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Der Junge blies seinen Atem pfeifend durch die Nase. Krebs. Das Wort hämmerte in seinem Schädel. Er wusste, was es bedeutete. Die Mutter eines Freundes aus seiner früheren Schulklasse war daran gestorben und danach waren er und sein Vater fortgezogen. Sie hatte auch Krebs gehabt.
Byron verspürte den sehnlichen Wunsch, jetzt ins Arbeitszimmer zu stürzen und seiner Mutter um den Hals zu fallen, doch er wusste, das durfte er nicht. Sonst bekämen seine Eltern heraus, dass er gelauscht hatte, heimlich, weil er Milch vom Kühlschrank stehlen wollte und dann würde sein Vater ihn wieder übers Knie legen.
So biss er sich auf die Lippen, ganz fest, bis es weh tat und der Schmerz in seinem Herzen ein wenig nachließ. Er würde mit niemandem darüber sprechen, auch nicht mit Stacy. Die beiden Mädchen konnten ohnehin noch nicht begreifen, was mit ihrer Mutter geschah und er wollte ihnen auch keine unnötigen Schmerzen zufügen – genauso wenig wie Stacy. Er wusste, dass sein jüngerer Bruder nicht sehr stark war, dass er es vermutlich nicht verkraften konnte, wenn er vorher davon erführe, dass ihre Mutter sterben würde.
Behutsam, um keine Geräusche zu verursachen, wandte Byron sich ab, um in sein Zimmer zurückzuschleichen. Dort legte er sich ins Bett, zog die Federdecke über seinen Kopf und weinte.
Im großen Schlafzimmer begrüßte der Sonnenschein des neuen Apriltages den sterbenden, vom Krebs geschwächten Körper Fey McCulloughs. Ihre letzten Kräfte schwanden mit jedem Herzschlag, die Krankheit siegte. Sie konnte ihre Augen kaum offenhalten, als sie tastend nach den Händen ihres Mannes suchte.
„Bist du da?“ Sie brachte die flüsternden Worte nur schwer und fast unhörbar hervor.
„Ja, ich bin bei dir.“ Tränen liefen über Harolds Gesicht. Jetzt konnte er seinen Gefühlen noch freien Lauf lassen, später musste er sich zusammennehmen – seinen Kindern zuliebe.
„Du hast ihnen nichts gesagt?“ Fey schien die Bestätigung zu brauchen, sie geradezu begierig zu erwarten.
„Nein.“ Harold schluckte und schüttelte den Kopf. Sie war so entsetzlich krank und seine innere Stimme sagte ihm, dass es besser war, jetzt vernünftig zu sein und einzusehen, dass es zu Ende ging. Der Krebs hatte sie längst umgebracht, es war nur noch eine Frage von Wochen gewesen, bis er ihren ganzen Körper befallen hatte. Der seidene Faden, an dem Feys Leben noch hing, drohte jede Sekunde zu zerreißen.
„Gut.“ Trotz der Schwäche, die sie in sich fühlte und trotz des immer stärker werdenden Gefühls, gleich Abschied nehmen zu müssen, brachte Fey ein Lächeln zustande. „Sehr gut. Ich danke dir, Harold…“ Sie musste abbrechen. Es ging nicht mehr.
„Es war dein Wunsch und ich habe ihn erfüllt. Jon ist mit den Kindern zum See hinuntergegangen.“ Seine Hände hielten ihre kalten, zarten Finger in den seinen. Er konnte nichts fürs sie tun und diese entsetzliche Hilflosigkeit, diese Lähmung machte ihn wahnsinnig. Beinahe zornig wischte er sich mit dem Ärmel des Hemds das nasse Gesicht ab. Die unrasierten Bartstoppel zupften an dem Stoff.
