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„Ich kann keine anderen sehen“, raunte Torbjörn jetzt und schob sich behutsam einen Schritt nach draußen. „Seltsam.“
„Vielleicht dachten sie, mehr brauchen sie für euch beide nicht!“
Julie wagte sich neben ihm ins Freie, ihre Umgebung genau unter die Lupe nehmend, um jede Bewegung sofort wahrzunehmen. Sie konnte niemanden entdecken, kein Geräusch, nichts verriet, ob sich noch mehr Indianer in der Nähe aufhielten. Langsam, jeden Schritt genau bedenkend, ging Julie vorwärts. Nichts geschah. Kein Schuss fiel, kein Pfeil traf sie und auch die beiden Indianer rührten sich nicht. Zuerst trat Julie zu dem einen, der auf dem Bauch lag. Sie scheute sich davor, ihn zu berühren. Er trug Lederkleidung und sein Haar war lang und pechschwarz. Eine Feder war hinein geknotet und er roch seltsam scharf nach Leder, Fell und als habe er neben einem Feuer gestanden, rauchig und schwer.
Sie gab sich einen Ruck und beugte sich über ihn. Es kostete sie einige Kraftanstrengung, ihn auf den Rücken zu drehen. Zwei große, schwarze Augen starrten sie an, ein Rinnsal von Blut lief aus einem Loch in seiner Stirn. Entsetzt fuhr Julie hoch. Zum ersten Mal in ihrem Leben sah sie einen toten, erschossenen Menschen. Sie atmete stoßweise. Er war jung, kaum älter als sie selbst. Vergessen war die Möglichkeit, weswegen die beiden gekommen waren, jetzt siegte ihr Mitgefühl.
Hastig wandte Julie sich ab. Vielleicht lebte zumindest der andere noch. Er lag einige Schritte entfernt, zusammengekauert auf der Seite. Sein glattes, schwarzes Haar hing ihm in langen Strähnen ins Gesicht. Mit einem Blick erfasste Julie den Steckschuss an seinem Bein. Blut floss in Strömen heraus, tropfte auf die feuchte Erde und bildete dort einen dunklen Fleck. Sie kniete sich neben ihn. Behutsam strichen ihre klammen, zitternden Finger die Haare beiseite. Das junge, auf eigene Weise sehr hübsche Gesicht war auf jeder Wange mit zwei weißen Streifen bemalt. Zwei schwarze Augen schauten sie an, doch es waren keine toten Augen, sie waren ausgesprochen lebendig und feindselig. Erschrocken sprang Julie auf, einen leisen Schrei ausstoßend.
Torbjörn hatte mittlerweile die Gebäude umrundet und verkündete, dass er keine weiteren Spuren gefunden habe. Sofort kam er nun zu ihr geeilt, das Gewehr im Anschlag.
„Lebt er etwa noch, dieser rote Teufel?“
„Nicht!“ Fassungslos packte Julie die Waffe. „Du kannst ihn doch nicht einfach erschießen!“
„Warum nicht?“, brüllte Torbjörn. „Glaubst du, er hätte sich um uns geschert?“
„Das darfst du nicht!“, rief Julie und versetzte ihm einen energischen Stoß gegen die Brust. „Das wäre Mord!“
Ungläubig starrte der junge Mann sie an. „Willst...willst du etwa behaupten, du möchtest ihn laufen lassen?“
„Zuerst muss ich die Kugel herausholen und sein Bein verbinden!“
„Ihn auch noch verarzten?“, brüllte Torbjörn. Er schlug mit dem Lauf seiner Winchester nach ihr. „Nicht hier, nicht auf meinem Grund und Boden!“
„Wo denn sonst?“ Ärgerlich schüttelte Julie den Kopf. „Mit in die Stadt nehmen kann ich ihn schlecht. Ich glaube kaum, dass ich ihn dorthin bekomme.“
„Sie hat recht!“ Unbemerkt war Geerjte herausgekommen, um nachzusehen, ob alles in Ordnung war. Keiner von beiden hatte sie kommen bemerkt. „Du kannst diesen jungen Kerl nicht einfach erschießen!“ Ihre blauen Augen ruhten vorwurfsvoll auf ihrem Ehemann. „Das wärst nicht du! Das wäre nicht mehr der Torbjörn, den ich liebe und den ich geheiratet habe!“
Er schluckte. Sein Stolz verbot es ihm, Nachsicht walten zu lassen und sein Zorn war noch immer ungebrochen. Mit einer schnellen, fahrigen Bewegung strich er durch das hellblonde Haar.
