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Die Sonne schien warm und einladend vom blauen Himmel herab, während ich es mir auf der überdachten Veranda vor dem Eingang zum Ranchhaus gemütlich machte. Die Senior-Chefin hatte bereits den rechteckigen Tisch gedeckt und der Kuchen stand darauf, unter einer Haube geschützt, aufgeschnitten und bereit zum Verzehr. Der Rancher lud uns beiden ein großes Stück auf die Teller und schenkte in die Pötte Kaffee ein. Seine Frau hatte an alles gedacht – Milch und Zucker für mich standen ebenfalls bereit.
„Na, er lässt dich ganz schön malochen, was?“, sagte er nach einer Weile und lächelte mir zu. „Mach’ dir nichts draus, er versucht dich bloß zu testen!“
„Sowas dachte ich mir schon“, erwiderte ich grinsend und schob eine Gabel Apple-Pie in den Mund. Ein entschlossener Ausdruck trat auf mein Gesicht. „Aber keine Sorge! Der wird sich noch wundern!“
Ein Schmunzeln zuckte um die Lippen des Ranchers. „Ah, mach’ dich nicht verrückt. Er ist halt ein bisschen kompliziert, aber ansonsten der beste Nachfolger, den jemand wie ich sich wünschen könnte.“
Ich hob die Brauen. Meine Augen fixierten ihn für einen Moment durchdringend. „Willst du dich etwa ganz zurückziehen?“
„Der Tag wird kommen, mein Kind!“ Er lächelte und schob seinen leeren Teller ans andere Ende des Tisches. „Aber ich mach’ mir keine Gedanken darüber, ob Tom der Sache hier gewachsen sein wird. Er ist ein Rancher, wie ich immer einer gewesen bin: Mit Herz und Seele, verstehst du? Das muss man sein, wenn man hier draußen, in der Einsamkeit und Wildnis durchkommen will.“
Ich nickte. Die Inbrunst und Überzeugung, mit der er diese Worte aussprach, beeindruckten mich. Ich hatte schon länger verstanden, dass die Menschen hier anders waren, traditionsbewusster, mehr verwurzelt mit ihrer eigenen Geschichte und denen ihrer Vorfahren, als es bei uns noch üblich war.
„Es ist besser geworden wie früher, als noch zu meiner Kindheit. Es gibt schnelle Autos, Radio, Fernsehen, Telefon, sogar dieses…dieses Internet haben wir. Davon versteh’ ich zwar nichts, aber es ist nicht mehr dasselbe, völlig von der Außenwelt abgeschottete Leben wie früher.“
„Trotzdem“, fiel ich ihm ins Wort und mein Blick schweifte über den Innenhof hinweg, „ist es, als ob hier die Zeit langsamer vorangegangen wäre als anderswo.“
Der alte Rancher betrachtete mich prüfend und ein Lächeln hob seine Mundwinkel. „Du kannst verstehen, was ich meine, was uns antreibt hierzubleiben, trotz der harten Arbeit, der wenigen Freizeit, wenn wir so etwas überhaupt kennen. All das kann uns nicht schrecken.“
„Ja“, sagte ich leise und ohne mir dessen bewusst zu sein, legte sich ein verträumter Schleier über mein Gesicht, der verriet, dass ich eine Reise in eine andere Zeit und Welt angetreten hatte. „Ich würde sofort hierbleiben, wenn ich könnte. Jeden Tag nichts anderes tun als Pferde versorgen von morgens bis abends, Heu schaufeln und den Hühnerstall misten. Hinausreiten und Rinder brennen, sie im Herbst wieder zusammentreiben… Es ist genauso wie damals, als Opa und ich vor dem Fernseher gesessen haben. Er war John Wayne und ich war das wilde, ungezähmte Cowgirl.“ Ein Ruck ging durch meinen Körper. „Gott, hör’ bloß nicht auf mein Geschwätz!“
„Wieso nicht? Ich wünschte, Tom wäre ein einziges Mal an eine Frau wie dich geraten in seinem Leben, anstatt an diese Schicksen, die er immer anbringt! Die halten es hier doch sowieso nicht lange aus und wenn sie dann fort sind, hat er wieder schlechte Laune.“
Ich erinnerte mich an den Vorfall vom Vormittag und konnte ein leises Lachen nicht unterdrücken. „Sie scheinen ihn aber auch wirklich nicht in Ruhe lassen zu wollen, die Damen, meine ich.“
„Ach!“ Der Rancher machte eine wegwerfende Handbewegung und brachte aus der Brusttasche seines Hemds eine Schachtel Zigarillos zum Vorschein. Einladend hielt er sie mir hin, einladend und herausfordernd zugleich, wie mir schien. Dankend nahm ich eine heraus. Sie rochen nach Vanille und besaßen keinen Filter.