„Pass gut auf sie auf.“ Feys Kopf sank zur rechten Seite. „Sie brauchen dich jetzt mehr als irgendjemanden sonst auf der Welt.“
„Natürlich. Ich kümmere mich um sie, du musst dir keine Sorgen machen.“
Seine Tante Harriet würde aus San Francisco zu ihnen ziehen und ihm bei der Erziehung der Kinder beistehen, bis sie groß genug sein würden, sich um sich selbst um ihr Leben zu kümmern. Es war alles bereits seit einigen Wochen arrangiert. Es war Feys Idee gewesen; sie wollte, dass wieder eine Frau und dazu noch eine, die die Kinder bereits kannten, im Haushalt Einzug hielt, damit der weibliche Einfluss nicht völlig verloren ging. Tante Harriet wartete nur auf den Anruf ihres Neffen, dann würde sie in den nächsten Zug steigen. Sie war seit einigen Jahren Witwe und dazu noch kinderlos geblieben. Fey wusste, dass sie sich um ihre Kinder keine Sorgen zu machen brauchte, wenn Tante Harriet ihre überquellende Liebe und Fürsorge über ihnen ausschütten würde und das beruhigte sie immens.
Von irgendwoher hörte Fey eine beruhigende, wohlbekannte Stimme, während ihre Sinne dahinschwanden. Ein helles Licht fing sie auf, als sie glaubte zu fallen. Es hielt seine warmen, weichen Strahlen um sie gelegt und geleitete sie einen unsichtbaren Pfad hinauf, immer höher und höher, als stiege sie der Sonne entgegen. Fey stockte ein letztes Mal, sie warf einen langen Blick zurück über ihre Schulter. Dort unten saß ihr Mann auf dem Rand ihres Bettes, die Hände ihres toten Leibs an seine Wange gepresst und weinte hemmungslos. Es war vorüber und zu ihrem Erstaunen empfand sie es weder als tragisch, noch als bedauerlich. Der Wunsch weiterzugehen wurde stärker und irgendwo, dort wo die Strahlen einen weiten, wunderschönen Torbogen bildeten, standen zwei Gestalten. Sie lächelten und streckten ihr die Hände entgegen und da wusste Fey, dass sie einfach nur nach Hause gegangen war.
Während der Pastor die letzten Worte sprach, wurde der Sarg langsam von den vier Männern hinab in die Grube gelassen. Die Familiengrabstätte am Fuße des Hügels war dicht bevölkert mit Nachbarn und Bekannten, die Fey McCullough die letzte Ehre erweisen wollten.
Während sich die Reihe der Trauergäste an Harold vorbeischob, um ihm ihr Beileid auszusprechen, starrten Byron und Stacy regungslos hinüber zu dem Loch, in dem der Sarg ihrer Mutter soeben verschwunden war. Tante Harriet und die Zwillinge waren im Haus zurückgeblieben, weil sie glaubte – und damit auch wohl recht hatte – dass die Mädchen noch viel zu klein waren, um sie begreifen, was es mit der Beerdigung ihrer Mutter auf sich hatte.
Soeben kam Charlie Hickman an ihnen vorbei. Er strich ihnen beiden übers Haar, ehe er sich an Harold wandte. Charlie Hickman besaß die Pine Tree Ranch, deren Land im Norden an das der Coyote Canyon Ranch grenzte. Er und Harold waren bereits seit Jahren eng befreundet und regelmäßig verbrachte einer beim anderen die Abende oder sie zogen gemeinsam los, in die Kneipen und Saloons der Stadt.
„Es tut mir so unendlich leid, Harold. Ich kann es gar nicht in Worte fassen.“
„Danke, Charlie, danke.“ Die Stimme des Ranchers klang ruhig und sicher, als habe er in den vergangenen beiden Tagen zuerst seine Fassung verloren und dann stärker zurückgewonnen als je zuvor. „Mein einziger Trost ist, dass ich einen Sohn habe, der eines Tages mein Erbe antreten kann. Wenigstens das ist mir geblieben.“ Und mit diesen Worten legte er seinen Arm um Byron, der sich widerstandslos von seinem Vater näher heranziehen ließ.
Für einen kurzen Augenblick vergaß Stacy an diesem Tag die bleierne Traurigkeit, die der plötzliche Tod seiner Mutter mit sich gebracht hatte und die Wut begann wieder einmal in ihm zu brodeln. Das war ungerecht! Wieso konnte nicht er der Erstgeborene sein? Warum ausgerechnet Byron? Er wollte die Ranch genauso gerne übernehmen, aber ihm würde sein Vater niemals die Chance dazu geben!
