines der hohen, von cremefarbenen Vorhängen flankierten Fenster hinaus auf die Terrasse. Hier könnte er länger bleiben.
Dragos blauer Anzug war so perfekt wie sein Englisch und die Maniküre seiner Fingernägel. Als der Champagner perlte, hob er das schlanke Glas und kam schnörkellos in fast akzentfreiem Deutsch zur Sache. »Fünf Millionen für mich. Fünf weitere für euch, die ich in bar dabei habe. Ich habe mir erlaubt, ein Menü aus Euro, Kuna und US-Dollar zusammenzustellen – war gar nicht so einfach, ich hatte viel Lauferei. Das Geld ist in meinem Wagen, der direkt hinter dem Hotel parkt.«
Tonja nickte stumm.
Drago fuhr, ohne eine Miene zu verziehen, fort: »60 Millionen sind seit gestern Eigentum der Stiftung zur Förderung des Militärmuseums Karlovac. Weitere 60 lagern bei der Unterstützungskasse für die Dombauhütte Sveti Stjepan in Zagreb. Und über fast 70 Millionen freut sich das Waisenhaus Marija Petković in Split. Ich habe die Ehre, diese verdienstvollen Stiftungen als Treuhänder zu führen.«
Tonja grinste. »Gut ausgesucht.«
Drago feixte: »Unser tapferes Militär, unsere hochverehrte Kirche und unsere lieben Waisen – das ist die perfekte Mixtur. An die wagt sich niemand so schnell heran. Aber lange sollte das Geld dort nicht bleiben.«
»Dafür wird Dr. Strozzi in Triest ganz sicher sorgen«, erwiderte Tonja.
Hans verstand immer weniger und nippte ratlos an seinem Champagner.
Tonja bemerkte es und tätschelte ihm eine Hand. »Erkläre ich dir alles später.«
Drago erhob erneut sein Glas und sagte würdevoll: »Heute ist ein besonderer Tag. Nach langen Jahren vertrauensvoller Zusammenarbeit trennen sich die Wege der Zagorska Banka und der meinige. Ein bisschen wehmütig bin ich schon.«
Tonja lachte heiser. »Was wirst du vermissen?«
»Vor allem den Blick aus meinem Büro auf den Jelačić-Platz, auf das Denkmal unseres tapferen Ban Jelačić.«
Tonja erklärte Hans: »Der Jelačić-Platz ist das Herz des alten Zagreb. Jelačić war ein Feldherr und Ban, k. k. Feldzeugmeister und Kommandeur des Maria-Theresia-Ordens. Hat den Aufstand der ungebärdigen Ungarn 1848 niedergeschlagen. Ein treuer Vasall des Hauses Habsburg, einer unserer Nationalhelden.«
Hans nickte, es war beruhigend, von Helden umgeben zu sein.
Tonja wandte sich wieder Drago zu. »Und wann geht es nach Triest?«
»Sobald wir hier fertig sind. Ich hab euch noch etwas Besonderes mitgebracht – eine Schreibmaschine.«
»Wozu denn das?«, entfuhr es Hans, der auch einen Redebeitrag leisten wollte.
»Wir werden ab sofort«, sagte Tonja, »mit Drago nur noch wie in der guten alten Zeit kommunizieren. Schriftliches gibt es nur in Ausnahmefällen und dann auf der Schreibmaschine verfasst. Das meiste werde ich sowieso ausschließlich in meinem Kopf aufbewahren. Den kann keiner belauschen.«
»Das ist ein absolutes Muss. Im Netz oder sonst wo dürfen wir nicht vorkommen, mit keinem Bit.« Drago schüttelte den Kopf. »Heute wird alles elektronisch überwacht, eigentlich ein Skandal. Man kann seinen Geschäften kaum noch richtig nachgehen.« In seiner Stimme schwang aufrichtige Empörung mit.
Sie schwiegen, griffen nach den Sandwiches und ließen die intime Atmosphäre der Bar auf sich wirken.
»200 Millionen, das ist unfassbar viel Geld!«, sagte Hans unvermittelt.
Dragos flinke Augen fixierten ihn kühl. »Finden Sie? Dafür kriegt man keine zwei Weltklasse-Fußballer.«
Hans musste ihm recht geben. Für den Moment wurde er von einer gewissen Leichtigkeit erfasst. Er erwiderte: »Oder drei anständige van Goghs.«
Drago ging nicht weiter auf Hans ein, sondern wechselte das Thema. »Wie geht es in Guguljak voran?«
»Gar nicht«, sagte Tonja mit einem Anflug von Verdrossenheit.
Drago fuhr sich durch seine kurzen Haare. »Tja, nur im ›Fässchen‹ sitzen bringt einen nicht viel weiter.«
Die drei lauschten dem Klavier, ab und an schritt ein Bisnissmän vorbei, wahrscheinlich ein echter, wie Hans befand.