„Sie werden zurückkommen!“, stieß er zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. „Und dann...“
„Wenn du ihn erschießt, werden sie das ganz bestimmt“, erwiderte Geertje mit einer Schärfe, die ihr kaum zuzutrauen war. „Aber wenn du ihm hilfst, wird er es vielleicht weitererzählen und sie werden uns verschonen!“
Es kostete Torbjörn einige Überwindung, doch die Worte seiner Frau schmerzten ihn. Er erkannte sich ja selbst kaum wieder! Endlich nickte er. „Also gut. Bringen wir ihn ins Haus.“
Zufrieden nahm Geertje ihm das Gewehr ab, damit er Julie helfen konnte, den jungen Indianer hineinzutragen. Kaum jedoch, dass Torbjörn ihn fassen wollte, versuchte dieser aufzuspringen. Hasserfüllt starrten seine dunklen Augen sie an. Sein verwundetes Bein konnte kein Gewicht tragen, es gab unter ihm nach und er sackte zusammen, doch irgendwie gelang es ihm, sich noch zu fangen und er landete nur auf den Knien.
„Wir...wir wollen dir helfen“, sagte Julie. Die großen Augen starrten sie misstrauisch an. Er verstand ganz offensichtlich nichts von dem, was sie sagte. „Helfen!“, sagte sie erneut und deutete auf seine Wunde. Als er nicht reagierte, beugte sie sich hinab und berührte sacht die Stelle, wo die Patrone in das Fleisch gedrungen war. Er zuckte vor Schmerz zurück und Julie wunderte sich über ihren eigenen Mut. Seine unergründlichen Augen fixierten sie noch immer, doch sie glaubte, ein Verstehen darin zu erkennen.
„Komm“, sagte sie und gab Torbjörn einen auffordernden Wink. „Geertje, bitte, bring das Gewehr irgendwohin, wo er es nicht sehen kann!“
Diesmal erlaubte der junge Indianer ihnen, ihn zu stützen und ihn zum Haus zu schleifen. Julie legte ihren Arm um seine kräftigen Schultern und wunderte sich, dass er es mit solch stoischer Ruhe geschehen ließ. Wie eigenartig und fremd musste das alles für ihn wirken, erst recht, nachdem er nichts von ihrem Gespräch zu verstehen schien. Sie hatten ihm noch nicht einmal das Messer weggenommen und halfen ihm stattdessen ins Haus! War es schiere Leichtfertigkeit oder waren sie einfach nur vollkommen dumm und naiv? Julie beobachtete ihn genau. Schweiftropfen bildeten sich auf seiner Stirn und sie fragte sich, ob sie von den Schmerzen verursacht wurden oder ob ihm ebenfalls so ungeheuerlich zumute war wie ihnen.
„Legt ihn auf den Tisch“, ordnete Geertje an, die vorausgeeilt war und das Gewehr hinter den Ofen stellte. „Ich koche Wasser auf!“
„Und ich werde die beiden Pferde einfangen und seinen Kumpanen darauf festbinden, damit er ihn später mitnehmen kann“, erklärte Torbjörn mit einem letzten, kritischen Blick auf den jungen Indianer, ehe er sich abwandte und hinauseilte. Er traute dem Kerl nicht, genauso wenig wie dieser ihnen traute.
„Was wirst du jetzt tun?“, fragte Geertje. Die Aufregung und Furcht war ihr anzumerken.
„Ich muss versuchen, die Kugel zu entfernen und die Blutung zu stillen“, entgegnete Julie, während sie bereits mit einem Messer das lederne Hosenbein aufschnitt, um sich die Wunde ansehen zu können. „Reiß irgendein sauberes Leintuch in Streifen“, bat sie, ohne aufzusehen. Der junge Mann musste große Schmerzen haben, denn er ballte seine Hände zu Fäusten und hörte nicht auf, mit den Zähnen zu knirschen. Julie arbeitete flink und geschickt. Sie hatte nur ein einziges Mal dabei zugesehen, wie Doktor Retzner einem jungen Cowboy eine Kugel entfernt hatte und das war in St. Louis gewesen. Sie konnte sich jedoch an alles exakt erinnern, was er ihr damals erklärt hatte. Sie wusste, welches Risiko sie einging. Ein falscher Schnitt und das Leben dieses jungen Indianers wäre vorüber, aber sie hatte keine andere Wahl. Mit der Kugel im Bein stand es ebenso schlecht um ihn. Sie bemühte sich, die Messerschneide schnell und gezielt zu setzen, um an die Kugel heranzukommen. Bald waren ihre Finger blutverschmiert, doch sie spürte unter der Haut und dem Fleisch, dass sie diese gleich zu fassen bekommen würde.