„Ich wusste gar nicht, dass du rauchst“, bemerkte er. Seine linke Braue hob sich, während er zuerst mir Feuer gab und dann seinen Glimmstängel anzündete.
„Tue ich auch nicht, jedenfalls nicht regelmäßig“, erwiderte ich mit einem Zwinkern. „Ich mag keine normalen Zigaretten, nur solche Dinger da.“ Ich deutete auf den Zigarillo. „Das andere Zeugs schmeckt nicht – aber das schon.“
Ein leises, tiefes Lachen drang aus der Kehle des Ranchers. „Ich habe noch nie eine Frau getroffen, die eine von mir genommen hat!“
„Ich bin keine richtige Frau“, erwiderte ich selbstbewusst und lehnte mich zurück. „Darum kann ich die auch rauchen, ganz einfach.“
„Ja, ich glaube, das ist das Problem.“ Er blies den Rauch gegen die Überdachung der Veranda. „Tom glaubt, du seihst nicht ganz richtig im Kopf.“
Diesmal war es an mir zu lachen. „Quatsch“, sagte ich und noch einmal: „Quatsch. Er kennt nur keine Frauen, die mit Rückgrat durchs Leben gehen und sich bewusst dagegen entscheiden, zwei Schritte hinter ihrem Mann zu folgen und damit ihre eigenen Ziele und Träume zu opfern.“
Der Rancher runzelte die Stirn. Seine blauen Augen blitzten mich an. „Du hast von Zuhause auch einen ganz guten Eigensinn mitbekommen.“
„Ich bin dazu erzogen worden, meine Meinung zu äußern, meine Freiheit zu leben und dass Ehrlichkeit wichtiger ist, als anderen Leuten zu gefallen.“ Herausfordernd warf ich den Kopf zurück. „Und ich bin stolz darauf.“
„Weißt du“, begann der alte Mann und seine blauen Augen wanderten hinüber zu dem kleinen Wäldchen schräg hinter dem Ranchhaus. „Tom hat den McCullough-Sturkopf geerbt. Er ist meinem Bruder verdammt ähnlich. Der hat auch selten an sich oder seinen Fähigkeiten gezweifelt und er hatte auch diese merkwürdige Eigenschaft, sich von anderen Menschen irgendwie immer fernzuhalten. Heute glaube ich, dass er im Grunde seines Herzens ein Einzelgänger gewesen ist – er wusste es bloß nicht.“
„Und Tom hat ihn sich zum Vorbild genommen?“ Meine Neugier war erwacht. Ich wollte mehr wissen über diese Familie, über Tom McCullough, den großen, dunklen, gutaussehenden Rancher, der mich so unglaublich faszinierte, wie noch nie ein Mann in meinem Leben zuvor.
