- -
- 100%
- +
Friedrich starrte sie einen Augenblick fassungslos an. Noch nie hatte sie es gewagt, so mit ihm zu sprechen! Wutentbrannt und völlig außer sich hob er den Arm. „Du wirst es nicht noch einmal wagen, so mit deinem Vater zu sprechen!“
Erschrocken wollte Julie dem Schlag ausweichen, doch jemand anderer kam ihr zuvor. „Bitte, Pastor!“ Geistesgegenwärtig packte Hardy Retzner Friedrich am Handgelenk. „Das ist jetzt wirklich nicht der richtige Zeitpunkt! Wir müssen weiter!“
Die beiden Männer wechselten einen langen, herausfordernden Blick.
„Bitte, Pastor“, sagte der Österreicher noch einmal. „Wir haben keine Zeit für solche Kleinigkeiten!“
Einen Moment schien es, als würde sich Friedrichs Zorn nun gegen ihn richten, doch schließlich gab er nach. „Sie haben recht!“, stieß er, nur schwer beherrscht hervor. „Lass uns das heute Abend klären, wenn wir lagern. Wir sollten uns, glaube ich, wirklich beeilen!“
Längst waren fast alle anderen Wagen an ihnen vorbeigefahren und um die scharfe Linkskurve des Weges, hinter den ersten Häusern, verschwunden. Sie fingen an zu laufen, dann zu rennen, um ihren eigenen wieder einzuholen. Auf der Hauptstraße hatten sich rechts und links Neugierige versammelt, um den Abzug der Siedler zu verfolgen. Einige winkten, andere standen einfach nur da und schauten. Außer Atem erreichten Friedrich, Julie und Hardy Retzner ihrn Planwagen, wo Luise sie bereits aufgeregt empfing.
„Wo steckt ihr denn? Wir haben uns schon Sorgen gemacht! Um Gottes Willen, Juliane! Wie siehst du denn aus? Friedrich, unternimm etwas! Sie kann doch so nicht herumlaufen!“
„Später!“, rief ihr Mann und seufzte resigniert. „Nicht jetzt!“ Er rückte sich seinen breitkrempigen, schwarzen Hut zurecht und stellte auf einmal fest, dass es aufgehört hatte zu regnen.
Doktor Stankovski und seine Frau hatten sich vor dem Praxisgebäude eingefunden und winkten. Als sie Doktor Retzner erblickten, eilten sie ihm entgegen und drückten ihm einen großen, verschlossenen Korb mit Proviant in die Hände.
„Für Sie, mein Lieber!“, versicherte der alte, grauhaarige Arzt. „Möge Gott Sie beschützen auf all Ihren Wegen und mögen Sie dort ankommen, wo Sie es sich wünschen!“
„Vielen, vielen Dank!“ Der junge Österreicher hatte Mühe, seine Rührung zu verbergen. Er lächelte. „Das wäre doch nicht nötig gewesen!“
„Reden Sie nicht“, meinte Doktor Stankovski. „Schauen Sie lieber, dass Ihr Wagen nicht ohne Sie die Stadt verlässt!“
„Oh, ja, natürlich!“ Hardy Retzner reichte ihm kurz die Hand, danach der Frau und dann musste er fort, wenn er nicht wollte, dass sie sahen, wie er gegen die Tränen ankämpfte. Sie waren in den wenigen Wochen so herzlich zu ihm gewesen, hatten ihn behandelt wie ihren eigenen Sohn und das, obwohl er bis heute kein vernünftiges Wort Englisch zustandebrachte. Wie sollte er ihnen das je vergessen?
Er wandte sich um und eilte hinter den vorbeiziehenden Wagen her, deren eisenbereifte Räder tiefe Rillen in der aufgeweichten Erde der Hauptstraße hinterließen.