Sie wusste nicht, wie lange sie gebraucht hatte, dann hielt sie die Kugel zwischen den Enden der Pinzette und wunderte sich, welch mächtige Geschoße ein Gewehr abzufeuern vermochte. Hastig schüttete sie etwas Alkohol über die Wunde, ehe sie ein Stück des Leintuchs darauf presste und mit einem weiteren Streifen festband.
Erst jetzt richtete sie ihre Augen wieder auf das Gesicht des jungen Indianers. Seine Augen starrten regungslos zur Decke, die Lippen zu einem schmalen Streifen zusammengebissen. Nicht ein Laut, nicht eine Klage war während der ganzen Prozedur aus seiner Kehle gekommen. Julie hatte nicht bemerkt, dass Geertje die ganze Zeit über neben ihm gestanden und ihm mit einem feuchten Lappen den Schweiß vom Gesicht gewischt hatte. Dabei waren auch die beiden weißen Streifen auf jeder Wange abgewaschen worden und jetzt wirkte er nicht mehr ganz so furchterregend. Fasziniert betrachtete Julie sein kantiges Gesicht. Es war von eigentümlich bräunlicher Farbe, wie sie es noch nie zuvor gesehen hatte. Er schien ihren Blick zu bemerken, denn seine dunklen Augen suchten die ihren. Im Schein des Feuers, das im offenen Kamin brannte, leuchteten Julies bernsteinfarbene Augen beinahe golden und sie lächelte – weshalb, sie wusste es nicht. Sie lächelte einfach auf diesen fremden, jungen Wilden hinab, dem sie womöglich soeben das Leben gerettet hatte. Es war ihr unmöglich einzuschätzen, ob er es schaffen konnte oder nicht. Sie war kein Arzt, sie war nur ein törichtes Mädchen, das gelernt hatte, einem studierten Mediziner zu assistieren. Nie wieder, das schwor sie sich, würde sie es wagen, eine Operation auf eigene Faust durchzuführen, ganz gleich unter welchen Umständen.
„Hier!“ Geertjes leise Stimme riss sie aus den Gedanken. Noch immer starrte der junge Mann sie mit undefinierbarem Ausdruck an. Kein Zucken einer Wimper verriet, was in ihm vorging.
„Oh!“, machte Julie dankbar und tauchte ihre Hände in die Schüssel kalten Wassers. Das Blut hatte bereits zu trocknen begonnen und war nur schwer wieder abzuwaschen. Sie fühlte sich furchtbar müde und wie erschlagen. Erst jetzt fiel ihr auf, wie dunkel es durch die Regenwolken draußen geworden war.
„Du liebe Güte!“, entfuhr es ihr, als sie die Bäche von Wasser bemerkte, die vom Himmel stürzten und auf das Dach des Hauses trommelten.
„Ja“, erwiderte Geertje. „Kein besonders gutes Wetter für deinen langen Heimritt!“
Julies Blick richtete sich wieder auf den Indianer. „Wir lassen ihn noch ein wenig liegen. Ich bin sicher, er wird entweder darauf aus sein, uns den Garaus zu machen oder zu entkommen. Aber ich würde sagen, er ist zu beidem nicht in der besten Verfassung.“
„Soll ich ihm etwas zu trinken geben? Vielleicht Kaffee?“, fragte Geertje.
„Lieber nicht!“ Julie schüttelte den Kopf. „Lieber Wasser, denn ich bezweifle, dass er Kaffee jemals zu sich genommen hat.“
Bald darauf kam Torbjörn zurück, durchnässt und verdreckt. Er betrachtete den ungeladenen Gast in seinem Hause misstrauisch, während er Holz nachlegte und sich an den Kamin stellte.