„Nein, die beiden sind sich nie begegnet.“ Das einst attraktive Gesicht nahm einen melancholischen Ausdruck an. „Das letzte Mal, als ich meinen Bruder getroffen habe, war Tom noch nicht mal geboren. Und das nächste Mal haben wir ihn da drüben, unter den Bäumen, bei den anderen, beerdigt…“
Mir fiel dazu keine Antwort ein und deshalb war ich froh, als mein Gastgeber von alleine fortfuhr: „Ach, Tom und die Frauen, das ist so ein leidiges Thema, das meine Frau und mich schon seit seiner Jugendzeit nicht loslässt. Sie sind ihm immer nachgelaufen, schon zu Schulzeiten und das hat sein Ego natürlich noch gestärkt. Es war manchmal wirklich kaum zu ertragen und Tom, nun, du kannst dir denken, dass er nicht unbedingt ein Kind von Traurigkeit war.“ Der alte Rancher grinste. „Das hat er vielleicht von mir – ich war auch ein ziemlich wilder Hund in jungen Jahren. Aber ein Mann wird ruhiger, wenn die ersten Zeichen des Älterwerdens sich nicht länger verheimlichen lassen.“
„Und Tom?“
Mein Gegenüber zuckte die Schultern. „Ich weiß nicht. Er redet nie über sich oder seine Gefühle, das macht er immer mit sich selbst aus. Aber ich bin ja schon Gottfroh, dass er sich von dieser schrecklichen Tussi wieder hat scheiden lassen, die er damals anschleppte! Ein entsetzliches Mädchen, jedenfalls in meinen Augen! Absolut nervtötend!“
Die Erinnerung an sie schien ihn noch heute völlig aus der Fassung zu bringen und ich konnte mein Amüsement über seine Reaktion kaum verbergen.
„Sie war eine Schönheitskönigin und gerade mal achtzehn“, erzählte der alte Rancher weiter und vergaß darüber völlig seinen Zigarillo. „Wobei ich anmerken sollte, dass Tom auch nur fünf Jahre älter war, dieser Grünschnabel! Jedenfalls wollte sie hier alles umbauen und eine Ferienranch oder sowas draus machen. Sie hat wohl erwartet, dass Tom irgendwann nachgeben würde, aber da hatte sie sich geschnitten! Und eines Tages, ohne, dass er einer Menschenseele was davon gesagt hätte, war sie fort. Er hat sie in aller Früh zum Flughafen gebracht und nach Hause geschickt! Kannst du dir das vorstellen?“
Ich rief mir Tom McCullough ins Gedächtnis und grinste. „Ja“, sagte ich. „Kann ich mir sehr gut vorstellen!“
Der Rancher lachte leise. „Denke ich mir!“
Wenige Tage später, als ich gerade eine volle Schubkarre vom Stall nach draußen zum Misthof schob, bemerkte ich eine Bewegung auf dem Reitplatz, der sich schräg dahinter befand und ich hielt inne. Der schlanke, langbeinige Hengst, dessen schwarzes Fell bläulich im Schein der Morgensonne glänzte, galoppierte Runde um Runde. Sein Reiter saß sicher im Sattel, jede Bewegung seines Pferdes auf seinen eigenen Körper übertragend, spielerisch, mühelos. Seine Hände schienen keinen Kontakt zu den Zügeln nötig zu haben, er lenkte das Tier lediglich mit seinem Gewicht und unsichtbaren Schenkelhilfen.
Der schwarze Hengst wendete auf der Hinterhand, wirbelte Sand auf, galoppierte weiter, nur um am anderen Ende wieder ruhig und geradezu sanft zu stoppen. Sein Atem ging schnell, seine Ohren hielt er nach hinten gerichtet, auf jede leiseste Aufforderung seines Besitzers achtend. Ein leichter Hauch von Schenkelanlegen genügte und er galoppierte wieder an. Fliegende Wechsel, bei jedem Galoppsprung an der langen Seite der Reitbahn, gefolgt von einer Travesale – einem Seitwärtsgang, ausgeführt im Galopp, den für gewöhnlich nur klassische Dressurreiter beherrschten. Er und sein Hengst, sie konnten es auch, am losen Zügel, scheinbar genauso mühelos wie der ganze Rest, den sie hier zauberten. Es folgte eine Pirouette im Galopp, ebenfalls eine Lektion aus der Dressur, doch bei diesen beiden hier fast noch schöner anzusehen, weil die Anspannung des Reiters und der ständige Druck auf das Pferd fehlte. Der Hengst erfüllte seinem Besitzer einfach den Wunsch, weil dieser wusste, wie er es von ihm abfragen konnte, ohne Rohheit, ohne Gewalt.
