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Wenig später hörten wir sie wieder geräuschvoll mit den Ringen des Herdes hantieren, während wir erhebliche Mühe hatten in der Enge des Zimmers unsere Sachen unterzubringen. Die beiden Liegen mussten früher zwei Kinderbetten gewesen sein, ein Nachtschränkchen, ein kleiner Tisch und zwei schmale Stühle, das alles war mit viel Geschick in das kleine Zimmer gestopft worden. Chris der sehr groß war, hatte erhebliche Probleme mit der kleinen Schlafgelegenheit klar zu kommen, doch unser beider Toleranz war letztlich größer als die kurzen Betten und der winzige Raum, zumal wir uns hier ausnahmslos in der Nacht aufhalten wollten, oder das, was letztlich von ihr übrig blieb.
Wohnkomfort interessierte uns damals überhaupt nicht, uns drängte es geradezu ans Meer, hin zu den unendlichen Weiten, dorthin wo die Freiheit grenzenlos ist, und wo das Abenteuer mit Sicherheit schon auf uns wartete.
Für uns begann der Tag gewöhnlich am späten Vormittag, wenn wir an der etwas schwerhörigen Oma vorbei schlichen, um an den weit weg gelegenen Strand zu wandern. Auf dem Herd summte zu jeder Tageszeit der Wasserkessel, und sein monoton pfeifendes Klagelied schwebte zeitlos über der dahindämmernden Küche. Jedes mal wenn uns die alte Dame wahrnahm, drehte sie sich freundlich zu uns ein, und es hatte den Anschein, als würden sich die Runzeln ihres Lächelns oberhalb der Stirn mit den Falten ihres Kopftuches vereinen. Unseren Morgengruß erwiderte sie stets mit dem gleichen Satz: „ Ja, ja, nu jeht et wieder an jrünen Strand der Spree.“ Dabei streifte sie, wie ich es von ihr bereits schon kannte, verlegen ihre Hände an der Schürze ab, eine Geste die einfach dazu gehörte, um sich dann gleich wieder ihrem Kochherd zuzuwenden, während wir dem Meer und unseren Eroberungen entgegeneilten.
Bei unseren Strandspaziergängen stellte sich auch bald Erfolg ein, denn Chris lernte eine Schwedin und ich eine Berlinerin kennen. Zwischen Dünen und Meeresrauschen verbrachten wir eine traumhafte Zeit. Im kleinen Glück des verliebt seins versinkend, verloren wir uns in der Weite zwischen Himmel und Meer, ein Schwebezustand der weder Raum noch Zeit kannte. Die scheinbar endlosen Tage, sie vergingen wie im Rausch.
Irgendwann erwachten wir aus dem Taumel der Gefühle, die Wirklichkeit hatte uns wieder eingeholt. Zwei Urlaubswochen, sie waren wie im Flug vergangen, und nach einer letzten Nacht inniger Berührungen hieß es Abschied nehmen. Wieder gab es Versprechungen, Schwüre, und Adressen austauschen. Ich schreibe dir bestimmt und ähnliche Floskeln, so wie einst in Werder, wiederkehrende Worte gedankenlosen Verliebt seins, welche die Zeit irgendwann unter sich begräbt.
Der Augenblick des Abschiednehmens war gekommen. Noch den süßen Geschmack der letzten Nacht auf den Lippen, standen wir auf dem kleinen Bahnhof, um von unseren Liebsten Abschied zunehmen. Der Urlaub der beiden Mädels war früher zu Ende, während Chris und ich noch zwei Tage länger bleiben konnten.
Letzte innige Küsse auf dem Bahnsteig. Hände die nicht loslassen wollten, bis sich die kleine Dampflok schnaufend in Bewegung setzte. Weiße Wölkchen im Blau zurücklassend, dampfte die alte Schmalspurbahn mit unseren Eroberungen davon, bis der Horizont sie in die Unendlichkeit aufnahm.
Zwei Tage später standen Chris und ich auf dem gleichen Bahnsteig. Hinter uns lag ein zauberhafter Ostseeurlaub und der Sommer neigte sich seinem Ende zu.