Der Treck rollte durch die Stadt, an den Häusern vorbei und den Menschen, die darin lebten. Hugh hielt die Zügel fest in der Hand. Es war ihm nicht recht, dass Julie anstatt seiner jetzt nebenher laufen musste, aber es half nichts. Er selbst war dazu nicht in der Lage, dazu fehlte ihm einfach noch die Kraft nach der schweren Erkrankung. Auf einmal stellte er fest, dass sie auf Höhe des einen, bestimmten Saloons angekommen waren. Eine Gruppe Mädchen stand davor und beobachtete die vorbeiziehenden Wagen. Seine brauen Augen glitten hastig über sie hinweg und fanden, wonach sie suchten. Suzie lächelte und schwenkte ein buntes Taschentuch. Vorsichtig, kaum merklich und nur für sie verständlich hob er kurz die Finger seiner linken Hand. Sie nickte ihm zu, ihre Blicke trafen sich ein letztes Mal und dann waren sie vorüber, der Saloon lag hinter ihnen. Hugh schluckte und starrte regungslos geradeaus. Er registrierte, dass seine Mutter neben ihm redete, doch er hörte ihr nicht zu. Sein Kopf schwirrte. Er hatte sie lieb gewonnen, sehr lieb sogar. Suzie, dachte er und musste lächeln. Erinnerungen an erregende, befriedigende Nächte drängten sich in seine Gedanken, doch er zwang sie zurück. Niemals würde er sie vergessen, das wusste er, aber ebenso war ihm bewusst, dass er sie vermutlich niemals wiedersehen würde. Zu weit lag Oregon entfernt und irgendwann würde er ein anderes Mädchen heiraten und dann war sie nichts mehr, außer einem schönen, prägenden Erlebnis aus seiner Vergangenheit. Sie war eine gute Lehrerin in Sachen Liebe gewesen, doch schon jetzt begann ihr Bild zu verblassen, bis sie nur noch ein nettes, verschwommenes Bild in seiner Erinnerung darstellte. Genau, wie diese Stadt, in der sie einige Wochen verbracht hatten und die nur eine Zwischenstation vor ihrem eigentlichen Ziel war, vor dem Land, ganz im Westen, das Oregon genannt wurde.
Der Treck
Die ersten dreizehn Tage regnete es beinahe ohne Unterlass und zwischendurch fiel in höheren Lagen sogar Schnee, wobei ein eisiger Wind blies, je näher sie den Rocky Mountains kamen. Wie weit sie auch vorwärtsdrangen, die dunklen Wolken schienen sie zu verfolgen und nicht aufhören zu wollen, ihnen das Leben schwerzumachen. Endlich, am Abend des vierzehnten Tages, als sie in einem kleinen, grünen Tal ihr Lager aufschlugen, durch das ein schmaler Bach floss, der an einigen Stellen über die Ufer getreten war, hörte es auf und die Sonne kam zum Vorschein.
„Seien wir lieber froh, dass wir nicht eingeschneit worden sind“, kommentierte Hardy Retzner in seiner eigenen, trockenen Art und zog sich den feuchten Regenmantel aus. „Sauber sehen wir alle miteinander aus!“
Julie blickte an sich hinab und musste ihm stumm rechtgeben. Ihre Stiefel und ihr Reitrock waren mit Erdkrusten überzogen und verklebt. Bis zu den Oberschenkeln hinauf wies der Stoff eine bräunlich-schmutzige Verfärbung auf und es tat ihr leid um den geliebten Hosenrock, der nun ruiniert war, aber gut, solange sie sich auf dem Trail befanden, solange würde sie ihn auch noch anbehalten.
Lagerfeuer wurden angezündet, während sich die Wagen zu einem Kreis formierten. Die Zugtiere wurden abgespannt, getränkt und in die Mitte der Wagenburg getrieben und Wachen für die Nacht eingeteilt. Gleich darauf dufteten die ersten Mahlzeiten und Schüsse fielen, weil sich drei oder vier der jungen Männer aufgemacht hatten, frisches Fleisch zu besorgen.
„Hoffentlich treffen sie nicht versehentlich irgendeine Kuh, die einem Rancher gehört“, raunte Friedrich stirnrunzelnd und setzte sich an ihr Feuer, über dem Luise eine Suppe im Topf zum Kochen brachte. Dazu gab es trockenes Brot. Die Dämmerung brach schnell und unvorbereitet über dem Land herein, das noch unter dem Einfluss des langen Winters stand und dem Frühling nur allmählich gewährte, sich durchzusetzen.
