- -
- 100%
- +
‚Nur – was passiert, wenn ich nicht lange genug durchhalte, bis die Mädchen größer sind? Wenn all die Gebete nichts nützen und Doktor Milford rechtbehält?’
Fey schloss die Augen und lehnte ihren Kopf zurück. Ihr Mann – sie hörte ihn in seinem Arbeitszimmer rumoren, die Papiere in Ordnung bringen, wie er es immer nannte. Die Kinder schliefen längst und Fey fühlte sich auch schrecklich müde. Sie beschloss, es wäre vermutlich das Beste, ins Bett zu gehen – ganz gleich, ob sich Harold darüber wunderte. Sie brauchte jetzt einfach mehr Schlaf. Mit einer langsamen, fast schwerfälligen Bewegung legte sie ihre Stickarbeit auf den kleinen Beistelltisch und knipste die Lampe aus. Im Haus war es still, bis auf das Rascheln von Papier aus dem Arbeitszimmer und das bisweilige Husten von Harold. Sie schlich auf Zehenspitzen zur Garderobe und als sie dort ihren Mantel am Haken entdeckte, hob sie ihn kurzentschlossen herunter. Irgendetwas zog sie noch hinaus, in die klare, frische Winterluft, den sternklaren Himmel betrachten und für ein paar Minuten vergessen.
Sie trat hinaus auf die Veranda und lehnte sich schwer gegen einen der Pfosten, die das Vordach stützten. Aus den Stallfenstern fiel Licht auf den Schnee. Jon arbeitete noch. Eines der Pferde hatte sich beim Toben auf der Koppel verletzt und die Wunde musste versorgt werden. Es war immer dasselbe. Jedesmal, wenn sie glaubte, jetzt hätten sie die schlimmste Zeit überstanden, passierte wieder etwas Unerwartetes das sie zurückwarf. In der Vergangenheit waren es missratene Ernten, Rinderseuchen oder Pferdediebstahl gewesen, der nie aufgeklärt wurde. Aber im Augenblick kämpften sie gegen ein ganz anderes Problem, für das es vermutlich keine Lösung geben würde.
Die Stille, die sie umgab, jagte Fey einen Schauer über den Rücken. Sie machte sie verrückt und sie sehnte sich plötzlich schrecklich nach ihren Kindern. Hastig betrat sie das Haus wieder durch die vordere Tür. Harold hatte nichts davon bemerkt, dass seine Frau nach draußen gegangen war und sie beabsichtigte nicht, es ihn wissen zu lassen. Mühsam zog Fey sich am Geländer die Treppe ins Obergeschoß hinauf. Sie brauchte keine Lampe, sie kannte jede Stufe, jede Holzbohle im Schlaf. Sie stellte sich vor, dass es ähnlich sein musste, wenn sie eines Tages sterben würde – dass sie eine Treppe hinaufging und oben warteten ihre Eltern, um ihr die Hand entgegenzustrecken und ihr das restliche Stück hinaufzuhelfen. Vielleicht war diese Krankheit auch ihre Strafe, weil sie so unzufrieden mit ihrem Leben und ihrer Entscheidung war. Hätte sie die Wahl gehabt, Fey wäre längst von hier fort gewesen, irgendwo zurück in einer Stadt und hätte sich eine Stellung gesucht, ganz gleich als was. Nur weg von dieser Ranch und der Knochenarbeit und dem Wissen, dass es bis zum Ende so weitergehen würde.
Der letzte Januartag begann mit Sonnenschein und sehr viel Schnee, der überall um die Gebäude der Ranch und auf den Koppeln glitzerte und funkelte. Die Welt um sie herum wirkte wie eine Märchenlandschaft, ganz rein und klar. In Wirklichkeit jedoch war sie für Fey wie ein Gefängnis, denn mit dem vielen Schnee kamen sie kaum hier heraus; vielleicht morgen, wenn sie Einkäufe erledigen musste.