2
Ein Jahr als DEFA Mitarbeiter lag jetzt hinter mir. Der August hatte seine sommerlichen Tage an den September weitergegeben und Fortuna war wieder einmal an meiner Seite. Dort wo einst die Stars der UFA residierten, in der lauschigen Umgebung des Griebnitzsees, bekam ich in einer schönen alten Villa eine kleine Wohnung. Auch wenn die Großen aus der Blütezeit des deutschen Films hier nicht mehr wohnten, ihr Geist hatte sich noch nicht ganz aus den Häusern verflüchtigt. Von Marlene Dietrich bis Hans Albers, alle hatten hier ihre Zeit, haben das Bild dieser Gegend atmosphärisch mitgeprägt und ihre ganz individuellen Spuren hinterlassen.
Die Teilung Deutschlands in der Nachkriegszeit hatte zur Folge, dass der Grenzverlauf in diesem Areal mitten durch den Griebnitzsee gezogen wurde, so dass sich die am östlichen Ufer gelegenen Villen dieses Sees seither in staatlicher Verwaltung befanden, und das ebnete der Deutschen Film AG (DEFA) den Weg, einen großen Teil ihrer künstlerischen Mitarbeiter hier anzusiedeln. Autoren, Dramaturgen, Regisseure, Kameraleute, selbst Schauspieler und ein griechischer Schlagersänger, alle hatten hier eine Heimat gefunden. Mein neues zu Hause befand sich unweit vom S- Bahnhof Griebnitzsee, mitten im Grünen und paradiesisch gelegen, auch wenn ein paar hundert Meter weiter die damals noch offene Grenze zu Westberlin verlief.
Mein Zimmer hatte ich spartanisch eingerichtet. Ein alter Kleiderschrank, eine einfache Couch, ein runder Korbtisch mit dazu gehörigem Sessel, alles überflüssiges Mobiliar aus meinem Elternhaus. Mit Hilfe der Dekoabteilung des DEFA Studios gelang es mir ein Drittel des Zimmers durch eine Wand aus grauem Dekostoff, so genanntem Rupfen, abzutrennen und den so entstandenen Miniraum einfach zu meiner Küche zu kreieren. Außer einem Zweiloch Kocher befand sich hinter diesem Verschlag auch ein kleines Waschbecken, welches gleichermaßen als Geschirrspüle, als auch für die morgendliche Katzenwäsche herhalten musste. Das alles war meine kleine Welt, hier fühlte ich mich frei, von hier aus wollte ich fortan die große Welt erobern.
Mein neunzehnter Geburtstag. Wenn ich heute über diesen Tag nachdenke, genauer gesagt über die dazugehörige Nacht, und die Erinnerung die ich daran bewahre, war dies das aufregendste Erlebnis meiner jungen Jahre:
Ein schöner Spätherbsttag war gerade im Begriff sich zu verabschieden. Für die abendliche Geburtstagsfete hatte ich tagsüber alle Mühe aufgewendet, um aus Rotwein, Käse, Weißbrot und Schmalzstullen ein Minibuffet zu kreieren, von dem ich überzeugt war, dass es in seiner Grundausstattung den kulinarischen Erwartungen meiner illustren Gästerunde entsprechen würde. Mein damaliger Freundeskreis war riesig, enthielt alle Schattierungen einer Boheme, oder das was man dafür hielt. Und so kamen sie alle:
Angehende Schauspieler, Tänzer, Halbintellektuelle, Komparsen, noch nicht ganz fertige Kameraleute, als auch flüchtige weibliche Bekannte, mit denen ich die Höhen und Tiefen der Horizontalen noch nicht erfahren hatte. Wie sich schon wenig später herausstellen sollte, ist meiner jungfräulichen Naivität dabei wohl Einiges entgangen.
Kurzum, Septemberabende beginnen bekanntlich früher, können aber unendlich lang sein. Die Mücken versammelten sich bereits säulenförmig unter meinem Fenster, während die letzten Sonnenstrahlen vergebliche Anstrengungen unternahmen, um sich an den Bäumen des Griebnitzsees festzuhalten, bis erste dünne Nebelschwaden sie durchtrennten, um sie sanft mit ihrem Schleier zuzudecken.