„Meinst du, es gibt hier überhaupt Ranches?“, fragte Hugh, während er sich neben seinem Vater niederließ. Die Fahrt im Wagen und die Strapazen des Trecks hatten seiner Gesundheit nicht sonderlich gut getan. Er war blass und mager und fror sehr schnell. Mindestens alle vier Stunden kontrollierte Hardy Retzner seine Temperatur und den Puls, doch bisher war alles in Ordnung und der Österreicher hoffte inständig, dass es auch so bleiben würde, denn bei einer weiteren Erkältung oder gar einer nochmaligen Lungenentzündung gab er dem jungen Mann keine Überlebenschancen. Darüber sprach er selbstverständlich mit niemandem, aber das Wissen darüber belastete ihn.
Luise machte sich daran, die letzten Konservenbüchsen mit Bohnen und Karotten zu öffnen, die sie in St. Louis eingepackt hatten, um sie in die Brühe zu schütten.
„Bloß gut, dass wir bald in der nächsten Stadt sein müssten“, seufzte sie und holte den großen Topf hervor.
Friedrich schmunzelte. „Du wirst dich daran gewöhnen müssen, wieder ohne Konserven auszukommen! Bis Oregon liegt noch ein weiter Weg vor uns und...“
Er wurde durch ein lautes Klatschen unterbrochen. Im Schein der Lagerfeuer, die neben jedem der Wagen brannten, trat Charlie in die Mitte und hob die Hände zum Zeichen, dass er Aufmerksamkeit erwartete. Zum ersten Mal, seitdem sie ihn kannten, trug er nicht seinen breitkrempigen, schmutzigen Cowboyhut. Sein ungepflegtes Haar glänzte golden im Schein der flackernden Feuer und ließ ihn auf eigenartige Weise unnahbar und gleichzeitig geheimnisvoll aussehen. Er war überhaupt ein merkwürdiger Mensch.
„Was ist los?“, wollte Julie wissen. Sie hatte sich im Inneren des Wagens ihrer schmutzigen Kleidung entledigt, die sie nun zum Trocknen außen an die Holzverkleidung hängen wollte. Morgen wollte sie alles in dem kleinen Flüsschen auswaschen. Stattdessen trug sie jetzt einen langen Rock mit dazugehörigen Unterkleid und die unbequemen Schürschuhe.
„Ah, nichts weiter!“, erwiderte Hardy Retzner auf Deutsch und hob sie vom Wagen herab. Seine Hände legten sich um ihre schmale Taille und er hielt sie einen Moment länger fest als nötig. Eine kaum zügelbare Sehnsucht überkam ihn und er musste einen Schritt von ihr zurücktreten, um nicht die Beherrschung über sich zu verlieren. Sie hatte den Zopf gelöst, der ihr rotblondes Haar für gewöhnlich zusammenhielt und nun fiel es lang und glatt bis über ihre Schultern hinab. Er verspürte große Lust, seine Finger hindurchgleiten zu lassen, doch er glaubte zu wissen, dass er dadurch mehr zerstören als gewinnen konnte.
„Was will Mister Charlie?“, fragte Julie, ihren Blick nicht von dem Mann mittleren Alters abwendend.
Der österreichische Arzt grinste, ehe er sehr leise und auf Deutsch erwiderte: „Ich fürchte, er will uns mit einer Rede beglücken!“
Julie unterdrückte ein Kichern, doch ihre bernsteinfarbenen Augen glitzerten übermütig. Abwartend standen und saßen die Siedler vor und neben ihren Wägen, rund um die Lagerfeuer und wollten wissen, was ihr Führer ihnen mitzuteilen hatte.
Noch einmal hob Charlie den Arm, dann schallte seine tiefe, von dem amerikanischen Akzent stark geprägte Stimme, über die kleine Wiese: „Morgen Mittag werden wir die Town of Kansas erreichen! Macht euch keine Hoffnungen, wir werden uns dort nicht lange aufhalten! Ihr werdet gerade genug Zeit haben, um Lebensmittel zu kaufen oder was auch immer ihr sonst benötigt! Dann geht’s weiter!“
„Wie lange werden wir denn noch bis Oregon brauchen?“, rief jemand, von der Perfektion seines Englisch her vermutete Hardy, es könnte ein Brite sein. Seine grünen Augen betrachteten ihren – vom Äußeren einem Cowboy nicht unähnlichen – Treckführer eindringlich. Er spürte, dass das noch nicht alles gewesen war, was er ihnen zu sagen hatte.
