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Endlich, am 30. 5. 1017, bei Sonnenuntergang, rief Kalif al-Hakim bi Amrillah den Beginn der neuen Epoche aus, das wahre Zeitalter Allahs. Keiner müsse mehr Angst haben, versprach er großmütig, schraubte plötzlich auch die Demut zurück und erschien, hochgeschaukelt von hocheloquenten Propagandisten, als auf Erden wandelnder Allah. Ins frisch entstandene Drusentum sickerten Inkarnationslehren ein. Flächendeckend weiterlaufende Missionierung hatte ab sofort moderat zu verlaufen. Der mittelalterlich rigorose Machttypus al-Hakim führte sogar relative Glaubensfreiheit ein, schier modern-demokratischfreiheitlich anmutend, was nicht jedem Musulman behagte. Nur vermischte sich das humane, ja moderne Prinzip Freiwilligkeit paradox mit bürokratisch gestarteten Fragebogen- und Bescheinigungsaktionen. Ein hier nicht mitgewachsener, wie gehabt sehr herkömmlich funktionierender türkischer Missionar, Nashtakin al-Darazi, Stifter der Drusen, der die Unterschriften neuer Schäfchen weiterhin mit der Knute eintrieb, nämlich mit al-Hakims alten Methoden, veranlaßte den geläuterten Kalifen, nochmals cholerisch aufzuschäumen, wie vormals täglich, und das kaum erprobte Zeitalter leuchtendster Wahrheit kurz auszusetzen, bis der erfolgreiche, strenge, unbeliebte Glaubensbekenntnis-Werber hingerichtet war und aufs neue die neue herrliche Zeit ausgerufen werden konnte – die kaum lange vorhielt. Denn alsbald fielen al-Hakims Truppen aus unerfindlichem Grund, wohl nur wegen einer Anti-al-Hakim-Flugblattaktion, über die kulturgesättigte Altstadt Fostat her, plünderten, brandschatzten – eine sinnlos amplifizierte Kollektivstrafe, schier Kristallnacht, frei nach dem Legenden-Herodes, alle erreichbaren Nachbarn auszurotten, in der Hoffnung, daß der anonyme Übeltäter mit dabei sein könnte. Alle Einwohner mußten nackt aus den Häusern treten, wurden entweder vergewaltigt oder kastriert. Al-Hakim erschlug, weil sein Eunuchensklave Ali ihn anflehte, die Greuel zu beenden, den Jammerlappen sofort – obwohl er eigentlich kein Blut sehen konnte, wie Heinrich Himmler. Sowohl im Volk wie in der Armee kippte die Stimmung zuungunsten al-Hakims immer deutlicher. In 25 Jahren verschliß er vierzehn Wesire, von denen nur zwei eines natürlichen Todes starben. Man wagte nicht anzudeuten, daß man sich den wahren neuen Äon von der Zeit nach ihm versprach. Seine Untaten erinnerten fatal an die Schleifung, Kastration, Abschlachtung und öffentliche Aushängung des afghanischen Politikers Mohammed Nadschibullah 1996. Zu al-Hakim hätte die Antwort gepaßt, die Hadschdschadsch, der tyrannische Statthalter des Irak, um 710 n.Chr. gab, als man an dessen Gewalttaten litt: „Seht, was ihr für schlechte Menschen seid, daß Allah einen Mann wie mich auf euch losgelassen hat.“
Ein Jahr später kehrte er von einem einsamen nächtlichen Ausritt auf seinem Esel, namens „Mond“, auf den Hügel Mokattam nicht zurück. Sein nicht ganz spurloses Verschwinden löste Gerüchte aus. Zwar fand man den verletzten „Mond“ sowie blutige Kleidung auf, doch gefälschte Indizien gehörten seit der alttestamentarischen Josefs-Geschichte zum Usus. Vier, fünf Theorieversionen kamen sich in der Regenbogenpresse des 11. Jh. in die Quere: Allah habe – laut drusischer Deutung – seinen Knecht wie vormals Henoch in den Himmel gehoben – ein so seltener Vorgang, daß Vorsokratiker Empedokles, ohne Hoffnung auf tatsächliche Himmelfahrt, diese wenigstens vortäuschen wollte. Die zweite, pragmatische Erklärung für al-Hakims mysteriöses Verschwinden: Sitt al-Mulk, Al-Hakims ältere Schwester, habe aus Todesangst vor ihrem unberechenbaren Bruder einige Beduinenscheichs zum Mordanschlag überreden können, um dann selber als Schattenkalifin zu herrschen. Eine weitere Version: Er sei zurückgekehrt und sofort als betrügerischer Doppelgänger entlarvt und hingerichtet worden.