Der frühe Abend schob die Dämmerung lautlos vor sich her, als mir klar wurde, dass meine kleine Wohnung bereits restlos überfüllt war, was aber nicht bedeutete, dass der Gästezuwachs nun aufhörte, keineswegs. Wer jetzt noch kam, ließ sich nach kurzer Begrüßung einfach im Treppenhaus nieder, denn die breiten Stufen der zweistöckigen Villa boten dafür eine gute Voraussetzung.
Meine Nachbarn auf der gleichen Etage, ein Dramaturg mit seiner Familie, tolerierten problemlos meine Raum einnehmende Geburtstagsfeier und zogen sich bereitwillig in ihre Wohnung zurück. Damit stand uns fast das ganze Haus zur freien Verfügung, welch wunderbare Voraussetzung für eine Fete, die jeder nach seinen Bedürfnissen ausleben konnte.
Der Treppenabsatz vor meiner Wohnungstür glich schon nach kurzer Zeit einem Versammlungsraum der achtundsechziger Kommunarden. Alle hockten eng nebeneinander, redeten, gestikulierten, rauchten, und schütteten beachtliche Mengen Rotwein in sich rein. Auf den Stufen treppabwärts saßen sich Männlein und Weiblein dicht gedrängt gegenüber, im verbalen Wettstreit bemüht, ihre Anmache durch geistreiche Gespräche spielerisch auf den Weg zu bringen.
Unten im Parterre befand sich eine Besenkammer, die wir Hausbewohner als Abstellraum für alle möglichen Gerätschaften nutzten. In der Ecke dieses Verschlages lehnte schon seit längerer Zeit ein zusammengerollter Teppich, wer ihn dahin gestellt hatte, war nicht mehr auszumachen. Da aber die Kammertür nicht verschlossen war, verwandelte sich der kleine verschwiegene Raum im Handumdrehen für das eine oder andere Pärchen zum Kurzzeitseparée. Obwohl sich keiner der Gäste über seinen erquickenden Aufenthalt in diesem Örtchen direkt geäußert hatte, arbeitete sich die Verschwiegenheit des kleinen Abstellraumes wie ein Lauffeuer treppaufwärts. Und während in meinem Wohnzimmer lautstark die Hauptfete lief, fand in der winzigen Besenkammer der eine oder andere männliche Gast die vermeintlich aufregendste Stelle seiner Partnerin. Hatte sich die Spannung des in der Kammer mit sich beschäftigten Pärchens geräuschvoll gelöst, öffnete sich auch bald die kleine Tür, und wie der Wechsel in einem Taubenschlag, verschwanden die nächsten Turteltäubchen im Dunkel des Verschlages.
Zeitgleich zu den unten in der Besenkammer zahlreich stattfindenden Vermehrungsversuchen, konnte der aufmerksame Beobachter oben in meinem Zimmer eine völlig andere Art sexuellen Begehrens ausmachen. Auch hier verflüchtigte sich bisweilen ein Pärchen, allerdings nicht hinter einer Tür, die es ja nicht gab, sondern gleich hinter die Rupfenwand in meine Miniküche. Glücklicherweise hatte das durch diesen Raumteiler abgetrennte Zimmerdrittel keine eigene Beleuchtung, ausgenommen die schwache Glühbirne über dem Waschbecken und die hatte gerade mal die Leuchtkraft einer Öllampe. Im matten Schimmer dieser Funzel bot sich willigen Pärchen deshalb eine eben so gute Gelegenheit, ungestört ihre mehr oder weniger intimen Erfahrungen auszutauschen.
Unter den weiblichen Gästen meiner illustren Runde konnte man schon eine vielfältige Mischung von Berufen ausmachen. Im Durcheinander meines Zimmers vereinten sich Tänzerin und Regieassistentin mit Näherin und Kellnerin, also ein durchaus breit gefächertes Spektrum, aus dem ich einige der Mädchen zwar flüchtig von Tanzabenden im Babelsberger Ratskeller kannte, aber andere hingegen waren mir völlig fremd.