„Oregon“, wiederholte Charlie gedehnt und bemühte sich, seine zu langen, struppigen Haare glattzustreichen, was ihm jedoch nicht gelang. „Oregon ist noch sehr weit fort! Wir müssen über die Rocky Mountains und durch Indianergebiet! Wir haben zwar immer wieder Forts und Städte auf unserem Weg, an denen wir Vorräte besorgen können, aber in Oregon wird sich dann jeder einen Platz für sich suchen müssen! Das wird nicht ganz leicht!“
„Wieso?“, rief jemand anderer. „Ich dachte, in Oregon gibt es noch fast keine Siedler!“
Charlie lachte leise und bellend auf. „Wo habt ihr das gelesen? In einer von euren Zeitungen in Europa?“ Er lachte noch einmal, diesmal lauter. „In Oregon gibt es längst Städte und jede Menge Farmen! Was glaubt ihr, wieviele tausend Leute wie ihr sich in den vergangenen Jahren dorthin auf den Weg gemacht haben und alle mit derselben Hoffnung! Glaubt ihr, die lassen sich das Land von euch einfach so besetzen?“
Ein lautes, protestierendes oder ungläubiges Murmeln ging durch die Menschen. Sie wollten nicht glauben, was sie hörten.
„Und was wollen Sie jetzt tun?“, rief eine aufgebrachte Frau. „Wo sollen wir dann hin?“
„Es gibt eine ganz einfache Lösung!“, schrie ihr Treckführer, beinahe triumphierend, zurück. Er schien genau auf diese Frage gewartet zu haben. „Dieses Land ist riesig! Es werden alle genug Platz finden! Wir werden die Town of Kansas morgen nicht in westlicher, sondern in südlicher Richtung verlassen! Dort unten gibt es noch jede Menge unbesiedeltes, unberührtes Land! Wir werden uns in Richtung Arkansas River aufmachen, bis zu einem Fort, das dort errichtet ist. Da können wir bleiben und...“
„Zum Arkansas River?“, wiederholte Hardy Retzner lauter als beabsichtigt. Alle Augen wandten sich ihm zu. Er hatte die Landkarte genau vor Augen und wusste, wovon Charlie sprach. „Das ist doch alles Indianergebiet!“
„Noch!“, entgegnete ihr Führer selbstbewusst. „Noch ist es das, aber nicht mehr lange! Die Regierung will so schnell wie möglich Verhandlungen mit den Indianern aufnehmen und das Gebiet für die Siedler nutzen.“
„Aber zum jetzigen Zeitpunkt ist es doch verboten, sich dort niederzulassen!“
Charlie kniff die Augen zusammen. „Willst du mir erklären, welche Gesetze in diesem Land gelten? Welche Rechte ein Siedler hat? Schon einmal etwas von einem Heimstättengesetz gehört?“
„Allerdings“, erwiderte der junge Österreicher erzürnt und bereit, sich mit ihrem Treckführer anzulegen. „Und es besagt nicht, dass es auch für Land gilt, das den Indianern überlassen wurde! Wir haben keinerlei Rechte uns...“
„Rechte!“, brüllte Charlie unkontrolliert und die Geduld verlierend. „Es gibt schon lange Farmer dort unten, ohne dass jemand groß Notiz davon genommen hat! Und jetzt stell dir vor, was passiert, wenn das Land irgendwann zur Besiedlung freigegeben wird und wir bereits dort sind? Weißt du, was das bedeutet?“
„Und wenn es nicht freigegeben wird?“, bohrte Hardy unbeeindruckt nach. „Was dann?“
„Es wird!“, schrie Charlie wütend, die Hände zu Fäusten ballend. „Dieses ganze Land wird eines Tages von euch Einwanderern besiedelt sein! Nichts davon wird mehr wild und unentdeckt sein und kein Indianer wird mehr auf irgendeinem Besitztum pochen, weil es keinen von ihnen mehr geben wird!“