Julie saß auf einem Stuhl neben dem Tisch. Sie beobachtete den jungen Indianer, der ihr von Zeit zu Zeit einen prüfenden Blick zuwarf. Seine Miene hatte sich ein wenig entspannt, die Schmerzen schienen allmählich erträglicher zu werden. Es war Julie unmöglich, ihren Blick von ihm abzuwenden. Einerseits war sie fasziniert von seinem fremdartigen Aussehen, andererseits spürte sie eine tiefe Furcht vor ihm. Sein schwarzes Haar hing lang, bis fast auf seine Hüften hinab und jetzt über den Rand des Tisches. Behutsam streckte Julie den Arm aus, um es zu berühren. Es fühlte sich fest und dick an, fast ein wenig wie der Schweif eines Pferdes. Die großen, dunklen Augen beobachteten sie genau, doch schienen sie nicht zu wissen, was sie davon halten sollten. Schnell, über ihr eigenes Verhalten entsetzt, zog Julie ihren Arm zurück und sprang auf.
„Ich glaube, es ist Zeit, dass er versucht, aufzusitzen.“ Sie wartete nicht ab, bis Torbjörn ihr zu Hilfe kam, sondern griff nach dem muskulösen Arm und zog daran. Der junge Indianer verstand. Langsam richtete er sich auf, seine Hand griff nach seinem Oberschenkel. Kein Zucken, keine Veränderung seiner Miene verriet, ob er Schmerzen verspürte oder nicht. Er schwang die Beine vom Tisch und belastete das unverletzte rechte.
Zweifelnd runzelte Torbjörn die Stirn. „Glaubst du wirklich, dass er reiten kann?“
„Er wird müssen“, erwiderte Julie leise. „Du wirst ja kaum heute Nacht ein Auge auf ihn werfen wollen!“
„Auf keinen Fall!“, rief Torbjörn prompt und beobachtete, wie der junge Indianer zur Tür humpelte, noch immer von Julie gestützt.
Einen Augenblick zögerte er, als ihm der kalte, prasselnde Regen entgegenschlug, doch dann erblickte er die beiden Pferde an dem Strauch, neben Julies Fuchs, direkt am Haus. Zwei Schritte genügten, um sie zu erreichen. Sie ließ ihn los und trat zurück. Sie musste noch immer damit rechnen, dass er Rache nahm und das ausführte, weshalb sie vermutlich hergekommen waren – nämlich, die kleine Farm zu plündern und die Stromsons zu ermorden.
Nur mit Hilfe seiner muskulösen Arme zog er sich auf den Rücken des Braunschecken, dann griff er nach den Zügeln des anderen Pferdes. Er warf einen letzten, abschätzenden Blick zurück auf die drei Weißen, die im Eingang des Hauses standen und ihn beobachteten. Er schien ihnen noch immer nicht zu trauen, denn er trieb sein Reittier sofort in Galopp und preschte mit ihm davon, den sanften Anstieg hinauf und war im nächsten Moment hinter den Bäumen verschwunden.
„Grund gütiger!“, entfuhr es Geertje und sie atmete auf. „Was für ein Tag!“
„Einer der Soldaten aus dem Fort hat mir erzählt“, sagte Torbjörn, die Augen zusammenkneifend, „dass die Bemalung des Gesichts bedeutet, dass sie sich auf dem Kriegspfad befinden.“
„Auf dem Kriegspfad?“, wiederholte Julie, während ihr ein kalter Schauer über den Rücken lief. „Um Himmels Willen! Ich muss sofort zurück zur Siedlung! Vielleicht haben sie dort auch zugeschlagen und es waren deshalb bloß zwei von ihnen hier, bei euch!“
Geistesgegenwärtig war Torbjörn ins Haus zurückgeeilt, um Julies Instrumententasche zu holen. Julies Hände zitterten, als sie diese am Sattel festknotete. Der Regen fiel noch immer in großen Tropfen auf sie herab; sie nahm es kaum wahr. Während sie einem dieser Indianer, von dem sie weder einen Namen, noch sonst etwas wusste, die Kugel entfernt hatte, war der Rest vielleicht in die Siedlung eingedrungen! Bilder, die ihr Entsetzen und ihre Panik nur noch verstärkten, erschienen vor Julies Augen. Sie konnte sich noch genau an den Brand der beiden Häuser erinnern, die durch die Pfeile der Indianer entstanden waren und sie hörte noch immer die Schüsse aus den Colts und Gewehren der Verfolger. Nie würde sie das vergessen können, niemals.