Besorgt legte sich Jons Stirn in tiefe Falten. Er beobachtete Fey nun schon eine ganze Weile bei ihren Vorbereitungen für das Festtagsessen in der Küche, ohne dass sie ihn bemerkte. Vielleicht bildete er es sich nur ein, doch seit dem Tod ihrer Mutter vergangenes Frühjahr, war sie irgendwie stiller und verschlossen geworden. Sie schien oft gedankenverloren in die Gegend zu starren, ohne etwas davon wahrzunehmen, was um sie herum geschah. Harold schien von den Veränderungen an seiner Frau nichts zu bemerken, für Jon jedoch waren sie nicht zu übersehen. Jetzt, als Fey sich von dem schmalen Tisch neben der Hintertür umdrehte, fiel ihr Blick auf den alten Vormann und Freund. Er war beinahe so lange hier, wie sie selbst. Sie lächelte sanft.
„Probleme?“
„Ich wollte nachsehen, wie weit du mit dem Essen bist.“
„Es ginge schneller, wenn nicht alle zehn Minuten jemand käme und verkündete, er habe Hunger!“
Jon seufzte ungeduldig. Er war schlecht im unsinnige Reden halten. „Wie geht es dir, Fey?“ Er wusste, dass sie ihm nicht ehrlich antworten würde, aber auf irgendeine Art musste er versuchen, an sie heranzukommen. „Ich meine, wie fühlst du dich wirklich?“
„Gut“, antwortete Fey prompt und nickte heftig, doch ihre blauen Augen blieben trüb und ausdruckslos, ohne Licht. „Es geht mir sehr gut.“
Jonathan erwiderte nichts. Es war eine Lüge und er wusste es, doch er wusste auch, dass er kein Recht besaß, sie mit weiteren Fragen zu drangsalieren. Er war nur der Vormann, der sich als Freund der Familie fühlte, nichts weiter. Langsam wandte er sich ab und verließ das Wohnhaus über die Veranda.
Am nächsten Tag waren die Schneemassen vom Winterdienst so weit von den Straßen geschoben worden, dass ein Versuch gewagt werden konnte, mit dem Lieferwagen in die Stadt zu fahren. Jon übernahm die Aufgabe, eine neue Ladung benötigter Lebensmittel zu holen. Die Straßen der Stadt waren schmutzig und nass, weil der Schnee dort bereits taute oder von den Reifen der Räder platt gedrückt wurde. Die Fahrt war ein kleines Abenteuer gewesen und mehrmals wäre er fast steckengeblieben, weil die Nebenstrecken nicht gut geräumt waren. Ächzend kletterte Jonathan aus dem alten Lieferwagen. Sein Kreuz machte ihm heute wieder einmal besonders schwer zu schaffen, das war dieses merkwürdige Wetter, die Kälte und der Schnee. Er fluchte leise.
„Ah! Schön, Sie wieder einmal zu sehen, Jon!“, erklang in derselben Sekunde eine Stimme hinter ihm, die ihn erschrocken zusammenzucken ließ.
Der Vormann wirbelte herum. Vor ihm stand Doktor Frederik Milford, der Allgemeinarzt, der in Quincy seine Praxis betrieb. Der einzige Mediziner in einem weiten Umkreis, der aufgrund dessen immer auf dem Sprung zu seinen Patienten war und auch jetzt in Eile zu sein schien. Auf dem sich lichtenden braunen Haar trug er einen schicken Hut, der ihn mit seiner runden Brille wie einen Oststaatler wirken ließ. Die tiefliegenden, dunklen Augen hinter den dünnen Gläsern wirkten müde und erschöpft, beinahe ausgemergelt.
„Wie geht es Ihnen?“ Aufrichtig erfreut schüttelte Doktor Milford dem anderen Mann die Hand. „Und vor allem: Wie geht es Mrs. McCullough?“
„Oh, danke der Nachfrage! Wie Sie sehen, lebe und gedeihe ich prächtiger denn je!“ Eigentlich konnte auch Jon keine Zeit für ein Schwätzchen erübrigen, aber wie lange hatte er den Arzt nun schon nicht gesehen? Viel zu lange jedenfalls! Da musste eben selbst die Ranch einmal warten. „Ehrlich gesagt, um Fey mache ich mir ein wenig Sorgen. Vielleicht könnten Sie ja, wenn der Schnee es zulässt, im Laufe der Woche mal rein zufällig bei uns vorbeischauen? Sie verstehen schon.“
Der Ausdruck auf Doktor Milfords Gesicht wechselte von Erstaunen zu Ungläubigkeit. „Ja, aber…“ Seine Brauen zuckten. „Sie war doch erst vor einigen Wochen bei mir!“
„Wie?!“ Verdutzt blieb Jon der Mund offenstehen. Seine Gedanken überschlugen sich, er wagte kaum zu atmen. Also, doch! Sein Instinkt hatte ihn auch diesmal nicht getäuscht!