Als hätte er die Gefühle des Jungen gespürt, legte Jon seine Hand auf Stacys Schulter. Der Junge blickte auf und schaute den Vormann ein wenig fragend und zweifelnd an. Er erinnerte sich an das Versprechen, das er seiner Mutter gegeben hatte und das besänftigte ihn ein wenig. Er wollte sie nicht enttäuschen, erst recht nicht jetzt, da sie tot war. Er fand das Wort scheußlich und als er so darüber nachdachte, was es eigentlich bedeutete, wenn jemand starb, so hoffte er mit inständiger Grimmigkeit, dass Byron wenigstens derjenige sein würde, der als letzter von ihnen hier stehen würde, wenn er schon die Ranch bekam. Dann sollte er auch diesen Schmerz noch oft miterleben müssen, wenn jemand hier beerdigt wurde, den er geliebt hatte. Wenigstens das konnte ihm keiner nehmen – ein kurzes Lächeln huschte über das Gesicht des Jungen: Wenn er einmal sterben würde, dann hätte er das Recht, zumindest auf der Ranch beerdigt zu werden, wenn er sie schon nicht übernehmen durfte. Das war vielleicht ein kleiner Trost, wenn er als weit gereister und gebildeter Professor oder was auch immer eines Tages nach Hause zurückkehren würde. Auch in einem Sarg, genau wie seine Mutter.
Gegenwart
Sie brachten mich im Gartenhaus unter, das eigentlich das Bunkhouse war, in dem früher die Cowboys gehaust hatten und das sie mittlerweile für Gäste nutzten. Es war rustikal eingerichtet und es roch nach altem, vor vielen Jahrzehnten gefälltem Holz, aber ich hatte sogar einen eigenen Fernseher und eine kleine Küche, wobei ich die Mahlzeiten immer mit der Familie im großen Ranchhaus einnahm. Das Bunkhouse war fast wie eine eigene, kleine Wohnung.
Ich half überall, wo ich gebraucht wurde und fühlte mich dazu auch verplichtet, denn die McCulloughs zeigten mir im Gegenzug alles, was sie glaubten, könnte für meine Recherchen von Bedeutung sein. Dazu gehörten auch unzählige historische Dokumente, die sie in den Schränken des Büros gesammelt hatten.
Das Ehepaar, die Senior-Chefs sozusagen, hatten mich schnell in ihr Herz geschlossen, wie Myrtle es prophezeit hatte. Ich kam hervorragend mit ihnen aus. Sie gaben mir nie das Gefühl, ihnen eine Last zu sein, wenn ich mit meinem Notizbuch anrückte und sie mit Fragen löcherte. Sie bestanden lediglich darauf, dass ich mein Buch nach Fertigstellung unbedingt ins Englische übersetzen müsse, denn sie wollten es auch lesen.
Randy war ebenfalls ein guter Lehrer. Die ersten Wochen verbrachte ich die meiste Zeit mit ihm. Er zeigte Geduld und Einfühlungsvermögen, trotz seiner Jugend von gerade einmal Anfang zwanzig. Manchmal kam er mir vor, wie ein kleines Kind, in ihm schlug noch immer das Herz eines Jungen, voll naiver Hoffnungen und Träume, mit jeder Menge Unfug und Spinnereien im Kopf und das mochte ich besonders an ihm. Er war ein Kumpel, wir konnten unwahrscheinlich gut miteinander herumalbern. Er zeigte mir alles rund um die Pferde und manchmal, wenn seine Freundin Claire gerade auch zufälligerweise auf der Ranch war, ritten wir gemeinsam aus. Claire war genauso nett und umgänglich wie Randy und ich hatte das Gefühl bei ihnen, mit Freunden unterwegs zu sein, obwohl ich sie gerade erst kennengelernt hatte.
Auch mein Verständnis der amerikanischen Sprache und insbesondere der vielen Cowboyausdrücke, die kein Wörterbuch mir preisgab, verbesserte sich zusehends. Obwohl natürlich jeder sofort hörte, woher ich kam, kaum dass ich den Mund aufmachte, verstand ich inzwischen doch beinahe jedes Wort. Gut, es gab immer wieder Slogans, die mir neu waren oder manche Leute redeten einfach zu schnell und nuschelig, als dass ich eine Chance gehabt hätte. Überhaupt kam es mir hier so vor, als hätte mich jemand in eine Zeitmaschine gesetzt und mehrere Generationen zurückversetzt. Im Vergleich zu Deutschland war hier alles unwirklich und viel einfacher und durch die Weite und Einsamkeit des Landes völlig anders strukturiert.