Al-Hakims Tod brachte dem ägyptischen Volk keine Erleichterung. Al-Hakims Sohn Ali, so grausam wie sein Vater, ließ nun umgekehrt alle verfolgen, die sein Vater geschont hatte, und schonte die bis dahin Verfolgten, nach dem altbekannten Entnazifizierungs-Schema und dem ganzen bürokratischen Drumherum aus Verpflichtungsscheinen, Ahnenpässen, Beglaubigungen, Stasi-Akten. Christen, Sunniten und Bagdader Hofhistoriographen schilderten al-Hakim als ungläubiges, nämlich Mars und Saturn anbetendes Monstrum, das sich mit überlangen Fingernägeln sieben Jahre lang nicht wusch, und als eigenhändigen Knabenschlächter: Bei einer Metzgereibesichtigung mit Gefolge erschlug er, hieß es nachträglich, eigenhändig einen seiner Diener, nur um die Beilschärfe zu testen. Spätere Tendenz-Legenden behaupteten sogar, al-Hakim hätte Schuhmachern verboten, Frauenschuhe herzustellen, und unliebsame Konkubinen im Nil versenkt. Die Drusen aber ließen sich nicht hindern, Jahrhundert um Jahrhundert sehnlich auf die Rückkehr al-Hakims zu warten, der dann bald ein Weltreich aufrichten würde, mit den Drusen darin als auserwähltem Volk. Weiterhin blieb’s ein unlösbares welthistorisches Riesenproblem, daß al-Hakim sich – bei allem Zölibat – tatsächlich dauernd wiedergebar, mal als um 500 Jahre verfrühter Calvin, mit mehr oder weniger gebundnen Händen, mal als ein arabischer Girolamo Savonarola des Fatimidenreiches am Nil, frauen- und kunstfeindlicher als Ajatollah Chomeini, mal als ein um tausend Jahre verfrühter Taliban.
Durchbruch verspäteter Spätgotik
Girolamo Savonarola – Bußprediger, Bilderstürmer, Theokrat (1452–1498)
Er trat die Laufbahn eines Arztes an und plötzlich dem dominikanischen Kampfbund gegen Ketzer bei. Düstere Prophezeiungen gingen gespenstisch in Erfüllung, sogar der Blitzschlag in den Dom anno 1492. Aus der Hydra zumeist ziemlich windiger, verpönter Bußprediger, allen voran der haßvolle Bernhardino da Siena, wuchs in Savonarola ein Haupt nach, das mit noch lauterer Stimme von den üblichen Mahnungen und Drohungen kaum abwich: Um seine Donnerworte zu hören – Schwerter, die durch die Seele bohrten – drängten 16.000 Seelen in den Dom. Obwohl Konkurrenzpropheten wie Fra Mariano da Genazzano viel stilvoller und kunstreicher predigten als er, und obwohl Domenico da Ponzo noch viel frappantere Voraussagen losließ, erwies Savonarola sich als durchschlagender und magnetischer. Sein Ziel: der Kurie ihre frühere Macht zurückgeben. Wortgewaltig wetterte er gegen den Jahrmarkt der Vanagloria (Eitelkeit), Sinnlichkeit, Weltzugewandtheit, Putzsucht, Zinswucher, Hochzeitsprunk, Zuchtlosigkeit, Ausschweifung. Wissenschaft wurde von Fra Girolamo als schädlich eingestuft; Ragioni naturali (Vernunftgründe) standen dem Glauben unerfreulich im Weg. Klassische Lektüre lehnte er nicht in Bausch und Bogen ab, wollte sie aber auf Homer, Vergil, Cicero beschränkt sehen, unter Ausschluß