„Aber ja, natürlich!“ Unangenehm berührt trat Doktor Milford auf der Stelle. Er war Arzt, er hatte ein Schweigegelübde abgelegt, auch, wenn er es in diesem Fall unmöglich einhalten konnte. Das hier war eine Ausnahme, es war seine moralische Pflicht, dieses Gelübde zu brechen und die Wahrheit auszusprechen, selbst, wenn genau dies von seiner Patientin offensichtlich vermieden worden war.
„Haben Sie etwas Zeit, Jon? Dann würde ich Sie bitten, kurz mit mir in meine Praxis zu kommen.“
Den ausgetrampelten Pfad zwischen den Schneehäufen zum Wohnhaus war er wohl noch nie in dieser Geschwindigkeit entlang gestürmt. Er war völlig außer sich, als er oben die Haustür aufriss und in den Wohnraum stürzte.
„Fey!“
Das Haus war ruhig. Er wusste, dass Harold hinausgeritten war, zu den Winterquartieren der Jungpferde, um dort nach dem Rechten zu sehen und dass die beiden Jungs auf der Nachbarranch mit dem dortigen Sohn verabredet waren. Aber die Zwillinge mussten hier sein und damit auch Fey irgendwo in der Nähe.
Jon rannte mit langen Schritten in die Küche, in der sicheren Annahme, Fey dort vorzufinden. Er täuschte sich, dort herrschte gähnende Leere und kein Anzeichen, dass seit dem Frühstück jemand hier gewesen war. Ohne lange zu überlegen, eilte er ins Obergeschoß hinauf. Er hatte hier nichts zu suchen und er war auch noch nie hier oben gewesen, doch das hier war eine Situation der besonderen Art.
„Fey?“
Die Tür zu ihrem Schlafzimmer war nur angelehnt, ungeduldig trommelte er mit der Hand dagegen – sie schwang lautlos auf. Die Vorhänge waren zugezogen, sodass ein dämmriges Licht den großen Raum beherrschte. Es dauerte eine Sekunde, ehe Jon die Umrisse der Möbel erkennen konnte und dann entdeckte er sie: Sie lag auf dem Bett, angekleidet und friedlich schlafend. Erleichtert trat er zu ihr, mit einer Hand schüttelte er die Frau seines Arbeitgebers sacht an der Schulter. Ihre eingefallenen, ohnehin schon schmalen Gesichtszüge wirkten erschreckend blass, als seien sie nicht von einem lebenden, sondern von einem toten Menschen und das, obwohl sie gerade einmal fünfunddreißig Jahre alt war. Der Gedanke erschreckte Jon so sehr, dass ein Schauer über seinen Rücken jagte.
„Fey? Bitte, wach auf!“ Er schüttelte sie kräftiger und endlich erhielt er eine Reaktion.
Sie regte sich und öffnete verwundert die Augen. Sie schien nicht zu wissen, wo sie sich befand. „Was…Jon! Wie kommst du…“
„Entschuldige, Fey!“ Zuvorkommend half er ihr, sich aufzusetzen. „Ich hab’ überall nach dir gesucht. Aber das spielt jetzt keine Rolle, erzähl mir lieber endlich die Wahrheit, wenn du schon deinem Mann gegenüber offenbar nicht ehrlich bist! Ich habe Doktor Milford in der Stadt getroffen!“
Feys Atem ging schwer und unregelmäßig. Es dauerte einige Minuten, ehe sich ihr Zustand besserte. „Dann weißt du es also“, brachte sie endlich zwischen zusammengepressten Zähnen hervor. Sie hielt sich die Hände vor den Bauch.
„Oh, Fey! Wenn…wenn dir etwas passiert wäre!“ Es klang schärfer und vorwurfsvoller als er beabsichtigt hatte.