Randy wartete schon vor dem Pferdestall, als ich das Bunkhouse nach einer kurzen Mittagspause verließ. Sein großer, schlanker Fuchs mit den vier weißen Beinen und der Blesse auf der langen, geraden Nase, stand gesattelt am Anbindebalken, während er der kleinen, braunen Stute, die mir als Lehrpferd diente, soeben den Sattel auflegte.
„Wir reiten heute aus“, verkündete er. „Das Wetter ist viel zu schön, um bloß auf dem Platz herum zu eiern!“
Ich liebte es, hinaus in die Prärien zu reiten und mir den Wind um die Nase wehen zu lassen. Ich sah ein, dass die Platzstunden zu Anfang bitter nötig gewesen waren, um mich auf die doch ganz anders trainierten Arbeitspferde einzustellen. Ich fand, dass es mir nicht schlecht gelang, aber dass ich noch einen weiten Weg vor mir hatte, bevor ich auch nur annähernd so entspannt und selbstverständlich auf einem Pferd sitzen würde wie Randy oder sein großer Bruder. Mein Ehrgeiz war erwacht. Ich wollte auch so reiten können!
Tom war ständig irgendwo auf der Ranch unterwegs und gab sich auch gar keine Mühe, mich mitzunehmen oder sich großartig mit mir zu befassen. Ich war mir zu Anfang nicht schlüssig, ob das grundsätzlich ein Wesenszug von ihm war, weil er wenig Geduld zeigte mit Reitschülern und Touristen an sich und diese Aufgaben seinem kleinen Bruder überließ oder ob er speziell meinetwegen von den Gebäuden fernblieb.
Seit meinem Einzug hatte ich ihn meistens mehr zufällig und im Vorbeigehen zu Gesicht bekommen und ich fürchtete mich fast davor, ihm wieder über den Weg zu laufen – ob er vielleicht einmal mehr als nur zwei dahingeworfene Worte mit mir wechseln oder mir womöglich sogar einmal ein Lächeln schenken würde? Doch nichts dergleichen geschah, denn Tom tauchte gar nicht erst auf, außer zu den Mahlzeiten.
Auch heute war er nirgends zu entdecken, was mich ein wenig enttäuschte und zugleich verärgerte, weil ich mir von der An- beziehungsweise Abwesenheit eines Mannes die Stimmung verderben ließ. Männer waren für mich seit meiner gescheiterten Ehe kein Thema mehr. Ich wollte alleine bleiben. Unter keinen, unter überhaupt gar keinen Umständen würde ich zulassen, dass jetzt so ein arroganter, flegelhafter Amerikaner daherkam und all meine hart erarbeiteten und erkämpften Prioritäten wieder über den Haufen warf.
„Wir reiten heut’ mal ein bisschen raus zu den Rindern“, erklärte Randy in diesem Moment und brachte mich damit unsanft zurück in die Gegenwart. „Du bist langsam soweit, dass du das mal ausprobieren kannst.“
„Zu den Rindern?“, wiederholte ich gedehnt und ließ mir die Zügel meines Pferdes überreichen. Randy sattelte eigentlich selten Pferde für die Schüler – das hatten sie selbst zu lernen, wenn sie schon aufs Pferd hinauf wollten. Heute schien er es jedoch eilig zu haben.
Er lachte und zeigte dabei seine schönen, weißen Zähne. „Keine Angst! Ich lass dich schon nicht allein mitten rein! Aber wir können uns ja mal langsam vortasten.“
Mit einem leisen Seufzer gab ich meine Zustimmung und kletterte auf die Stute, die ich seit Beginn meines Aufenthalts zugeteilt bekommen hatte. Ich hatte zu diesem Zeitpunkt noch keine genaue Vorstellung davon, was ‚Arbeit an den Rindern‘ bedeutete, denn auf der Ranch selbst war den Sommer über kein einziges Tier zu finden. Sie befanden sich alle auf den Hochweiden, wo sie die Monate bis zum Spätherbst verbrachten, um dann ausgesondert und entweder in die Winterquartiere gebracht oder an die Schlachthöfe verkauft zu werden.