von Ovid, Catull, Tibull, Terenz u. a. Den „Heiden Aristoteles“ zitierte er als Eidhelfer seiner Ansicht, man solle keine unpassenden Bilder dulden. Frauen empfahl er, ihre Kinder nicht von Ammen stillen zu lassen, um sie vor deren geringem Geist zu bewahren, der in der Muttermilch stecke (abergläubisch wie Dr. Rudolf Steiner, der Schwangere davor warnte, „Neger“ anzuschauen). Ständig kam er auf den Zorn Gottes zu sprechen, der offenbar in genau demselben Grad zu wecken war wie bei ihm selber. Den Prediger, also sich selbst, setzte er in der Hierarchie der Geister unmittelbar unter den untersten der Engel. Damit ihm aber seine Erfolge als Redner nicht zu Kopf stiegen, nahm er oft einen winzigen Totenkopf aus Elfenbein zur Hand und besah ihn sinnend. Als er auf dem Weg in eine Savonarolianische Theokratie im Herzog Ercole einen glühenden Traumverwirklicher seiner Ideen fand, bestärkte er ihn darin, Ferrara von schlechten Menschen zu reinigen. Er inaugurierte eine Kinderpolizei, die an Engelknaben erinnern sollte: Sie zerfiel in Friedensstifter, Mahner, Schnüffler, Petzer, Einsammler von sog. „Eitelkeiten“ und in Übermaler der Graffiti Andersdenkender. Sobald man den minderjährigen Kontrolleuren, Eintreibern, Beschlagnahmern nicht gehorchte, bekamen sie volljährige Verstärkung. Das Fegefeuer der Eitelkeiten, das anstelle des Karnevals stattfand, auf der Piazza della Signoria: Kunststickerei, Büsten und Gemälde schöner Florentinerinnen, Spieltische, Würfel, Karten, kostbare elfenbeinerne Schachfiguren, Trionfi, Liederbücher, Harfen, Lauten, Cembali, Dudelsäcke, Duftflaschen, Kunsthaar, Tricktracks, Schleier, Salbentöpfe, Spiegel, Puder, Kämme, Larven, Kunstbärte, Karnevalskostüme, Bücher, Pergamentdrucke von Boccacchio, Petrarca: alles bei Glockenklang auf baumförmigen Stufenpyramiden geschichtet (statt christliches Vorbild: Rogus, wo römische Imperatorenleichen verbrannt wurden), ging in Flammen auf. Priester erschienen olivenkranzgeschmückt, also ausgerechnet antik staffiert. (Spätere Parallele: USA-hassende Taliban, die gern Cola trinken.) Gotteslästerern wollte er die Zunge durchbohren, Spielsüchtige lebendig verbrennen. Eiskalt und knallhart forderte er für noch geringere Vergehen die Todesstrafe. Dienern und Sklavinnen, die ihre würfelnden und kartenspielenden Herren denunzierten, versprach er Freiheit und Lohn, was sich als undurchführbar erwies. Gleichwie es der Kirche nie gelungen war, überbordenden Karneval einzudämmen, gelang es Savonarola nicht, der Buhlerei und käuflichen Liebe Herr zu werden. Die in Florenz verbreitete Knabenliebe bekämpfte Savonarola als Sodomie. Die Diktatur der Guten gefiel nicht jedem: Florenz polarisierte sich in Arribiati (Wüteriche), die Unterschriftenlisten kreisen ließen und diese contra Savonarola in Rom einreichten, in Bigi (die Grauen), Tiepidi (Laue) und u. a. in Compagnacci (Kumpane), die seine