Unter den flüchtigen Bekanntschaften fiel mir allerdings ein Mädchen sofort ins Auge. Bemerkenswert die wohlgeformten Proportionen ihres Körpers, ihre kurz geschnittenen Haare, die das ebenmäßige, rundliche Gesicht wundervoll einrahmten und ihrem Antlitz zu einer harmonischen Symmetrie verhalfen. Sinnigerweise nannte man sie „Spatz“ aber das war auch schon alles, was ich von ihr wusste. Auffällig an ihr aber war etwas, das ich bis heute nicht vergessen habe: Eine geheimnisvolle Aura umflorte sie, sie roch verführerisch nach einem betörenden französischen Parfüm.
Als ich wieder einmal nach einer Treppenhausvisite nach oben in mein Zimmer drängte, hatte ich sofort diesen alles durchdringenden Geruch in der Nase, und das bei dem durchdringenden Gestank nach Suff und Zigarettenrauch, doch ich wusste auch gleich, wem dieser erotisierende Duft zuzuordnen war.
Meine Zimmertür stand halb offen, verdeckte genau den Einblick in meine abgetrennte Miniküche, in der ich die Quelle dieses Duftes auch sofort vermutete. Als ich die Tür weiter öffnen wollte wurde mir allerdings klar, dass ich damit dem hinter meiner spanischen Wand mit sich beschäftigten Pärchen keinen Gefallen tun würde. So ließ ich einfach die Tür wie sie war, zog mich wieder dezent zurück und mischte mich ganz unauffällig unter den lautstarken Teil der prall gefüllten Zimmerrunde.
Mit Rotweinglas in der Hand ruderte ich durch das Gemenge der Tanzenden und klemmte mich auf eine der übrig gebliebenen Kanten meines dicht belagerten Sofas. Gelangweilt musterte ich zunächst die gegenüberliegende graue Rupfenwand und verglich die Aktfotos der aufgeklebten Filmposter mit meinem schlichten, selbst gemalten weiblichen Akt, den ich jetzt aus der Distanz heraus besonders kritisch in Augenschein nehmen konnte.
Hatte ich Halluzinationen, oder begann die Wand plötzlich ein Eigenleben zu entwickeln? Aus meiner tiefsinnigen Betrachtung gerissen, suchte ich plötzlich nach einer Erklärung für die seltsame Verformung des Stoffes und wurde zunehmend unsicher. In kurzen regelmäßigen Abständen begann sich der Dekostoff meiner künstlichen Wand genau in Höhe meines Kunstwerkes beängstigend auszubeulen. Neugierig geworden sprang ich auf und schlängelte mich durch die Tanzenden hindurch auf die atmende Wand zu, um einen vorsichtigen Blick dahinter zu wagen.
Was ich jetzt sah, überraschte mich schon ein wenig, denn man unternahm hier gerade permanent den Versuch, meinem stillen Akt neues Leben einzuhauchen. Trotz der innigen Körperverknüpfung konnte ich zweifelsfrei ermitteln, wer hier in unzweideutiger Weise miteinander beschäftigt war. Mit dem Rücken an mein Waschbecken gelehnt, den Kopf verzückt in den Nacken geworfen, stand, mit heruntergelassenen Hosen und in einer Haltung, die demonstrativ schon eine künftige Größe erahnen ließ, der Schauspielstudent Wolf Lauchstedt.
Dicht vor ihm, in einer durchaus demütigen Haltung, kniete Spatz, und das Rot ihrer Lippen mühte sich gerade um das Beste, was Wolf ihr zu bieten hatte. Dabei ging ihr kurz geschnittener Bubikopf von rhythmischer Wollust diktiert auf und ab, als befände sie sich vor einer buddhistischen Gebetsmühle. Akustisch untermalten Wolfs Schlachtrufe, zwar leicht unterdrückt aber anfeuernd, diese obskure Szenerie: „Ja, ja weiter, ja genau, ja!“ Von Spatz war hingegen nur ein unterdrücktes Schmatzen zu vernehmen, und so zog ich mich vorsichtshalber wieder zurück, um mich wieder lautlos unter meine Gäste zu mischen.
Auf der anderen Seite meines Zimmers angelangt war ich mir jetzt ganz sicher, dass es zweifelsfrei der Hinterkopf der Knienden gewesen war, der ständig in gleichmäßigem Rhythmus meine Rupfenwand verformt hatte. Dass dadurch mein Kunstwerk genau an einer bestimmten Stelle nachgegeben hatte, kurioserweise da, wo sich der Hintern meines weiblichen Aktes dem Betrachter entgegenstreckte, blieb für mich einfach ein erheiternder Nebeneffekt. Spätestens jetzt wurde mir klar, dass es in meinem Haus zwei Separées gab, in denen jeder nach seinen individuellen Bedürfnissen der schönsten Sache der Welt nachgehen konnte.