„Viel kann mir wohl nicht mehr zustoßen“, entgegnete sie zynisch und legte die Stirn in Falten. „Außer, dass ich in absehbarer Zeit dahinscheiden werde.“
„Fey, bitte!“ Er wollte so etwas nicht hören.
„Hat dir Doktor Milford nicht alles gesagt? Ach ja, die Schweigepflicht!“ Es klang beinahe verächtlich. „Nun gut, wenn dich die grausame Realität wirklich interessiert: Ich bin krank und kein Arzt dieser Welt kann mir noch helfen! Doktor Milford meint, es ginge vielleicht noch ein paar Monate, aber länger nicht.“
„Das kann nicht wahr sein!“ Der Schmerz war so stark, dass Jon glaubte, er würde sein Innerstes zerreißen. Sie war noch viel zu jung! Sie hatte vier kleine Kinder, die ihre Mutter brauchten, ihre Fürsorge, ihre Liebe! Das konnte nicht gerecht sein, das konnte auch nicht gewollt sein von dem da oben, von diesem Gott, zu dem er täglich betete. Das durfte, durfte, durfte einfach nicht passieren! Seine großen, mit Hornschwielen übersäten Hände pressten die ihren ineinander.
„Wir müssen es akzeptieren.“ Plötzlich klang ihre Stimme wieder ganz gewohnt – ruhig, überzeugt und beherrscht. Sie schien sich auch damit bereits abgefunden zu haben, genau wie mit allem anderen, was ihr Leben bestimmte. „Wir können nur lernen damit umzugehen, mehr nicht. Es wird geschehen und niemand kann es aufhalten. Manche Menschen sterben eben früher als andere.“ Die Resignation sprach aus jedem ihrer Worte.
Verzweifelt presste Jon ihre Hände zwischen die seinen. Oh, lieber Gott – weshalb? Warum ausgerechnet sie? Ihm fiel nichts ein, was er darauf erwidern konnte. Alles in ihm schien leer und verzweifelt.
„Nur um eines möchte ich dich unter allen Umständen bitten.“ Fey holte tief Luft. Sie war sich nicht schlüssig, wie er reagieren würde. „Erwähne bitte Harold gegenüber nichts davon und schon gar kein Wort zu den Kindern!“
„Aber…“ Jon wollte protestieren. Er konnte doch unmöglich gegenüber ihrem Mann weiterhin so tun, als sei ihre Welt heil und in Ordnung! Es stimmte ja nicht! Sie würde es nie wieder sein und er hatte das meiste Recht von allen, die Wahrheit zu kennen.
„Nein!“ Fey ließ ihn nicht aussprechen. „Ganz gleich, was du tust – aber Harold darf es nicht erfahren! Er kämpft für diese Ranch jeden Tag aufs Neue und es würde ihm vermutlich das Genick brechen, wenn er von meiner Krankheit erfährt! Das tut er schon noch früh genug…“
„Aber erst, wenn es zu spät ist“, warf Jon leise ein.
„Zu spät wäre es nur dann, wenn er die Ranch hinten anstellen würde wegen mir. Harold braucht die Gewissheit, dass sich dieses Leben lohnt, dass es möglich ist, alle Hindernisse zu überwinden und mit allen Schicksalsschlägen fertigzuwerden. Er wird es lernen, denn er hat die Kinder und seine ganzen Gedanken kreisen nur darum, dass er diese Ranch eines Tages an Byron übergeben kann. Dafür lebt er, nur dafür, nicht für mich, nicht wegen mir…auch nicht wegen der anderen drei.“ Sie seufzte. Es war ihr schon vor langer Zeit bewusst geworden. „Du weißt von nichts, ja?“ Es klang scharf und forschend.
„Wie du willst.“ Verständnislos erhob Jon sich. Er war der Ansicht, der Mann und die eigenen Kinder hatten das Recht zu wissen, dass die Ehefrau und Mutter nicht mehr lange bei ihnen sein würde, aber es war nicht seine Entscheidung. Er konnte sie, genau wie alles andere, nur akzeptieren und versuchen, auf irgendeine Art und Weise damit umzugehen. Er verließ das Zimmer, ließ das Ranchhaus hinter sich und stieg die wenigen Meter hinauf, zu den Familiengräbern der McCulloughs. Er starrte lange auf die verschiedenen Grabsteine und deren Inschriften und ein ungeheurer Zorn über die Ungerechtigkeit des Schicksals begann in ihm zu erwachen.