Und während ich das Paar Tom McCullough und Wind Chaser dabei beobachtete, wie sie miteinander über den Reitplatz tanzten, wurde mir mit einem Schlag der Unterschied bewusst zwischen dem, was in meiner Heimat unter Westernreiten betrieben wurde und dem, was es tatsächlich war. Diese Vollendung zwischen Pferd und Mensch, die konnte niemand erreichen, der lediglich nach Schleifchen und Pokalen strebte, der nicht bereit war, ebenso viel von sich selbst in die Arbeit einzubringen, als er von seinem Pferd erwartete. Das hier, das war das Werk von eiserner Selbstdisziplin und dem Willen, sich über Jahre und vielleicht sogar Jahrzehnte hinweg von den besten Lehrern unterrichten zu lassen, Rückschläge und Kritik immer wieder stoisch zu ertragen, sie als Förderung und nicht als Beleidigung des eigenen Egos anzunehmen.
All das schoss mir durch den Kopf, während meine Augen geradezu hypnotisiert dem Schauspiel folgten, das sich wenige Meter vor mir abspielte. Es gab nicht viele Reiter, die zu solchen Höhenflügen in der Lage waren. Die meisten von ihnen scheiterten irgendwann an ihrer eigenen Eitelkeit. Tom McCullough jedoch war anders, das hatte ich vom ersten Moment an gespürt.
Deshalb war ich Zuhause nie in einen Reitverein oder sonst etwas in dieser Richtung eingetreten: Weil ich diese Einheit zwischen Tier und Mensch dort immer vergeblich gesucht hatte, wohin ich auch schaute und ich war, bei Gott, viel in meinem Land herumgekommen! Die Suche nach Harmonie war erfolglos verlaufen. Ich hatte nichts von dem gefunden, wonach ich strebte und jetzt, so weit fort von Zuhause, von dem gewohnten Reitstall mit seinem Lärm, den engen, miefigen Boxen und der großen Reithalle, in der Pferde mit Sporen traktiert und mit Gerten gefügig gemacht wurden, fand ich in der Wildnis von Amerika einen Mann, der so individuell war wie dieses Land selbst und der die Kunst beherrschte, sein Pferd nicht zum Sklaven, sondern zum Partner zu machen. Oh, könnte er mir doch nur beibringen, ebenso zu reiten!
Obwohl ich mich minutenlang nicht bewegt hatte und meine Arme lahm geworden waren vom Gewicht des vollen Schubkarrens, bemerkte er mich schließlich. Er parierte den schwarzen Hengst zum Schritt durch und ritt zu mir hinüber an den Zaun. Eines dieser Lächeln, die wohl keiner zu deuten vermochte, spielte um seine Lippen: War es Sarkasmus, Spott oder tatsächlich Höflichkeit? Ich traute mir nicht zu, es zu beurteilen als er seinen Hut aus der Stirn schob und sich lässig auf das Horn seines Sattels lehnte.
„Na?“ Nur das, mehr nicht.
„Das war wundervoll“, erwiderte ich nach kurzem Zögern. „Das war mit Abstand das Beste, was ich seit langem gesehen habe.“
Das Lächeln um seine Lippen wurde breiter, die Fältchen um seine Augenwinkel vertieften sich. „Danke.“
Wieder – nur das, keine Silbe mehr. Er ließ den Hengst herumtreten und lenkte ihn in Richtung Tor. Dort stieg er ab, lockerte den Sattelgurt und führte das Pferd hinüber zum Stall, wo beide gleich darauf hinter dem Eck des Gebäudes verschwunden waren.
Heuballen aufschneiden und die Lagen aufzuschütteln, es vor den einzelnen Pferdeboxen für die Abendfütterung bereitzulegen, all das gehörte zu meinen Aufgaben, die ich bis Mittag zu erledigen hatte. Danach half ich weiterhin im Haushalt oder im Garten, putzte Fenster oder reparierte nach einem Gewitter einmal das Dach meines Bunkhouses.
Das Hinaufklettern an der langen, senkrechten Leiter zum Heuboden machte mir nichts aus. Ich mochte den Geruch des getrockneten Grases und den Staub der aufstieg, wenn ich mit der Gabel hineinstach und es auseinanderzuschütteln begann. Dann versprühte es noch mehr seines einzigartigen Geruchs, den ich tief in mir aufsog.