„Wollen Sie mir etwa andeuten, dass wir uns das Land stehlen sollen? Obwohl es uns nicht zusteht?“ Auch Hardy Retzner brüllte jetzt. Es war ihm unbegreiflich, dass jemand auf solch absurde, gefährliche Ideen kam. „Die Indianer werden genauso wenig begeistert sein, wie die schon angesiedelten Farmer in Oregon, wenn wir uns einfach an ihrem Besitz bedienen! Sie wollen mir doch nicht etwa erzählen, dass die sich nicht dagegen zur Wehr setzen werden? Und was wird dann aus uns? Ein Haufen Leichen in der Prärie?“
„Red keinen Unsinn, du kleiner, dummer Europäer!“ Herausfordernd stemmte Charlie die Arme in die Hüften. „Wir werden nach Süden ziehen und zwar bis in die Nähe des Forts, wo sich der letzte Stützpfosten befindet! Dort könnt ihr eine Stadt errichten, oder was auch immer ihr wollt und dort seid ihr sicher! Und jetzt gibt es keine weiteren Diskussionen mehr oder ihr könnt euch morgen einen anderen Führer suchen...falls ihr so etwas in einer Stadt wie der Town of Kansas findet!“
Seine Drohung zeigte Wirkung – alle schwiegen und starrten Hardy Retzner vorwurfsvoll und abwartend an. Rüde packte Friedrich ihn am Arm.
„Was ist denn in Sie gefahren? Das ist doch eine einmalige Gelegenheit!“
„Das ist Raub!“, stieß der junge Arzt wütend hervor. „Nichts weiter! Wir machen uns auf Land breit, das uns nicht zusteht!“
„Aber wenn Mister Charlie sagt, dass die Regierung Verhandlungen mit den Indianern führt, dann ist es das in ein paar Wochen vielleicht schon! Und wenn dann alle dorthin rennen, sind wir bereits da und haben unser Parzellen abgesteckt!“
Fassungslos legte Hardy Retzner sich einen Moment die Hand vors Gesicht. „Pastor, begreifen Sie denn nicht? Unser werter Fährtensucher hat lediglich erklärt, dass die Verhandlung bald aufgenommen werden sollen! Das ist ein gewaltiger Unterschied! Was, wenn der Regierung etwas dazwischen kommt? Oder wenn sie eine bessere Idee hat oder es zu keiner Einigung kommt? Was dann?“
„Ach, nun malen Sie den Teufel doch nicht an die Wand!“, fuhr Friedrich ihn ungehalten an. „Ich hab’ mir dieses Heimstättengesetz unzählige male durchgelesen! Wir haben das Recht auf 160 Acres Land, das sind 64 Hektar! Jedenfalls ich, weil ich ein verheirateter Mann mit Familie bin, aber das will ich gar nicht! Ich möchte lediglich ein kleines Häuschen bauen und eine Kirche errichten, in der ich zu all diesen Menschen predigen kann und auch zu all denjenigen, die noch folgen werden!“
Kopfschüttelnd wandte Hardy Retzner sich ab. Wenn nicht einmal mehr ein Geistlicher, ein Pfarrer, sich seines Unrechts bewusst war, wie konnten das dann die anderen hier? Wie konnte er ihnen nur begreiflich machen, dass es falsch war, was sie taten, dass sie mit entscheidenden, wenn nicht gar lebensgefährlichen Konsequenzen zu rechnen hatten? Er umrundete den Wagen und lehnte sich auf der anderen Seite gegen das rauhe Holz, dort, wo der Schein des Feuers ihn nicht treffen konnte. Er fühlte sich entsetzlich hilflos und sehr erschöpft. Die Kälte der Nacht kroch in ihm hoch, doch er nahm sie kaum wahr.
„Glauben Sie wirklich an das, was Sie eben gesagt haben?“, fragte auf einmal Hugh neben ihm. Der junge Mann war ihm unbemerkt gefolgt, verunsichert und durcheinander.
Hardy schaute ihn nicht an. Ihm war nicht danach, jetzt mit irgendjemandem zu streiten, schon gar nicht mit Hugh.