Kanzel mit Unrat besudelten, so daß diese vor Benutzung erst abgehobelt werden mußte, seine Predigten mit stinkend geschwenkten Eselfellen (Vorform späterer Stinkbomben) und Knüttellärm auf Kästchen störten (wie später Adornos Studenten Vorlesungsboykott betrieben), und in Piagnoni und Frateschi, die gleichfalls Unterschriften sammelten, um seine einzigartige Frömmigkeit zu rühmen und zu bitten, ihn vor Exkommunikation zu bewahren. Hochfinanz, Stadtväter, Obrigkeiten, Zünfte zerrissen sich im aufgepeitschten Hexenkessel und Kompetenzgerangel die Mäuler über den Einpeitscher und Unruhestifter. Eine Einladung des Papstes, scheinbar überfreundlich, sagte er ab, aus gesundheitlichen Gründen, die ihn auch am Predigen hinderten; als er wieder zu predigen anhub, verbot der Papst ihm dies, offiziell aus Sorge um dessen Gesundheit. Er wiederum bezichtigte den Papst, durch die Todsünde der Simonie auf den Stuhl Petri gekommen zu sein und nicht an Gott zu glauben – starker Tobak. Der unerbittliche Ketzerjäger wurde dann selbst genauso unerbittlich als Ketzer widerrechtlich zum Tod verurteilt und auf derselben Piazza hingerichtet, auf der er die Bücher-usw.-Verbrennung inszeniert hatte.
In Savonarola focht späte Goldgrund-Gotik gegen die Farbenpracht der Renaissance – Florenz als Reich Gottes auf Erden, Enklave in allzu verweltlichter Gesamtlandschaft. Bloß elf Jahre später wuchs der unerbittlichen Hydra ein Haupt in Johannes Calvin nach. Geistesgeschichtlich stand Savonarola zwischen Mose, der den unausrottbaren Tanz ums Goldene Kalb zu unterbinden versuchte, und den Talibankämpfern, die das unislamische Goldene Kalb der afghanischen Buddhas von Bamiyan sprengten und gleich denen er für bedeckte Häupter und verhüllte Angesichter votierte und in Predigten vor Frauen sogar aufforderte, Ehrbarkeit bei schwarzverhüllten Türkinnen zu lernen; auch er trug eine tschadorfarbene Kutte. Nach 1989 nannte man Savonarola den „Ajatollah Chomeini der Renaissance“ und Chomeini den iranischen Savonarola. Im Rückblick erinnerte die Kindleinarmee, die er zu sich kommen ließ, eher an Kinderkreuzzug, Roßbuben, Hitlerjugend, Luftwaffenhelfer, FDJ, Rote Garde, Kindersoldaten in Sierra Leone, Liberia, Uganda, Burma. Alle obsessiven oder auch gemäßigten Persönlichkeiten, die man später inflationär als „charismatisch“ rühmte, nahmen Maß am Charisma Savonarolas. In jedem Hardliner und Fundamentalisten stand Savonarola erneut auf, kaum abgepuffert durch komplementär bzw. karmisch beigegebene Softies wie Filippo Neri. Als Abschreckungsbeispiel und Prototyp des Fanatikers blieben Savonarola und Calvin auf stets wieder verblüffende, allzu naheliegende Weise beklemmend hochaktuell, zwischen Morgenthau-Plan und Öko-Diktatur. Selbst noch in Karnevalsverboten bei Golfkriegen oder in Parolen wie „Schluß mit Lustig!“ von z. B. Peter Hahne blieb ein lendenlahm gezähmter Savonarola spürbar.