„Wie sieht’s eigentlich aus“, fragte Randy nach einer Weile, in der sie im Schritt nebeneinander her geritten waren. „Du hast doch Erfahrung mit Pferden in Deutschland. Ich dachte mir, falls du Lust hättest ein bisschen mehr zuzupacken, könntest du doch jeden Morgen die Ställe misten.“
„Ställe misten?“ Ich seufzte leise. Ich hatte jahrelang in Deutschland Ställe gemistet, weil wir die Pferde direkt am Haus hielten. Meine Erfahrungswerte darin waren also reichlich und deshalb wusste ich auch, was das für ein Knochenjob war. Aber gut, ich hatte mich bereiterklärt, überall mitzuhelfen, wo sie mich brauchten.
„Ja, genau!“ Randy nickte. „Ein Kumpel von mir hat uns sonst ab und an unter die Arme gegriffen, um sich nebenher ein paar Dollar zu verdienen. Aber er hat sich beim Baseball den Knöchel gebrochen und fällt erstmal aus. Ich dachte, das ist mal was anderes, als immer nur meiner Tante im Haushalt zur Hand zu gehen.“
„Das bedeutet, ich fange morgen damit an?“
„So in etwa!“ Randy lachte. Er schien zufrieden mit dem Ausgang unseres Gesprächs.
„Und du kannst das einfach so alleine entscheiden?“
„Mein Onkel sagt, ihm sei es gleich. Hauptsache, du könntest die Ställe und die Sattelkammer ordentlich sauberhalten!“
„Und dein Bruder?“
„Ach, der!“ Randy winkte abweisend mit dem Arm. „Vergiss ihn! Er wird sich schon damit abfinden!“
Tom McCullough fand sich nicht damit ab, dass seine Familie über seinen Kopf hinweg und gegen seinen Willen die junge Deutsche, die – laut seiner Meinung – noch nicht mal anständig im Sattel sitzen konnte, von der Haushaltshilfe zur Stallmisterin befördert hatte. Mit finsterer Miene lief er die ersten Tage umher und würdigte mich kaum eines Blickes. Wenigstens grüßte er, allerdings nur, wenn ich ihn zuerst ansprach. Ich begann, mir einen Spaß daraus zu machen, ihn zu ärgern und ein bisschen zu reizen. Meine Angst vor ihm verflog. Ich merkte, dass er äußerst schlagfertig war und mir aufgrund meiner Sprachhürde deshalb bedauerlicherweise weit überlegen. Ansonsten aber hatte er eben seine Launen und schien am liebsten mit sich allein zu sein. Mit meinem Hang zum Einzelgänger verstand ich deshalb einige seiner Reaktionen ganz gut und dachte mir nichts dabei, wo andere sich längst angegriffen gefühlt hätten. Tom war eben mit seinen Ende Dreißig nicht mehr zu ändern und ich, die ja nur unerheblich jünger war, ebensowenig. Das konnte auf Dauer nur dazu führen, dass wir uns gegenseitig angingen wie zwei Raubkatzen, die auf den großen Kampf warteten. Ich konnte warten.
An einem Morgen, nachdem ich mit der Arbeit fertig und diese von seinem Onkel kontrolliert und als gut befunden worden war, hatte ich mich wie immer zum Mittagessen gesellt. Dort redeten wir ein wenig über das, was ich in Deutschland bezüglich Pferden schon alles erlebt hatte und über unsere eigenen. All das hatte Tom wenig beeindrucken können. Er war die ganze Zeit mit unverhohlen spöttischem Gesichtsausdruck dagesessen und hatte mit keinem Wort an der Konversation teilgenommen.
Am nächsten Tag war ich dann zufällig Zeuge eines Zanks zwischen ihm und seinem kleinen Bruder geworden, deren Gegenstand ich gewesen war. Randy glaubte fest, dass ich durchaus dazu in der Lage wäre, ihre Arbeit hier anständig zu erledigen.