Sie winkte den Stromsons zum Abschied, ehe sie den Fuchs antrieb, der dankbar in einen runden, ausgreifenden Galopp fiel. Er stand seit über drei Stunden nun schon in der Kälte und dem Regen und er wollte nach Hause, in seinen warmen, gemütlichen Stall und zu seinem Futter.
Julie merkte kaum, wie die mittlerweile vertraute Landschaft an ihr vorbeiflog. Sicher trug der Wallach sie über Steine und Geröll, Büsche und Kaninchenlöcher hinweg ohne zu straucheln. Sie ließ ihm die Zügel lang und er suchte sich seinen Weg alleine. Er kannte ihn und sein innerer Instinkt lenkte ihn besser, als je ein Mensch dazu fähig gewesen wäre.
Hinter der nächsten Biegung des kaum sichtbaren Pfades lag die Siedlung und Julie atmete erleichtert auf, als sie alle Häuser unversehrt vor sich auftauchen sah. Sie zügelte den Fuchs und ließ ihn im langsamen Trab die Hauptstraße hinablaufen. Er schnaubte laut und keuchend und bockte ein wenig. Er schien trotz des langen, schnellen Rittes noch nicht erschöpft zu sein. Vor der Praxis von Doktor Retzner hatte sich ein Menschenauflauf gebildet und Julie kniff verwundert die Augen zusammen. Es schien ihr, als seien alle Bewohner hier zusammengekommen, sogar die Frauen und einige Kinder. Hinter den Menschen erblickte sie einige Pferde und Soldaten und in dieser Sekunde wusste sie, dass etwas geschehen sein musste.
„Juliane!“ Der Aufschrei ihrer Mutter brachte Bewegung in die Gruppe und aufgeregte Rufe und erleichtertes Geschrei schlugen ihr entgegen.
„Julie!“ Hardy war als erster bei ihr, zog sie aus dem Sattel, schüttelte sie. „Sind Sie in Ordnung? Ist Ihnen auch nichts passiert?“
Verständnislos blinzelte Julie ihn an. „Nein! Was soll mir denn passiert sein?“
Jetzt erreichten auch ihr Vater, Hugh und Nikolaus sie. Ihr kleiner Bruder umarmte sie stürmisch und presste sein Gesicht gegen ihren Bauch.
„Gott sei Dank!“ Friedrichs große, rauhe Hand fuhr ihr durch das zerzauste Haar. „Dir ist nichts geschehen!“
„Was ist denn los mit euch?“ Kopfschüttelnd blickte Julie in die Runde. Sie gab sich ahnungslos. „Ich bin doch nur zu den Stromsons hinausgeritten!“
„Die Cherokees!“, stieß Friedrich aufgeregt hervor. „Sie befinden sich auf dem Kriegspfad! Sie haben einen Siedlertreck kurz vor dem Fort überfallen und alle umgebracht, alle! Männer, Frauen und Kinder und die Tiere haben sie mitgenommen!“
„Was bin ich froh, dass dir nichts geschehen ist!“ Tränen glänzten in Luises Augen und sie streichelte kurz die Wange ihrer Tochter, eine Geste, die Julie überhaupt nicht von ihr kannte. Sie blickte in die Runde. Auch Hugh lächelte erleichtert und Nikolaus wollte sie überhaupt nicht mehr loslassen, ebensowenig wie Hardy, dessen Arm noch immer beschützend um ihre Schulter lag. Verwirrt fasste Julie sich an die Schläfen. Siedlertreck...Kriegspfad...Tote... Sie schloss die Augen. Die Erschöpfung und Aufregung der letzten Stunden war auf einmal zu viel. Sie konnte sich nicht einmal jemandem mitteilen, zumindest nicht sofort. Dabei war sie so stolz auf sich selbst auf sich und ihre Fähigkeiten!
„Sie sind ja ganz blass“, stellte Hardy auf einmal fest und dann hob er sie auch schon auf seine Arme, ehe sie überhaupt protestieren konnte. „Das muss der Schock sein! Hugh, mach’ mir die Türe auf! Ich bringe sie erstmal in die Praxis!“
Julie verspürte einen eigenartigen Schwindel und dann merkte sie nur noch, wie Doktor Retzner sie fort trug, zwischen den anderen Bewohnern ihrer Stadt hindurch und wie das Stimmengewirr über ihr zusammenschlug.