Zufrieden und beruhigt ruderte ich wieder, mein Rotweinglas durch das Knäuel der Tanzenden balancierend, auf meine Sofaecke zu, und war voller Überzeugung, ein guter Gastgeber zu sein. Auf neue Abenteuer hoffend ließ ich mich wieder völlig entspannt zwischen all den Diskutierenden auf mein Sofa fallen, nippte an meinem Glas herum und schloss für einen kurzen Moment die Augen. Angespannt lauschend versuchte ich vorbeiflüchtende Musikfetzen aufzufangen, wollte mich voller Hingabe auf das durchdringende Röhren des Souls einlassen, der trotz seiner Intensität große Mühe hatte, durch das akustische Stimmengewirr des Raumes hindurch bis zu mir vorzudringen.
Als ich nach einer ganzen Weile vergeblichen Lauschens wieder aufsah, konnte ich unter den Rauchschwaden meiner Hängeleuchte auf einmal seltsame Bewegungen ausmachen und mein Blick heftete sich wie gebannt auf den glockenförmigen Dunstschleier in der Mitte meines Zimmers.
Im Zentrum dieses Lichtkegels erkannte ich Gitti, eine Tänzerin aus dem DEFA Ballett, und sah voller Bewunderung, wie sie genau unter dem nebligen Dunst der Lampe ihre aufregend erotischen Bewegungen nach der nicht weniger aufregenden Musik von Janis Joplin zelebrierte. Kurz vor meiner Fete hatte ich von einem Freund ganze achtzehn verbotene Titel dieser einzigartigen Sängerin auf Band überspielt und sie in meinen Musik Mix eingebaut. Röhrend beendete J.J. gerade den Titel May baby, und nahtlos folgte der sechseinhalb Minuten lange, einschmeichelnde Song Work me, Lord.
Alles um mich wurde zur Nebensache, verschwand geradezu im Nichts. Plötzlich war ich wie von Sinnen, fand es durchaus erregend nur der Musik zu lauschen und gleichzeitig wie hypnotisiert den Bewegungen dieser magischen Tänzerin zuzusehen. In ihrem eng anliegenden schwarzen Trikot glichen Gittis Bewegungen beinahe einer Cobra. Ihr schlanker Körper bog sich, machte schlängelnde Bewegungen, als wolle sie sich um einen Baum winden, zog sich wieder zusammen, um sich aber im selben Moment wieder blitzartig aufzurichten.
Fasziniert konnte ich beobachten, mit welcher Hingabe sie jede ihrer anmutigen Bewegungen ausführte, wie perfekt sie ihren Körper beherrschte. Ich war mehr als beeindruckt von der Anziehungskraft dieser Gestik, die ihresgleichen suchte, und nahm mir fest vor, sie nach dieser überaus sinnlichen Darbietung unbedingt in irgendein Gespräch zu verwickeln. Die Gelegenheit dazu ergab sich unerwartet schnell, wenn auch anders als ich es vorhatte:
Der nachfolgende Jazztitel löste unter der Besatzung meines Sofas eine kribbelige Unruhe aus. Wer nicht gerade knutschend an seiner Partnerin hing sprang auf, weil er sich von dieser Musik zwingend zum Tanzen animiert fühlte. Mir ging es nicht viel anders, und besonders als sich der Titel Take Five, gespielt von Dave Brubeck zu mir durchswingte, konnte mich keiner mehr davon abhalten, meinem Sofa augenblicklich den Rücken zu kehren. Es war und blieb einer meiner Lieblingstitel. Diesem Rhythmus wollte ich mich hingeben, wollte um alles in der Welt mit dieser einzigartigen Tänzerin und dieser Musik eins sein, sinnlich mit ihr verschmelzen.