‚Eigentlich‘, dachte ich an diesem regnerischen Vormittag, als ich wieder dort oben stand und meiner Arbeit nachging, ‚wäre ich nicht hier, wenn alles anders gekommen wäre, aber so… Manche Wendungen im Leben haben vielleicht doch ihren Sinn.‘
Einen langen Moment dachte ich darüber nach, dann musste ich mich korrigieren. Nein, nicht die Wendungen waren es gewesen, sondern meine eigenen Entscheidungen. Ich hatte für mich gewählt, was in meinem Leben Priorität hatte – das Schreiben und meine Freiheit. Ich konnte zu viel Nähe zu Menschen noch nie ertragen, ich brauchte schon immer meinen Freiraum wie die Luft zum Atmen.
‚Wahrscheinlich bin ich auch ein Einzelgänger oder zumindest bin ich einer geworden‘, dachte ich und musste lächeln. Die Vorstellung störte mich nicht. Menschenaufläufe in Diskotheken oder Bars waren mir von jeher zuwider gewesen. Als Teenager hatte ich eine Zeit lang versucht, mich zu ändern, mich meinen Mitschülerinnen anzupassen und Spaß daran zu finden, mir die Nächte in vollen Kneipen um die Ohren zu schlagen, bei Alkohol, Zigaretten und lauter Musik, bei unsinnigem Geplänkel und der schier unerträglichen Müdigkeit, die mich spätestens um Mitternacht überfiel. Eine Weile hatte ich das mitgemacht und geglaubt, mich selbst so stark verändern zu können, dass mir diese Art des menschlichen Zusammenseins eines Tages gefallen könnte. Aber schon bald war es mir auf die Nerven gegangen und ich hatte aufgehört, mich wie die anderen zu benehmen oder so sein zu wollen wie sie. Es ging nicht, ganz einfach. Ich war einfach anders als der Großteil meiner Mitmenschen, dass es mir schlicht unmöglich war, mich ihnen anzupassen und daran auch noch Gefallen zu finden. Die einzige Befriedigung, die ich wirklich fand, bestand darin, alleine mit einem Pferd im Gelände zu reiten oder mit einem der Hunde aus dem Tierheim Gassi zu gehen – auch alleine. Da konnte ich meine Batterien wieder laden, mich erholen und nachdenken. Es war nicht, dass ich dann nicht auch gerne mit meinen Arbeitskollegen gescherzt und gelacht hätte oder mit ihnen mittags auf einen Kaffee gegangen wäre – das war etwas anderes. Aber abendelang sinnlos in Diskotheken herumhängen? Nein, danke, davon hatte ich mich schon vor Vollendung meines achtzehnten Lebensjahres verabschiedet. Das war eine andere Welt, in die ich nicht hineingehörte. Meine Welt war die meiner Fantasie, die meiner Romane. Sie hatten immer oberste Priorität. Arbeit zu haben war nötig, um Geld zu verdienen und zu überleben, mehr nicht. Jede freie Minute galt meinen Passionen und der Rest war eben notwendiges Übel.
Irgendwann ging unten die eine Seite des großen, quietschenden Scheunentors auf und eine Gestalt in langem Regenmantel betrat das Gebäude. Sie schüttelte sich und die Tropfen spritzten nach allen Seiten.
„Hey!“, rief Tom nach oben und befreite sich von dem nassen Umhang und dem Hut. „Wenn du fertig bist, kannst du mir helfen, die Pferde von der Koppel rein treiben! Es wird ziemlich matschig draußen und es ist besser, wir holen sie!“
Ich beugte mich über den Rand des Zwischenbodens, auf dem das Heu lagerte, um hinabzusehen. Dieser reichte bis etwa zur Mitte der Scheune, bevor er abrupt endete. „Ich bin gleich fertig!“
Tom verzog den Mund. „Ich komm rauf und helf’ dir, dann geht’s schneller.“
„Nein!“ Mein wütender Aufschrei ließ ihn an der untersten Sprosse der Leiter innehalten. „Ich kann das sehr gut alleine und ich sagte, ich bin gleich fertig!“
Eine Sekunde starrte er mich mit einer Mischung aus Ungläubigkeit und Erstaunen an. „Was?!“
„Ich sagte“, wiederholte ich, jedes Wort betonend, „dass ich keine Hilfe brauche! Ich bin vielleicht eine Frau, aber ich bin kein Schwächling! Ich kann das sehr gut alleine!“
Das typische, leicht spöttische Lächeln bildete sich auf seinem regenfeuchten, gutaussehenden Gesicht.