Als Julie wieder zu sich kam, war es draußen bereits finstere Nacht. Sie blinzelte, denn das schwache Licht der Petroleumlampe blendete sie im ersten Moment. Als nächstes fiel ihr Blick auf Hardy, der sich lächelnd über sie beugte und danach auf Hugh, der nur einen Schritt daneben stand.
„Na?“, fragte der Österreicher auf Deutsch und in seinem typischen, breiten Akzent. „Sind wir wieder zurückgekehrt?“
„Was...ist denn?“, fragte Julie, noch immer benommen. „Sind die Cherokees...“
„Nein, nein“, unterbrach Hardy sie beruhigend. „Sie sind mitten auf der Straße zusammengebrochen!“
„Mir geht’s gut“, versicherte Julie und wollte sich aufrichten, doch zwei Hände hielten sie zurück.
„Immer schön der Reihe nach!“ Hardy lächelte. „Erzählen Sie mir lieber, was Sie angestellt haben, dass Sie so lange weg gewesen sind! Ist mit Geertje alles in Ordnung? Sie hat das Kind doch nicht etwa verloren? Oder haben Sie bei einer Schafgeburt geholfen?“
Er hob ihre Hände hoch, damit sie sehen konnte, dass sich unter ihren Fingernägeln noch immer Blut befand. Julie verzog den Mund. Am liebsten hätte sie es vorerst für sich behalten. Sie fühlte sich viel zu müde und erschöpft, um jetzt zu berichten, was geschehen war, doch zwei Augenpaare ruhten gespannt und drängend auf ihr und sie seufzte leise.
„Nichts weiter ist passiert“, sagte sie leise, auf ihre Hände starrend. „Geertje geht es bestens.“
„Was hast du dann angestellt?“, wollte nun auch Hugh wissen und drückte ihr brüderlich den Unterarm.
Eine lange Pause entstand. Schließlich zuckte Julie die Schultern. Es hatte keinen Sinn, länger zu schweigen. Spätestens, wenn Torbjörn das nächste Mal in die Stadt kam, um im General Store Besorgungen zu erledigen, würden es alle erfahren. Diese Vorstellung war ihr unangenehm.
„Ich...ich habe einem Indianer eine Kugel entfernt“, erklärte sie leise.
„Sie haben – was?!“ Ungläubig packte Hardy sie an den Schultern. „Wissen Sie eigentlich, was Sie da reden?“
„Ja“, entgegnete Julie ernst. „Ich sage die Wahrheit. Zwei von ihnen wollten die Farm überfallen und Torbjörn hat auf sie geschossen. Der eine war gleich tot und der andere hatte einen Steckschuss im linken Oberschenkel. Ich habe ihm die Kugel herausgeschnitten und nach etwa zwei Stunden ist er auf sein Pferd gestiegen und davongeritten.“
„Gott, Julie!“ Ungläubig schüttelte Hardy den Kopf und auch Hugh musste sich mit den Händen übers Gesicht fahren. „Sie hätten tot sein können, verstehen Sie? Tot! Wenn sich diese Indianer auf dem Kriegspfad befinden, sind sie zu allem fähig! Und sie machen keinen Unterschied zwischen Mann, Frau oder Kind! Das haben Sie doch vorhin gehört!“
Tränen brannten in den bernsteinfarbenen Augen. „Aber...“, brachte sie stockend hervor. „Ich habe ihm doch bloß geholfen! Das war doch meine Pflicht! Ich konnte doch nicht zulassen, dass Torbjörn ihn erschießt!“
Zerstreut tätschelte Doktor Retzner ihr die Hand, ehe er sich durch das blonde Haar fuhr. „Nein...nein, Julie-Mädchen. Natürlich konntest du das nicht!“
Er wandte sich ab und trat ans Fenster, um hinauszustarren. Dafür setzte Hugh sich neben seine kleine Schwester und strich ihr das vom Regen zerzauste, struppige Haar aus der Stirn. Er lächelte, doch seine braunen Augen blickten besorgt. „Du bist vollkommen verrückt. Was machst du nur für Sachen?“
„Nichts“, erwiderte Julie leise und biss sich auf die Lippen. „Nichts, außer, dass ich einem Menschen vielleicht das Leben gerettet habe.“
„Er wollte euch überfallen!“ Hugh versuchte, ihr Vernunft einzubläuen, ihr begreiflich zu machen und sah sich doch außerstande dazu. „Er wollte euch umbringen! Er hätte keine Gnade gekannt!“
„Das hat Torbjörn auch gesagt.“ Julie schluckte. „Aber hätte ich ihn deswegen sterben lassen dürfen? Hätte ich das denn vor unserem Glauben, der Kirche und Gott verantworten können?“
Hugh senkte den Blick und schwieg. Er konnte darauf nichts erwidern, denn er wusste die Antwort selbst nicht. Gab es denn nicht den einen, wichtigen Grundsatz, dass alle Menschen gleich waren und damit auch die Indianer? Weshalb verfiel er nur zu gern in die Angewohnheit, sie außen vor zu lassen, sie als etwas Minderwertiges zu sehen?