All meinen Mut zusammennehmend ging ich mit schlotternden Knien, halb in Trance, wie von Geisterhand geführt auf Gitti zu und bat sie, ohne dass auch nur ein Wort fiel, um diesen Tanz. Ihr Lächeln mit dem sie mich jetzt anstrahlte, dass ich nicht einmal im Traum erwartet hätte, war einfach bezaubernd, und für mich die personifizierte Einladung. Zum Greifen nahe stand jetzt ein Wunschtraum dicht vor mir, strich die langen schwarzen Haare schwungvoll nach hinten, kam mit großen leuchtenden Augen einen winzigen Schritt auf mich zu, um ganz behutsam ihre Arme um meinen Hals zu legen. Keinerlei Widerspruch duldend, drängte mich Gitti sehr bestimmend hinein in die swingende Tanzrunde. All meine anfänglichen Zweifel waren auf einmal wie weggefegt, hatten jegliche Blockade und sogar mein ängstliches Zögern von mir genommen. Mutiger geworden schlang ich meine Arme um ihren schlanken Körper, verschränkte sie nach unten gleitend um ihre zierliche Taille und hakelte meine Hände zu einem festen Verschluss zusammen. So ineinander verknotet, wollte ich das eingeschlossene Glück um nichts in der Welt mehr hergeben.
Fest umschlungen, wie Liebende die nicht mehr voneinander lassen können, wiegten wir uns trunken zu den Takten des typischen Zwischenparts, der in dieser einmaligen Musik wiederkehrend ist. Obwohl bei diesem Titel das rhythmisch Swingende dominiert, lässt er, als sei es so gewollt, durchaus intime Nähe zwischen einem Tanzpaar zu. Trotz der lauten Musik und dem atmosphärischen Stimmengewirr ermöglichte mir die so entstandene Körpernähe fortan auch einen weitaus intimeren Gesprächsaustausch. Wir fühlten uns beide losgelöst von der Masse der Tanzenden und konnten uns all jene Gedanken ins Ohr flüstern, die unsere Gefühle gerade bewegten.
Dass sie der DEFA Ballettgruppe angehörte, war mir ja bekannt, weniger aber, dass sie seit geraumer Zeit mit dem Schauspieler Gero Ziesche verheiratet war, der gerade das letzte Studienjahr in der Schauspielklasse der Babelsberger Filmhochschule absolvierte. Sehr viel später, in den achtziger Jahren, habe ich ihn näher kennen gelernt, als Schauspieler in der Krimiserie Polizeiruf 110, habe aber nie mit ihm über mein Erlebnis mit Gitti gesprochen.
Sieht man einmal vom gesellschaftlichen Hintergrund meiner illustren Gästerunde ab, der man wohl alles andere als einen vom Kapital dominierten Hintergrund zurechnen konnte, so wehte über diesem Abend auch ohne die Macht des Geldes ein zarter Hauch von dolce Vita. Es war ganz einfach eine Nacht voller Ausgelassenheit, voller Lebensfreude und grenzenloser sexueller Freiheit, was zu dieser Zeit in der kleinen Republik keinesfalls symptomatisch und schon gar nicht selbstverständlich war.
Gittis animalische Nähe nahm mir an diesem Abend all die tief eingegrabenen Ängste, die Hemmungen und Verklemmungen, und mit jedem ihrer Blicke wurde sie mir vertrauter. Je enger sie sich an mich schmiegte, und je mehr ich die Wärme ihres Körpers spürte, umso mehr spürte ich ihre Energie, von der allmählich auch mein Körper vereinnahmt wurde. In meinem tiefen Inneren rumorte zwar noch ein winziges Zittern, die noch vorhandenen Rudimente meiner chronischen Ehrfurcht vor dem weiblichen Körper, vielleicht aber auch der aus dem Elternhaus stammende religiös geprägte, genetische Defekt, der mitunter in Restbeständen durch mein Unterbewusstsein geisterte. Irgendwann aber konnte ich mein Verlangen sie zu küssen, nicht mehr länger unterdrücken.