„Das hat doch alles keinen Sinn!“, hatte Tom geschimpft. „Sie hat keine Ahnung von unserem Leben hier draußen und ich wette mit dir, dass sie nach spätestens zwei Wochen das Handtuch wirft, weil ihre Fingernägel ruiniert sind und sie Schwielen an den Händen bekommen hat!“
Ich starrte auf meine Hände hinab und konnte nicht leugnen, dass sie schlimmer ausschauten, als ich mir je hätte erträumen lassen. Fingernägel hatte sie ohnehin nie welche gehabt, von daher konnte mich deren Zustand wenig erschüttern. Genauso wenig wie die Blasen an meinen Fingern und die Hornhaut auf meiner Handfläche, die sich dort innerhalb der ersten paar Tage schon gebildet hatte.
Ich würde es ihm schon zeigen, diesem arroganten, überheblichen Klugscheißer von Rancher, der er sich einbildete zu sein! Wütend kratzte ich die Harke über den Boden der Box, um Streu und Mist auf einen Haufen zusammenzuschieben. Von wegen aufgeben! Der würde sich noch umschauen! Das wäre ja gelacht, wenn ich es nicht schaffen würde, jeden Tag eine geradezu lächerlich geringe Zahl von Boxen zu misten – vierundzwanzig, um genau zu sein und das war ja nun wirklich keine Herausforderung!
Während ich so meiner Aufgabe nachging und in meine Überlegungen versunken war, bemerkte ich durch das offenstehende Tor auf einmal, dass draußen im Hof ein Auto vorfuhr. Eine junge, sehr schick gekleidete Frau entstieg der Limousine. Dadurch, dass ich gerade erst bei der zweiten Box angelangt war und damit nicht weit entfernt vom Eingang stand, konnte ich jedes Wort, das draußen gesprochen wurde, verstehen. Neugier war selten etwas, was ich zähmen konnte und deshalb äugte ich erst einmal aus der Box heraus, was dort vor sich ging.
Tom hatte heute in aller Früh angefangen, ein paar der jungen, noch ungerittenen Pferde an den Sattel zu gewöhnen und stand jetzt mit einem von ihnen am Anbindebalken neben dem Tor, als der unerwartete Besuch vorfuhr.
„Was willst du hier?“ Es klang schroff und genervt.
„Mit dir sprechen, das ist alles!“ Die junge Frau strich sich das blonde Haar aus dem Gesicht und ich fand – nicht ganz ohne Neid – dass sie sehr hübsch aussah. Kein Wunder, dass sie der Typ Frau war, auf die Männer wie Tom McCullough abfuhren. Ich konnte nicht anders und die Augen verdrehen – alle Klischees erfüllt. Ich gab mir einen Ruck und kratzte weiter den Mist zusammen, jedoch nun sehr darauf bedacht, keine Geräusche zu verursachen.
„Ich wüsste nicht, worüber wir noch sprechen sollten!“ Sein tiefer Bariton ließ vermuten, dass die Konversation hiermit für ihn beendet war. „Und jetzt muss ich weiter arbeiten.“
„Ach, Tom!“ Der Tonfall der jungen Frau klang genervt und flehend zugleich. „Könnten wir nicht alles bei einem Abendessen in Ruhe bereden?“
„Hör zu“, sagte er und es war offensichtlich, dass seine Geduld bald am Ende angelangt sein würde. „Ich habe weder Zeit, noch das Verlangen, irgendetwas mit dir durchzukauen, was sich für mich schon längst erledigt hat! Würdest du jetzt bitte so nett sein und mit deinem Wagen da wegfahren? Du stehst im Weg.“
Selbst diese Frage klang aus seinem Mund irgendwie sarkastisch und ich warf einen schnellen Blick hinaus in den Hof. Ihn konnte ich nicht sehen, weil er hinter dem Tor stand, doch die junge Frau verharrte genau in meinem Winkel und zu meinem Erstaunen entdeckte ich auf ihrem hübschen Gesicht einen Anflug von Zorn.