Drago schaute auf seine elegante Uhr. »Wir sollten dann mal.« Er zahlte bar, und gemeinsam verließen sie das Hotel. Während die beiden sich untergehakt hatten und angeregt auf Kroatisch miteinander schwatzten, trottete Hans hinterher. Militärmuseum, Dombauhütte, irgendwelche Waisen und jetzt auch noch ein Herr Dr. Strozzi. Hoffentlich würde sich das irgendwann entwirren.
Der armanigraue BMW Dragos parkte in einer Seitenstraße. Drago öffnete den Kofferraum und holte schwungvoll eine schwere Reisetasche und eine prall gefüllte Einkaufstüte von Lidl heraus. Die Reisetasche sah billig aus mit ihrem abgeschabten Kunstleder, in der Einkaufstüte hätten auch geschnittenes Brot, Äpfel und Käse sein können. Drago reichte beide Hans und meinte: »Die fünf Millionen wiegen über 40 Kilo.« Die Reiseschreibmaschine aus rotem Kunststoff übergab er Tonja.
Hans erkannte sie sofort, sein Vater hatte sie so geliebt, die Olivetti Valentine, das Kultgerät von 1969, das Meisterstück von Ettore Sottsass. Auf einem solchen Typ hatte Hans als Kind in der elektroniklosen Vorzeit noch getippt.
Drago herzte und küsste Tonja und gab nun auch Hans Wangenküsse rechts und links. »Das wird schon, mein Freund«, ermunterte er ihn strahlend.
»Ich komme übermorgen gegen Mittag nach Triest«, sagte Tonja.
Drago nickte. Er schwang sich in seinen Wagen, startete und röhrte um die nächste Ecke.
Tonja und Hans gingen Richtung Bahnhof. Er schleppte Reisetasche und Tüte, sie trug die Olivetti. Hans fühlte sich wie in einem Minenfeld. Er rechnete damit, dass sich jeden Moment ein Vermummter aus der Menschenmenge lösen und ihm die Taschen entreißen würde.
Tonja erriet seine Gedanken. »Keine Sorge, Hans. Wir laufen durch die Gegend wie zwei Flüchtlinge mitsamt ihrer letzten Habe.«
Niemand nahm von ihnen Notiz, brav stand der Renault da, wo sie ihn abgestellt hatten. Die Reisetasche, die Tüte und die Olivetti kamen hinter die Vordersitze. Hans beäugte Tasche und Tüte, als ob sie jeden Moment explodieren könnten. Da drin also waren fünf Millionen, kaum zu glauben.
Tonja wollte sofort losfahren, doch Hans legte eine Hand auf ihre Schulter. »Tonja, wollen wir nicht noch ein bisschen bleiben? Wir könnten eine Suite im Esplanade buchen für ein paar entspannte Tage. Das da in der Tasche müsste wohl reichen. Im Esplanade gefällt es mir irgendwie besser als im ›Fässchen‹.« Er sehnte sich nach einem geschützten Ambiente, er wollte in Ruhe einordnen, was ihm alles widerfahren war und was ihm noch bevorstand. Und er wollte endlich ein richtiges Badezimmer.
Sie fasste spielerisch an seine Nase. »Und wie willst du dich im Hotel anmelden? Mit deinem Pass, als Hans Bäumler aus Frankfurt am Main? Bitte, Hans, das Esplanade läuft uns nicht weg, wir werden dort bald öfter sein. Aber erst, wenn du eine neue Identität hast.«
Wie vom Schlag gerührt, nahm Hans auf dem Beifahrersitz Platz. Bäumler war zwar kein toller Name, aber so hieß er seit 40 Jahren, seit der Ausstellung der Geburtsurkunde in Frankfurt am Main-Seckbach. Während Tonja den Wagen wieder nach Süden lenkte, hing Hans schlaff im Sitz. Stück um Stück wurde ihm alles genommen, als Nächstes also die Identität. Er griff nach hinten und betastete die Reisetasche. Es fühlte sich gut an, seine Stimmung hellte sich auf.
Auf der Autobahn hatte er sich gefasst. »Wenn ich das richtig mitgekriegt habe, ruht unser Geld bei diesen komischen Stiftungen. Wer hat darauf Zugriff?«
»Drago natürlich.«
»Und warum?«
»Weil er schon vor längerer Zeit ein paar Konten für die Stiftungen bei verschiedenen anderen Banken eröffnet hat. Genau dorthin hat er unser Geld transferiert, damit weder die Concom noch die Zagorska Banka drankommen.«
Hans wunderte sich. »Wie hat er denn ahnen können, dass …«
»Nein, mit uns hat das nichts zu tun. Die Stiftungen dienten ein paar Nebengeschäften. Und die Konten hat Drago sozusagen auf Vorrat angelegt, für den Tag X, für die große Chance.«
»Ich nehme an, die Freunde des kroatischen Militärs und die Dombaumeister, ganz zu schweigen von den lieben Waisen, haben keine Ahnung?«
»Das ist ja der Sinn der Sache.«
40 Minuten später war Tonja an der Abzweigung nach Guguljak angelangt und trieb den Wagen die Serpentinen hoch.
»Dieser Drago ist ein waschechter Gauner«, murmelte Hans.