Julies leise Stimme riss ihn aus den Gedanken: „Er hat doch dasselbe Recht hier zu sein, wie wir, oder etwa nicht? Eigentlich hat er sogar noch viel mehr Rechte als wir, denn das ist doch immer noch sein Land! Ihr wart doch diejenigen, die immer gesagt haben, wir hätten es uns geraubt! Hat er dann nicht jede Rechtfertigung dafür, uns fortjagen zu wollen?“
Hugh und Hardy wechselten einen langen, kritischen Blick. Sie kannten die Antwort darauf. Sie alle kannten die Wahrheit und wollten sie doch nicht aussprechen – nicht aussprechen und sie sich auch nicht eingestehen.
Die Siedlung
„Ruhe!“, brüllte Hugh aus Leibeskräften und schlug mit dem langen Zeigestock auf den einfachen Holztisch, der sein Pult darstellte. „Ruhe, habe ich gesagt! Verdammt nochmal! Ihr macht alle die doppelten Hausaufgaben, wenn ihr nicht auf der Stelle euren Mund haltet!“
Schlagartig war es mucksmäuschenstill in der winzigen Hütte, die lediglich deshalb als die hiesige Schule erkannt wurde, weil ein großes Schild über dem Eingang darauf hinwies. Ansonsten unterschied sie sich nicht von der einfachen Bauweise aller anderen Gebäude. Hugh atmete auf. Die mehr als fünfzig Kinder überforderten ihn bisweilen, denn sie merkten, dass er viel zu gutmütig war, als dass er je dazu fähig gewesen wäre, seinen Stock zur Prügelstrafe einzusetzen. Er ließ einen strengen Blick über seine Schüler gleiten, ehe er sie aufforderte: „Schlagt das Englischbuch auf! Wir machen auf Seite zweiundzwanzig weiter!“
Es gab längst nicht genug Bücher für alle und es mussten sich mindestens immer zwei Kinder ein Buch teilen. Hugh seufzte innerlich. Er war kein guter Lehrer. Er hatte nur versuchen können, das Beste aus der Situation zu machen. So hatte er die Kinder in etwa drei gleich starke Gruppen eingeteilt: Die, die noch gar nichts konnten – weder schreiben, noch lesen oder rechnen; diejenigen, die in ihrer Heimat zumindest schon einmal eine Schule besucht hatten und die größeren, die ohnehin bald zur Arbeit gehen würden, anstatt hier herumzusitzen und sich von ihm etwas sagen zu lassen.
Der Reihe nach ließ Hugh jedes von ihnen einen Satz des Textes lesen, denn es lag ihm viel daran, dass sie alle in kurzer Zeit ein perfektes Englisch beherrschten. Das war in seinen Augen das Wichtigste, wenn sie in diesem Land überleben oder es gar zu etwas bringen wollten. Sein Blick fiel auf die Turmuhr der Kirche, die schräg gegenüber auf der anderen Straßenseite stand. Die ersten Gräber waren auf der Wiese dahinter hinzugekommen. Einer der älteren Männer war an Herzversagen gestorben und zwei der Kleinkinder einer Darminfektion erlegen. Langsam schlug Hugh das Buch zu. Er würde heute fünf Minuten früher aufhören, er war heute weder in Stimmung, noch besaß er die Motivation, die unruhigen Kinder zurückzuhalten, denn die wussten natürlich instinktiv, dass es jeden Augenblick für diesmal überstanden war.