„Ja, das meine ich, aber bitte...“
„Warum?“, unterbrach der junge Mann ihn. „Warum glauben Sie das?“
„Bei Doktor Stankovski hatte ich genug Gelegenheit entsprechende Artikel zu lesen und die dazugehörige Wahrheit aus dem Mund eines Mannes zu erfahren, der es wissen muss.“ Er hatte seine Stimme gesenkt und Hugh musste sich anstrengen, um ihn verstehen zu können. „Immer weiter werden die Indianer zurückgedrängt, immer weiter, bis es keinen Ort mehr für sie gibt. Dieses riesige, einzigartige Land hat einst ihnen gehört, ihnen ganz allein...bis wir kamen, wir Siedler und Eindringlinge, die es ihnen fortnehmen. Immer mehr davon, immer mehr, aber eines Tages werden sie zurückschlagen. Selbst, wenn wir immer noch mehr von ihnen töten und in Reservate pferchen – eines Tages werden sie zurückschlagen und für ihre Rechte kämpfen. Das ganze Land dieser Vereinigten Staaten gehört ihnen, nicht uns.“ Er seufzte und brach ab. „Was nützt es schon, wenn ich rede? Gar nichts. Die anderen werden auf Mister Charlie hören, weil er Erfahrung hat und dieses Land schon mehrmals ohne größere Zwischenfälle in alle möglichen Richtungen durchquert hat...ein verdammt zäher Bursche. Wer weiß? Vielleicht hat er auch schon vorher Siedlertrecks in den Süden geführt, in dieses Gebiet wo auch wir hin sollen, aber selbst wenn wir unbeschadet bis zu diesem Fort durchkommen, wer sagt, dass wir dort bleiben können? Wer sagt, dass uns die dort stationierten Soldaten nicht gleich wieder davonjagen, weil sie dort sind, um Leute wie uns davon abzuhalten, über das Land herzufallen? Vielleicht kommen wir auch gar nie erst an, weil die Indianer uns zuvor überfallen. Wer weiß das schon?“
Hugh schluckt. Im Stillen bewunderte er den jungen, strohblonden Arzt mit dem schmalen, eingefallenen Gesicht und dem energischen Auftreten. Er hatte ihn von ihrer ersten Begegnung an bewundert, als er den jungen Matrosen auf dem Schiff versorgt hatte. Schon an diesem Tag hatte Doktor Retzner etwas in ihm auszulösen vermocht, das er bis dahin nicht gekannt hatte. Es war wie eine Art unstillbarer Wunsch, ein Drängen, das ihn irgendwohin führen wollte und er konnte nicht genau sagen, wohin. Ein Wunsch, den er nicht beim Namen nennen konnte, noch nicht.
„Ich...gehe...das Abendessen ist fertig“, brachte Hugh zerstreut hervor, ehe er sich abwandte und eilig zum Feuer zurückging.
Die Town of Kansas war laut, schmutzig und seine Hauptstraße mit Saloons und Freudenhäusern gesäumt, die Luise die Schamesröte ins Gesicht trieben und Friedrich blankes Entsetzen verspüren ließen.
„Lasst uns für diese armen Sünder beten“, sagte er, als sie schließlich den General Store erreichten und faltete die Hände. „Mit der Bitte, dass ihr unchristliches Verhalten ihnen verziehen wird.“
Hugh schluckte, erwiderte nichts und kletterte eilig vom Kutschbock. Er wollte jetzt nicht beten und schon gar nicht für diese Mädchen und nicht für die Männer, die ihnen Geld dafür bezahlten, damit sie sich an ihnen vergehen durften, denn er war nicht besser, nicht einen Deut besser als sie. Sein Vater hätte auch ihn in sein Gebet einschließen müssen, in seine Bitte um die armen Sünder. Hugh war froh, dass er auf der anderen Seite des Wagens stand und Friedrich nicht mehr anschauen musste. Schnell einkaufen, einpacken und dann nichts wie weiter, dachte er. So schnell wie möglich fort von hier!