‚Am Ende’, dachte er, ‚liegen wir doch nur hier oder irgendwo sonst in der Erde und all die Qualen, die wir auf uns genommen haben, waren völlig vergeblich und umsonst. Wir haben diese Welt nicht verbessert. Noch immer gibt es Kriege, Hass und Mord. Vielleicht wird sich das niemals ändern, egal wie klug und gebildet diese Menschheit eines Tages sein wird. Vielleicht sind wir einfach zu schwach dazu, um den Weg zu finden, von diesen Lastern fortzukommen.’
„Stacy?“
Feys Stimme klang streng und unnachgiebig, als ihr Sohn an diesem Abend das Ranchhaus betrat. Der Junge war müde und erschöpft. Gleich nach der Schule hatte er draußen helfen müssen ein paar Zäune zu reparieren, durch welche die Rinder auf die Weiden der Nachbarranch gelangen konnten. Mit Bruce und Craig fort, mussten die beiden Jungs bei der Männerarbeit anpacken.
„Ja, Mom?“ Langsam schlurfte er hinüber zur Küche und drückte die angelehnte Tür auf. Fey stand an der Spüle, die sauberen Bestecke in der Hand, die sie soeben in die Schubladen verteilte.
„Gut, dass ihr endlich da seid! Wurde auch Zeit.“ Ihre Mutter wandte sich um und lächelte plötzlich. „Entschuldige. Ich sehe, du hast hart gearbeitet.“
„Allerdings.“ Es klang verbissen. Der Junge verschränkte trotzig die Arme vor der Brust.
„Ich möchte nur sicherstellen, dass deine schulischen Leistungen nicht einbrechen, wenn du auch Zuhause helfen musst.“
Stacy zuckte die Schultern. „Das tun andere Jungs auch! Byron und ich, wir sind schon richtig gut und wenn wir eines Tages die Ranch leiten, dann…“
„Ach, Dummerchen!“, sagte Fey und lächelte, beinahe mitleidig. „Byron ist der Erstgeborene! Er wird die Ranch eines Tages bekommen!“
„Das ist nicht fair! Byron ist ein eingebildeter Besserwisser und…“
„Sprich nicht so respektlos über deinen Bruder!“, schnitt Fey ihm scharf das Wort ab und warf das restliche Besteck mit einem lauten Knall in die Schublade, bevor sie diese zuschlug.
Stacy zuckte zusammen und zog automatisch ein wenig seinen Kopf ein. Er hatte schon öfter zu spüren bekommen, dass die Hand seiner Mutter nicht minder schnell war als die seines Vaters. Irgendwie glaubte er zu begreifen, dass diese Angelegenheit für Fey sehr ernst war. Er schwieg abwartend.
„Du musst viel lernen für die Schule, damit du gute Noten bekommst und später aufs College gehen oder sogar studieren kannst, denn du hast nicht die Möglichkeit hierzubleiben, auf der Ranch.“ Sie holte tief Luft. ‚Das würde vermutlich auch nicht gutgehen mit dir und Byron zusammen‘, fügte sie in Gedanken hinzu.
„Ja, Mom.“ Der elfjährige Junge fühlte sich viel zu müde und erschöpft, um ihr zu widersprechen.
„Stacy?“
„Hmm?“
Feys blasse Gesichtshaut wirkte im Schein der Deckenlampe glasig und durchsichtig. Sie lächelte zärtlich.
„Weißt du eigentlich, dass ich euch alle sehr lieb habe?“
Einen langen Moment verlor der Junge die Fassung. Was war nur heute los? So kannte er seine Mutter überhaupt nicht, hatte sie nur selten zuvor erlebt.
„Ich hab’ dich auch lieb, Mom“, erwiderte er nach kurzer Überlegung, weil er glaubte, dass man so etwas darauf wohl zu sagen hatte.