Worte von Savonarola: Betet für die Stadt und sorgt dafür, daß die Frauen von den Männern getrennt sind, wie wir es das letzte Mal gemacht haben. – Mütter führen ihre unverheirateten Töchter gleich Nymphen schamlos entblößt zur Kathedrale wie zur Schaustellung. – Ein altes Weib weiß mehr vom Glauben als Platon. Es wäre gut für den Glauben, wenn viele sonst nützlich scheinende Bücher vernichtet würden. – In der Urkirche waren die Kelche von Holz und die Prälaten von Gold, jetzt aber sind die Kelche von Gold und die Prälaten von Holz. – Ich bezeuge hiermit im Namen Gottes, daß dieser Alexander kein Papst ist und es auch nicht sein kann. – Macht ein Feuer, das ganz Italien ergreift!
Savonarola über sich selbst: Es ist mir nie in den Sinn gekommen, die Dichtkunst zu verdammen, sondern nur den Mißbrauch, den viele mit ihr treiben. –
Andere über Savonarola: – ein giftmischerisches Monstrum, geboren zum Verderben des Volkes. (Marsilio Ficino) – ein fratzenhaftes, phantastisches Ungeheuer (Goethe) – Er möchte gern verbieten, was sonst nicht zu beseitigen ist. Überhaupt war er nichts weniger als liberal; gegen gottlose Astrologen z. B. hält er denselben Scheiterhaufen in Bereitschaft, auf welchem er hernach selbst gestorben ist. Wie gewaltig muß die Seele gewesen sein, die bei diesem engen Geiste wohnte! (Jacob Burckhardt) – Der antike Mythos war ein Unterhaltungsstoff, ein allegorisches Spiel; durch seine dünnen Schleier hindurch sah man den wirklichen, den gotischen, nicht minder scharf. Als Savonarola auftrat, verschwand das antike Getändel sofort von der Oberfläche des florentinischen Lebens. (Oswald Spengler, 1916) – Er hatte die Gottlosigkeit seiner Zeitgenossen gut erkannt, die nur darüber uneinig waren, ob Gott schlafe oder gar nicht existiere (chi Te nega, chi dice che Tu sogni); er war kein praktischer, d. h. schlauer Politiker wie Luther, aber eine noch leidenschaftlichere Natur. (Fritz Mauthner, 1920)

Savonarola – hingerichtet am Tatort seiner Vanitas-Bekämpfung
Meilenfern von Winnetou – ein Taliban im Wilden Westen
Tenskwatawa – Prophet, Wiedergeborener, Eiferer (ca. 1771–1834)
Als Kind des Shawnee-Kriegers Puckeshinewa (Puckeshinwha) und der Methoataske, einer Creek, erblindete er auf einem Auge. Am Little Turtle War (1790–1795) in Ohio/Indiana zwischen Generalmajor Wayne und den hundert Häuptlingen der vereinigten Nordwestindianer nahmen auch sein Bruder Tecumseh (der zum Sprung sich duckende Berglöwe), der nachmals weltberühmte Kriegshäuptling, und seine drei Brüder im Vortrupp teil, die Drillinge Sauwauseekau, Kumskaka (auch Kumskaukau) und Lalawethika, wie er zunächst hieß (Loud Voice/Lärmmacher, weil er laut herumzuprahlen pflegte). Nach der militärischen Niederlage begann er wie viele Schicksalgenossen, verstärkt Feuerwasser zu konsumieren, sich zugleich vom Stammesschamanen Change of Feathers in Heilkunde und Sagenkreise einweihen zu lassen, bei dessen baldigem Tod er für ihn einsprang, dies sogar recht überzeugend, denn seine Austreibung krankmachender Geister fiel mit einer abebbenden Seuche ungefähr zeitgleich zusammen, also kausal, was einigen imponierte. 