„Dann mach’ doch was du willst!“ Sie wirbelte herum und stapfte auf ihren hohen Absätzen wenig damenhaft zurück zu ihrem Wagen. „Aber bild’ dir ja nicht, dass du dann eines Tages daherkommen könntest!“
„Habe ich nie vorgehabt!“
Der Motor heulte auf und im nächsten Moment brauste das Auto davon. Ich grinste still in mich hinein, während ich den Rancher von draußen leise fluchen und schimpfen hörte, jedoch keines der Worte verstand, was vielleicht auch besser war. Meine Augen wanderten zurück in Richtung Tor, von wo nun Schritte zu vernehmen waren. Im nächsten Augenblick erschien seine große, kräftige Gestalt in der Tür zur Box.
„Na?“, fragte er und seine Stimme brachte mein Herz zum Stolpern. Ich starrte ihn eine Sekunde regungslos an…diese dunklen, unergründlichen Augen. Was hatte Randy erzählt? Sein Vater sei ein Halbblut-Indianer gewesen? Daher vermutlich auch die dunklen Haare und der braune Teint, der bei allen anderen Hellhäutigen wohl nur durch regelmäßige Solariumbesuche zu erreichen war.
„Mein Bruder meinte, du machst dich ganz gut und ich kann auch nicht klagen.“ Er schaute sich die Box an, die ich bereits fertig gemistet und frisch eingestreut hatte. „Vielleicht schaffst du’s, dir heut noch ein paar Sättel vorzunehmen. Müssen dringend geölt werden.“
„Mal sehen, was sich machen lässt.“ Ich fühlte, wie meine Wangen heiß wurden. Verdammt! Was war denn nur in mich gefahren?
„Gut“, sagte Tom, nickte, lächelte kurz und wandte sich in die andere Richtung, um wieder zum Tor hinaus zu verschwinden.
Ich atmete aus und merkte erst jetzt, dass ich die ganze Zeit wie ein Soldat vor dem General dagestanden hatte. Zornig schaufelte ich den Pferdemist weiter zusammen. Ich ärgerte mich nicht nur über mich selbst, sondern über die ganze Situation und wie sie verlaufen war. Ich wollte ihn nicht attraktiv finden! Ich hatte mir geschworen, mich niemals wieder zu verlieben und das war auch bislang nicht allzu schwer gewesen, bei der Auswahl an Männern, die zur Verfügung standen. Aber bei ihm…er war so anders, so außergewöhnlich. Er hatte etwas mit mir angestellt, vom ersten Augenblick an, das mich niemals wieder loslassen würde und das ärgerte mich noch viel mehr. Hatte Myrtle mich nicht extra noch vor ihm gewarnt?
Gegen Mittag kam sein Onkel, der meist irgendwo rund um das Gelände anzutreffen war und die schwereren Arbeiten, draußen bei den Rindern, seinen beiden Neffen zu überlassen pflegte. Immer wieder betonte er, dass er in seinem Leben mehr als genug Rindviecher gescheucht und gebrannt hätte – jetzt könne er es auch ein bisschen ruhiger angehen lassen mit fast siebzig.
„Bist du fertig?“ Mit diesem Satz steckte er den Kopf zur Tür herein. Ich hockte auf dem Boden der Sattelkammer, mit einem der Zaumzeuge beschäftigt und fuhr erschrocken herum.
„Fast“, gab ich ihm zur Antwort und betrachtete ihn für einen langen Augenblick. Der alte Rancher war immer höflich und freundlich zu mir und wenn ich sein faltiges Gesicht mit den grauen Haaren so betrachtete, glaubte ich immer, die Schönheit darin noch erkennen zu können, die es einstmals ausgezeichnet haben mussten.
„Na, dann mach’ mal Schluss für heute!“ Er zwinkerte mir übermütig zu. „Meine Frau hat vor einer halben Stunde frischen Kuchen aus dem Ofen geholt. Es gibt ihren Spezialkaffee dazu – na, was ist?“
Beim Wort „Kaffee“ konnte ich noch niemals widerstehen – auch, wenn ich mittlerweile wusste, dass die Spezialausführung hierzulande gefühlt zehnmal stärker war als der, den ich von Zuhause kannte. Er löste regelmäßig Herzrasen bei mir aus und doch war ich nicht fähig, dem lockenden Duft und der Vorfreude auf den Geschmack zu entsagen.