Fey trat zu ihm, ihre Arme schlangen sich um seinen Körper und sie küsste ihn auf die Stirn. „Ich liebe alle meine Kinder, hörst du? Ihr seid für mich das Wichtigste in meinem Leben!“
Stacy zögerte kurz, bevor es aus ihm herausbrach: „Ich dachte immer, du hast nur Byron lieb. Du hast mir immer vorgehalten, was er alles kann und macht und was ich mir von ihm abschauen soll. Aber ich bin nicht wie er!“
„Nein, das bist du nicht.“ Fey betonte jedes Wort. „Aber ich habe dich deshalb niemals weniger lieb gehabt und ich möchte, dass du das weißt. Hörst du?“
Hastig wandte sie sich wieder dem Spülbecken zu. Ein Teller schlug klirrend gegen den Rand.
„Ja, ich hab’ es gehört“, erwiderte Stacy leise. „Ich weiß es.“
„Und egal, was passiert, du darfst dich von Byron nicht zu sehr herausfordern lassen, ja? Er hat sehr viel von eurem Vater, aber das bedeutet nicht, dass du ein schlechterer Mensch bist, Stacy. Du bist genauso besonders und einmalig, wie jeder andere Mensch auf der Welt. Versprich mir, dass du das nie vergessen wirst und immer, wenn Byron dich ärgert, erinnerst du dich daran und lässt nicht zu, dass er dich dazu bringt, mit ihm zu streiten, einverstanden?“
Stacy nickte vage. Er kannte seinen großen Bruder und seine verletzende, berechnende Art, die er bisweilen an den Tag legte, um ihn herauszufordern und zu provozieren, doch er wollte auch seine Mutter nicht enttäuschen.
„Okay, ich versprech’s.“
Das Feuer im offenen Kamin des Arbeitszimmers war fast heruntergebrannt. Draußen hatte die Nacht den Tag verdrängt. Die Luft war noch immer sehr kalt und der Wind von Westen frischte immer wieder auf. Fey saß in dem linken der beiden Sessel neben dem steinernen Kamin, eines von Stacys Hemden in der Hand.
Sie seufzte. „Ich möchte wissen, wie er es immer anstellt. Keiner von euch bringt mir dermaßen zerfetzte und zugerichtete Hemden zum Flicken, nur dein jüngster Sohn!“
Harold blickte von seiner Schreibtischarbeit auf. Ein feines Lächeln spielte um seine Mundwinkel als er die Lesebrille abnahm, um seine Frau besser betrachten zu können.
„Tja, er ist eben der Unvorsichtigste von den Männern in deiner Familie. Er ist ein kleiner Hitzkopf, manchmal zumindest. Bevor er Byron, Bruce oder Craig um Hilfe bittet, bricht er sich wieder mindestens eine Rippe.“ Er lachte leise in sich hinein.
„Ich kann daran nichts komisch finden!“ Vorwurfsvoll ließ Fey das Hemd in ihren Schoß sinken. Heute war der richtige Zeitpunkt. Sie konnte es auch nicht länger hinauszögern. Es war höchste Zeit, dass sie es Harold versuchte begreiflich zu machen. Jon hatte recht gehabt – es wurde nicht besser, indem sie es verschwieg und verheimlichte, denn irgendwann würde es ohnehin offensichtlich sein.
„Ach, nimm es nicht gleich so ernst! Stacy ist noch ein Kind!“
„Ja, aber er wird sehr bald erwachsen sein und dann wünsche ich mir, dass er ein Vorbild wird für seine beiden Schwestern. Die Mädchen brauchen hier draußen auch etwas anderes, als nur wilde Männer wie dich und Jon und die Cowboys! Sie verrohen mir ja völlig, wenn auch noch ihre eigenen Brüder kein Benehmen kennen!“ Wie, um Himmels Willen, sollte sie nur anfangen?