Je weiter ihr Weg sie Richtung Süden führte, desto sandiger und trockener schien der Boden zu werden. Immer mehr Felsen tauchten auf und viele kleine Wälder durchzogen das weite, hügelige Land. In einigen Tälern wuchs üppiges, grünes Gras, an dem sich die Tiere erfreuten und dann gab es Gebiete, in denen die Prärien braun und ausgetrocknet waren. Der Weg war schwierig für die Wagen und die Zugtiere. Sie mussten vorsichtig fahren und hin und wieder ging eine Achse zu Bruch, dann war der Trail für diesen Tag beendet. Charlie schimpfte und fluchte, wenn etwas derartiges vorfiel und einmal ließ er einen Wagen an Ort und Stelle zurück und nahm nur die beiden Pferde mit, um Zeit zu sparen.
„Ein eigenartiges Land ist das“, bemerkte Julie an einem Abend Ende Juni, als sie ihr Lager mitten in der Prärie, weit entfernt von den nächsten Wäldern und Felsen aufgeschlagen hatten. Die meisten Siedler hatten sich längst zur Ruhe begeben und eine angenehme, fast friedlich scheinende Ruhe lag über dem Platz. Die ersten beiden Wachen hatten begonnen, ihre Runden um die Wagen zu drehen, jeder ein Gewehr geschultert und einige der Lagerfeuer begannen langsam und knisternd herunterzubrennen.
„Fremd“, erwiderte Hardy Retzner leise und starrte in seinen leeren Zinnbecher. „Fremd und so unendlich weit. Der Himmel scheint hier nirgendwo aufzuhören, nicht einmal am Horizont.“
„Ja“, flüsterte Julie und starrte hinauf zu den Sternen. Ihr fröstelte, denn die Temperaturen fielen auch jetzt in der Nacht noch recht tief. „Ich möchte wissen, wann wir endlich dieses Flusstal erreichen, wo das Fort steht.“
„Ich weiß es nicht, Julie-Mädchen“, gab Hardy Retzner offen zu. Er stellte seine Tasse beiseite. „Lassen Sie uns schlafen gehen. Es ist spät und ich bin sicher, dass unser verehrter Führer morgen wieder eine lange, mörderische Strecke für uns aussucht.“
Julie blickte auf ihre Stiefel. „Wenn wir angekommen sind, brauche ich neue Sohlen.“
Der junge Österreicher schmunzelte. „Damit wird es nicht getan sein. Da brauchen Sie ganz neue Stiefel!“
Er wollte aufstehen und sich unter den Wagen zu Friedrich und Hugh legen, denn im Inneren schliefen die Frauen und Nikolaus. Er verabscheute den Platz auf der harten, feuchten Erde, doch es gab keine Alternative, weder für ihn, noch für Hugh oder Friedrich. Da vernahm er eilige Schritte, die sich ihnen näherten.
„Oh, da kommt Mr. Stromson!“, sagte Julie erstaunt.
Greetje und Torbjörn Stromson waren ein junges Ehepaar aus Norwegen, beide Anfang zwanzig und hochmotiviert, was ihre Zukunft anbetraf. Sie stammten aus ärmlichen Verhältnissen und wollten diesen entfliehen. So hatten sie sich ein wenig Geld gespart, um mit dem Schiff nach Amerika auswandern zu können. Julie kannte die beiden recht gut, denn sie hatten sich dem Treck schon in New York, zusammen mit ihnen angeschlossen und außerdem hatte Friedrich ihnen das Geld für die Rate an ihren Führer geliehen, weil sie es nicht hatten bezahlen können.
„Doktor?“, fragte der junge Mann mit den Sommersprossen und den sehr blonden Haaren.
„Was gibt es?“ Alarmiert sprang Hardy auf die Beine. Niemand fragte umsonst nach ihm.
„Könnten Sie vielleicht einmal nach meiner Frau sehen?“, raunte Torbjörn leise, um keinen der anderen zu wecken. „Sie hat starke Schmerzen und ich weiß auch nicht...“
„Ich komme!“, fiel Hardy ihm eilig ins Wort und trat an den Wagen, um lautlos seine Instrumententasche herauszuholen. „Wo ist sie?“
„Dort hinten! Ich zeige es Ihnen!“ Besorgt rannte der junge Ehemann ihnen voraus. Ganz von selbst schloss sich Julie ihnen an, denn sie war es gewohnt, dem Österreicher immer eine Hilfe zu sein. So oft hatte er sie in der Vergangenheit schon gebraucht und vielleicht musste sie ihm auch diesmal zur Hand gehen.