„Dass du keine richtige Frau bist im Sinne, was man normalerweise darunter versteht, habe ich inzwischen begriffen. Tut mir leid, wenn ich so offen bin.“
„Lieber geradeheraus, als auf einer Schleimspur durch’s Leben schlittern.“ Ich warf eine Gabel Heu neben ihm hinab auf den Boden der Scheune.
„Na ja, nimm’s mir nicht übel! Du entsprichst nicht ganz meiner Vorstellung von dem, was eine Frau normalerweise ausmacht!“
„Das ist mir nicht entgangen!“ Mein Zorn wuchs und wuchs und ich wusste nicht, wann ich die Kontrolle darüber verlieren würde. „Aber vielleicht ist das auch ganz gut! Sonst müsste ich noch befürchten, in dein Beuteschema zu passen und darauf lege ich nun wirklich gar keinen Wert!“
Ein leises, tiefes Lachen drang aus seiner Kehle. „Mach’ nicht den Fehler und beurteil’ mich danach, dass hier ständig irgendwelche Reitschülerinnen versuchen, sich an mich ranzuschmeißen!“
„Ja, natürlich! Ihr armen, armen Männer, die ihr euch nicht mehr retten könnt vor Verehrerinnen, die ihr eigentlich überhaupt nicht wollt und auch gar nicht brauchen könnt in eurem Leben!“
Wieder lachte er auf seine eigene, ironische Art. „Das habe ich nicht gesagt!“
„Nicht nötig! Ich konnte dich jetzt lange genug beobachten!“
Für einen Moment schien ich ihn um eine Antwort verlegen gemacht zu haben, denn er starrte ein paar Sekunden lang nur regungslos zu mir hinauf.
„Sieh an, sieh an! Ein bisschen widerspenstig da oben, was?“
„Ich und widerspenstig?!“ Ich stieß einen gespielt empörten Schrei aus. „Der einzige, der sich hier nicht zu benehmen weiß, bist du!“
„Ich gebe ja zu“, lenkte er sachlich ein, „dass ich manchmal etwas schwierig sein kann, aber das liegt nicht an dir! Das sind halt meine Launen.“
„Oh, wie bedauerlich! Die Frau, die dich eines Tages als Ehemann ertragen muss, tut mir jetzt schon leid!“
Er konnte sich ein weiteres, amüsiertes Lachen nicht verkneifen. „Woher willst du beurteilen, dass ich als Ehemann nichts tauge?“
„Neunzig Prozent aller Männer taugen nicht zum Ehemann, aber die Frauen reden es sich ein, weil sie nicht alleine alt und runzelig werden wollen und dann lassen sie sich von ihnen alles gefallen! Darum ist es besser als Frau allein zu bleiben und unter keinen Umständen jemals zu heiraten!“ Ich machte eine kurze Pause, ehe ich hinzufügte: „Und ja, ich spreche aus leidiger Erfahrung!“
Während ich redete, hatte er sich mit der Hüfte gegen die Leiter gelehnt und die Arme vor seiner kräftigen Brust verschränkt. Mit einem teils belustigten, teils ungläubigen Ausdruck schaute er mir zu, während ich Gabel für Gabel vom Heuboden hinab beförderte.