Harold starrte sie einen langen Moment wortlos an. Er konnte die Besorgnis seiner Frau ja ansatzweise nachvollziehen. Die beiden Mädchen waren Nachzügler gewesen, nicht mehr eingeplant und mit ständiger Besorgnis erwartet. Stacy war sieben Jahre älter und Byron sogar acht und beide Schwangerschaften hatten Fey bereits eine Menge Kraft gekostet und durch die monatelange Übelkeit ein Magengeschwür verursacht. Deshalb blieb sie auch immer dünn, fast mager, weil sie nie mehr viel essen konnte. Sie war einunddreißig gewesen, als Sarah und Charlotte geboren wurden und eigentlich hatten sie nicht mehr damit gerechnet, dass sie noch einmal ein Kind bekommen würden. Die schwere Nierenbeckenentzündung, an der Fey im Winter zuvor erkrankt gewesen war, hatte ihre letzten Hoffnungen auf weitere Kinder zunichte gemacht und dann war sie unerwartet doch wieder schwanger geworden. Dass es dann ausgerechnet auch noch Zwillinge sein würden und zwei Mädchen, das hatten sie am allerwenigsten erwartet, aber sie hatten Fey noch einmal alles abverlangt. Monatelang war sie gezwungen gewesen das Bett hüten, um keine vorzeitigen Wehen zu riskieren und die Geburt an sich war beinahe mehr gewesen, als sie hatte körperlich ertragen können. Es war kein Wunder, dass sie sich um die beiden kleinen Mädchen ganz besonders sorgte.
„Die Jungs sind nunmal gerne draußen“, warf Harold gedehnt ein. „Sie sind beide Rancher aus vollem Herzen! Gönn’ ihnen doch das Vergnügen, solange sie Zeit dafür haben!“
Fey seufzte tief. „Darum geht es nicht, Harold.“ Sie stockte. „Ich möchte nicht, dass sie keinen Platz in der Gesellschaft finden, wenn ich nicht mehr da bin, um sie zu führen.“
Ihre Wortwahl ließ ihren Mann von seinem Buch, in dem er während des Gesprächs bisher immer wieder geblättert hatte, aufblicken. „Was soll das heißen – wenn du nicht mehr da bist?“
Unbemerkt von seinen Eltern war Byron vor wenigen Minuten die Treppe herabgekommen. Er verspürte schrecklichen Durst und obwohl er wusste, dass seine Mutter es nicht gerne sah, wollte er die Gunst der Stunde nutzen und sich am nagelneuen Kühlschrank, den sein Vater erst im Herbst vom hart ersparten Geld erworben hatte, an der Milch bedienen. Wenn seine Eltern im Arbeitszimmer saßen, wie jeden Abend und die Ereignisse des Tages besprachen, bekamen sie meist ohnehin nichts mit. Oft spielte dazu das Radio recht laut und dann hatte er sie auch schon dabei beobachtet, dass sie miteinander tanzten. Doch an diesem Abend war es still und die einzigen Geräusche, die er vernahm, waren ihre Stimmen und das Knistern des Feuers im Kamin.
Der Junge verharrte auf der letzten Stufe und machte einen großen Schritt vorwärts, weil er wusste, dass die Planke direkt vor der Treppe knarrte und ihn verraten würde. Auf Zehenspitzen schob er sich an der Wand entlang, in Richtung Küche. Die Türe zum Arbeitszimmers seines Vaters stand halb offen und als er nun allmählich näher kam, konnte er auch verstehen, was sie sprachen.
„…muss ein Irrtum sein!“, hörte er Harold in Erregung ausrufen und zu seinem großen Erstaunen konnte er hören, dass sein Vater weinte. Er hatte seinen Vater noch niemals eine einzige Träne vergießen sehen und vielleicht führte diese Tatsache dazu, dass er wie gebannt auf der Stelle verharrte und den Stimmen lauschte.
„Nein, Harold, es tut mir leid, aber Doktor Milford hat mit mehreren Kollegen aus der Klinik in Sacramento Rücksprache gehalten und sie kamen alle zu dem selben Ergebnis.“ Das war seine Mutter. Sie schien ganz gefasst und sehr ruhig zu sein.
„Oh Gott, Fey!“ Sein Vater schluchzte, er weinte wirklich! Byron biss sich auf die Lippen. Was konnte seinen Vater nur dazu gebracht haben, derart seine Selbstbeherrschung zu verlieren?
„Ich weiß nicht, wie lange ich noch durchhalte. Doktor Milford sagt, dieser Krebs käme immer sehr schleichend und zu einem späteren Stadium wird er sehr schmerzhaft sein. Im Moment ertrage ich es noch, aber irgendwann werde ich Schmerzmittel brauchen und dann…versprich mir, dass du den Kindern ersparst, mich zu sehen, wenn ich nur noch vor mich hin sieche! Versprich’ mir das! Sie haben es nicht verdient, ihre eigene Mutter in so einem Zustand sehen zu müssen!“