1796 wirkte Lalawethika in einer Lokalgruppe unter Tecumseh am Great-Miami mit, 1798 in neuem Siedlungsgebiet am White River in Zentralostindiana. Statt beim Maisanbau ordentlich mitzuhelfen, durchstreifte er unablässig die Gegend, brachte aber als miserabler Jäger nie erstaunliche Jagdbeute mit. Ein Traum teilte ihm mit, der Große Geist sei mit seiner Lebensweise nicht einverstanden, und schon ließ er – erwachend – tatsächlich vom Branntwein ab, bekam es hin, rührte keinen Fusel mehr an und forderte alle auf, es ihm gleichzutun. 1805 fiel er um, entweder in Trance oder ins Koma; man glaubte bereits, er fände nicht mehr zurück, und versammelte sich zu seiner Beerdigung. Da erwachte er im richtigen Augenblick (Hermokritos von Klazomenai, der genau an dieser Stelle nicht erwachte, wurde scheintot, d. h. lebendig, bestattet) und behauptete plötzlich, aus dem Geisterland zurückzukommen, also gestorben zu sein, die Türen von Vergangenheit und Zukunft offen stehend gesehen zu haben, jetzt wiedergeboren, also ab sofort Prophet, genau wie Neolin, der Prophet der Delaware, zu sein. Und Lalawethika nannte sich ab sofort Tenskwatawa (Offene Tür). In seine feurigen Ansprachen übernahm er halb instinktiv, halb absichtlich jene charismatypischen Gestikulationen von Shakermissionaren, die er in Greenville beobachtet hatte, ohne deren englische Predigten zu verstehen. Er predigte, produzierte große Gebärden, votierte mit weithin vernehmbarer Stimme für größeren Respekt vor Sippenältesten, sozusagen contra Werteverfall, brach mitten in der Ansprache in Tränen aus, überzeugte also sehr, riß mit, redete vom „Herrn des Lebens“. Oft zog er sich in die Wälder zurück, um Manitu zu Rate zu ziehen (wie Mose auf den Berg). Er schwärmte von besseren früheren Zeiten und Überlieferungen, die er zu rekonstruieren versprach. Er stellte auch die Rückkunft gefallener und gestorbener Freunde und Familienmitglieder in Aussicht. Sogar verschwundene Tiere würde man alsbald wiedersehen dürfen, sobald man seine Gesetze befolge. Als er merkte, wie sehr er als Redner in Bann schlagen konnte, brachte er immer gewagtere Inhalte, steigerte seine Polemik gegen die Bleichgesichter und ihre Lebensweise. Sein Ruf sprach sich herum; x benachbarte Stammesvertreter reisten an, um den einäugigen Eiferer und Propheten predigen zu hören. Er forderte auf, zur Erde zu beten, daß sie fruchtbringend sei, zum Fisch zu beten, daß er zahlreich sei, zu Feuer und Sonne zu beten; er führte Vergnügungstänze ein. Daß er sich in seinen Offenbarungen, die direkt aus der Geisterwelt kamen, in Widersprüche verwickelte, fiel kaum auf: Einerseits plädierte er als Urkommunist contra Besitzgier und pro Gütergemeinschaft, andererseits peilte er als Animist magische Unverwundbarkeit gegenüber den Gewehrkugeln der Weißen an. Er forderte den Zusammenschluß auch verfeindeter Stämme, als Panindianismus-Visionär, und bot zugleich abstruse Kosmogonie, worin die Shawnee primärer, günstiger, quasi arischer dastanden als andere Algokin (genau wie bei den Black Muslims). Einerseits dürfe man Franzosen, Briten und Spanier als Freunde behandeln, Amerikaner aber keineswegs, andererseits beschimpfte Gesetzgeber Tenskwatawa die Weißen summarisch als „große Schlange“ und forderte die Shawnee, also Angehörige der fünffach zersträhnten und zerstrittenen Algonkin-Sprachgruppe, auf, nicht mit ihnen zu verhandeln und übernommene Speisen und Hüte dem erstbesten Bleichgesicht, das man träfe, zurückzugeben. Er focht für Unabhängigkeit von den Weißen (wie Mahatma