„Ach, komm schon! Die meisten Frauen bleiben ja doch irgendwann bei einem hängen, vor allem die, die zuerst am lautesten schreien!“
„Keine Sorge! Ich bin aus dem Alter raus, in dem man sich noch darüber Illusionen macht, dass das Leben wie ein Heimatfilm verläuft! Von mir gibt’s keine Kinder, weil ich keine will und ich werde auch nie einen auf brave Ehefrau machen, die daheim hinterm Herd steht!“
Ein Grinsen zuckte um seine Mundwinkel. „Das sagst du bloß, bis du den richtigen Mann triffst und dann geht alles ganz schnell!“
„Blödsinn!“, schrie ich, kurz davor, die Geduld zu verlieren. Er schaffte es tatsächlich, mein Temperament zu entzünden. „Ich kann immerhin behaupten, es probiert zu haben! Taugt nichts für mich!“
„Dann war’s eben nicht der richtige Mann!“
Ich beugte mich wieder über den Rand des Heubodens und warf ihm einen wütenden Blick zu. „Dito. Dasselbe kann ich ja in deinem Fall nur zurückgeben! Bei dir scheint’s auch des öfteren ein Griff ins Klo gewesen zu sein!“
Er hob die Hände, als müsste er sich verteidigen. „Schon gut! Bring mich nicht gleich um, aber Verzeihung, wenn ich das so sage – ihr Frauen seid euch alle irgendwie ähnlich. Ihr wollt alle eines Tages eine Familie mit Kindern und einem braven Mann, egal, wie ihr in jungen Jahren unterwegs seid. Die wenigsten ziehen die andere Möglichkeit rigoros durch.“
„Aha! Und du glaubst, ich wäre auch bloß eine von denen oder wie?!“
„Um ehrlich zu sein: Ja, das denke ich. Ich glaube nicht, dass du durchhalten wirst, wenn dir ein entsprechender Mann begegnet.“
„Na, du musst es ja wissen! Du schmeißt die Frauen, die sich so gerne an deiner starken Brust anlehnen möchten, ja gleich hochkant vom Hof!“
Er zog ein fragendes Gesicht, bevor er begriff. „Ah, verstehe, ja, ich erinnere mich. Was zu viel ist, ist zu viel, du verstehst?“
„Nein, aber erspar’ mir die Details! Und wenn du die Pferde möglichst bald reinholen willst, solltest du mich jetzt einfach in Ruhe weiterarbeiten lassen!“
„Ich komm jetzt rauf“, entschied er kurzerhand und setzte seinen rechten Stiefel auf die unterste Sprosse der Leiter, als eine Ladung Heu ihn unter sich begrub. Für einen langen Moment herrschte absolute Stille. Nur der Regen trommelte auf das Dach und erfüllte das Innere des großen, alten Gebäudes.
Langsam, fast bedächtig schüttelte Tom das Heu von seinen Schultern und zupfte die Halme aus seinem schwarzen Haar. Schließlich hob er den Kopf. Oben, am Rand der Leiter lehnte ich auf dem Stiel der Gabel und schaute abwartend zu ihm hinunter.
„Wie ungeschickt von mir…“
Ohne ihn weiter zu beachten, fuhr ich fort, das aufgeschüttelte Heu hinab in die Scheune zu werfen, mich nicht darum scherend, ob er noch immer dort stand oder nicht. Nach einer Weile hörte ich ihn leise fluchen und das Scheunentor quietschen. Jetzt trieb er seine Pferde vermutlich alleine ein. Nun, konnte er sich im Regen wenigstens ein bisschen abkühlen.
Ich schmunzelte. Ein klarer Sieg für mich. Niemals würde ich sein fassungsloses Gesicht vergessen, das unter dem Heuberg zum Vorschein gekommen war. Das hier war meine eigene, persönliche kleine Rache gewesen und ich schwor mir, dass er mich nie wieder so von oben herab behandeln würde, wie in der Vergangenheit. Ich besaß auch einen gehörigen Batzen Sarkasmus und wenn er meinte, er müsste die Herausforderung annehmen – bitte, ich war bereit.
1967 – 69
Byron McCullough lenkte seinen kräftigen, temperamentvollen Schimmel den vertrauten Weg entlang. Es war derselbe Weg, den er schon hunderte male zuvor geritten war und der ihn hinauf zu den östlichen Weiden brachte, wo er die Herde Jungpferde weiter zur nächsten Koppel treiben musste. Über ihm zog ein Adler seine Bahnen, hin und wieder einen Schrei ausstoßend. Der Tag war noch jung; er war vor allen anderen aufgestanden. Die Sonne blinzelte soeben erst hinter den Hügeln im Osten hervor und tauchte die Ebene in sanfte Brauntöne. Er kannte das alles sein Leben lang und nahm es deshalb auch kaum noch wahr. Es war eben so, ein Teil dessen, was zu seinem Alltag gehörte.