Gitti musste meine Verklemmungen gespürt haben, denn ihre mandelförmigen Augen vollzogen plötzlich einen Wandel, sahen mich geradezu herausfordernd an. Tief in ihnen konnte ich für einen Moment ein schwaches Licht ausmachen, wie eine winzige Kerzenflamme, die in einem dunklen, engen Raum flackerte. Ängstlich versuchte ich anfangs noch Gittis verlangendem Blick standzuhalten bis ich merkte, dass mich die um meinen Hals verschränkten Arme mit spürbarer Hingabe enger an ihren warmen Körper zogen, einfach keinen Widerstand mehr duldeten. Gleichermaßen spürte ich, wie sich ihr heißer Atem meinem Mund näherte, und als gäbe es Nichts um uns herum, wiegten wir uns, als wären wir ganz allein auf der Welt unter dem schwachen Schimmer meiner Deckenlampe im Rhythmus der Musik. Als Gittis Lippen mich jetzt zärtlich berührten, waren all meine Hemmungen wie ein Windhauch verflogen, ich fühlte mich dazu bereit, wollte mich ihr allein hingeben, von nun an ihre Zärtlichkeiten zulassen.
Ganz vorsichtig schob sie ihre Zunge in meinen halbgeöffneten Mund und mir war, als fechte sie in mir ein Duell, und als die Verschlingungen zunehmend heftiger wurden, ergab ich mich einfach dem Sog des Verlangens. Vielleicht waren es auch nur wenige Sekunden, sie erschienen mir in diesem Augenblick wie eine Ewigkeit. Bei dieser intensiven oralen Vereinigung spürte ich irgendwo tief in mir einen unsagbar süßen Schmerz. Während all dies mit mir geschah, flammte in mir brennendes Begehren auf, ein Gefühl wie ich es bisher so nicht gekannt hatte. Dabei drehten wir uns weiter im Kreis, wiegten uns harmonisch im Takt dieser überaus sinnlichen Musik, ließen unsere Körper geradezu miteinander verschmelzen, jeden Tropfen Körperflüssigkeit aus uns heraussaugend, so als wären wir am Ertrinken, bis die Kraft des Zungenschlags allmählich erlahmte, ihre Lippen sich langsam von meinem Mund lösten, und sanft über mein Ohr gleitend zu flüstern begannen.
Obwohl ihr heftiges Atmen etwas abgeklungen war, schien ihre Erregung wieder anzusteigen, als sie begann leise von Gero zu erzählen. In ihrem Flüstern schwang sogar ein wenig Traurigkeit mit, als sie mir anvertraute, wie ihre Beziehung schon nach dieser kurzen Zeit des Zusammenlebens wieder unmerklich zu zerbröckeln begann, wie sich anfängliches Begehren in schlichte Alltagsgewohnheit verwandelt hatte. Ich erfuhr, dass er total unsensibel im Umgang mit Gefühlen geworden sei, dass sie sich oft über Kleinigkeiten stritten, dass bei jeder Gelegenheit der typisch mecklenburgische Sturkopf in ihm durchkam, an dem sich ihre fein gegliederte Sensibilität stets aufs Neue aufrieb. Der winzig verbliebene Rest von Zuneigung drohte an seiner nüchternen, geradezu unterkühlten Auffassung von Partnerschaft beinahe zu zerschellen. Knisternde Erotik, wie ich sie gerade erleben durfte, hatte es zwischen ihnen eigentlich nie gegeben. Sex war etwas Beiläufiges, Notwendiges, gehörte eben einfach zu einer normalen Beziehung, und war ohnehin, so Geros Auffassung, Bestandteil der ehelichen Pflichten.
Während sie mir all diese Offenbahrungen ins Ohr flüsterte, spürte ich, wie ein Schauern meinen Körper durchlief, denn im Gegensatz zu Gittis Mann empfand ich ein Knistern, wie es erotischer nicht sein konnte. Mein ganzer Körper vibrierte geradezu. Von diesem Moment an hatte ich keinerlei Zweifel mehr an Gittis Zuneigung, war sogar der festen Überzeugung, dass die in mir aufgekommene Hochspannung zeitgleich auch mein Gegenüber erreicht haben musste und gerade im Begriff war, wie ein Stromstoß tief in sie einzudringen. Das Zuraunen all dieser Vertrautheiten verdrängte in mir auch den kleinsten Hauch von Zweifel, deutlich konnte ich jetzt spüren, wie Gittis Schlangenkörper mich umzingelt hielt und sich ganz eng an mich schmiegte.