Gandhi), aber im Drohton von Altem Testament oder Koran. Jede Abweichung von seinen Gesetzen, rief er, beleidige den Großen Geist. Nun blieben weiße Händler tatsächlich weitgehend auf ihrem Schnaps und sonstiger Krämerware sitzen. Wer seine Lehren und Doktrin annahm, schmückte sich fortan mit Tenskwatawas Wampum-Gürtel. Dörfer, die sich ungegürtelt der Stimme des Großen Geistes entzögen, wie sie quer durch Tenswatawa tönte, würden vom Antlitz der Erde getilgt werden, donnerte es durch alle erreichbaren Landstriche. In seinem „Gesetz des Propheten“ votierte er gegen die indianische Polygamie (und gegen Mischehen), so als kopiere er nicht nur christliche Charisma-Pantominen, sondern auch unspendabel monogame Ermahnungen. Tecumseh fand, trotz offenen Ohrs für die Tiraden seines Bruders, diese Entwicklung denn doch bedenklich und übertrieben, sah die Wundersucht seines Bruders ohnedies viel nüchterner. Kaum lösten besonders eifrige Anhänger Tenskwatawas eine Hexenjagd gegen solche Stammesmitglieder aus, die nicht sogleich vollauf mitzogen, wurden erste Abweichler hingerichtet, woraufhin sich sofort die Weißen einmischten und sozusagen auf Einhaltung der Menschenrechte drangen (auf der Basis derselben Doppelmoral, mit der 2005 f. Präsident George W. Bush China an internationale Rechtsverstöße zu erinnern sich erdreistete). Vom Gouvernment abgelistete Landabtretungen führten dem listigen Propheten weitere unzufriedene Leute zu. Bei den Kickapoo und den Potawatomi-Kriegern von West-Michigan, Illinois und Wisconsin rannte offene Türen ein. Buschtrommeln und Lauffeuer erreichten bald auch die Sauk, Winnebagoe, Menominee, den Ottwao, Chippewa, Assiniboin, Potawatomi. Weiterer Flächenbrand drohte. Tenskwatawa prophezeite einen apokalyptischen Weltbrand, aus dem einzig die Indianer gerettet werden würden. Im hereinbrechenden Dunkel würde der Meister des Lebens Tenskwatawa und seinen engsten Kreis mit Licht versorgen, nahe bei Greenville; folglich gab’s auch damals schon Zeugen Jehovas. Gleichwie die Shawnee-Religion immer ausuferndere Jahresringe warf, so zogen immer entferntere Pilgerströme immer engere Kreise um das Zentrum der Verkündigung, zur immer hysterischeren Beunruhigung weißhäutiger Bundesbeamter. In den letzten zwanzig Lebensjahren nach 1811, seit der unrühmlichen Schlacht von Tippecanoe, verlor Tenskwatawa schlagartig sein Ansehen als Religionsführer und hatte den Rest seiner Jahre als fehlbarer Wahrsager entthrohnt zu verbringen, entmachtet, entlarvt, durchschaut, unbeliebt.

Tenskwatawa – kein edler Wilder
Worte von Tenskwatawa: Der Große Geist hat mir ferner mitgeteilt: Jeder Indianer, der nicht die Finger vom Feuerwasser der Bleichgesichter läßt, wird nach seinem Tod mit Feuer gequält. – Alle Indianer, die sich diesen Regeln widersetzen, sind schlechte Leute und nicht wert zu leben. Sie müssen getötet werden.
Andere über Tenskwatawa: Warum soll der Große Geist einen solchen Scharlatan ausgewählt haben, so eine Botschaft seinen indianischen Kindern zu bringen!? (Gouverneur William H. Harrison in Vincennes 1806 brieflich an die Delaware) – Dieser Wabash Prophet ist nur ein vereinzelter Narr, wenn ein Dümmling zu sein nicht die größte aller Narrheiten ist. (Präsident Jefferson an seinen Amtsvorgänger John Adams, 1806)
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