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„In Ordnung!“, sagte Hugh und hob die rechte Hand. „Ihr kennt eure Hausaufgaben! Wir sehen uns morgen und seid bitte pünktlich! Bei ein paar steht der dritte Strafpunkt wegen Zuspätkommens an und ihr wisst, was das bedeutet!“
Er brach ab. Von überall her ertönten die „Auf Wiedersehen!“-Rufe und mit lautem Geschrei stürzten die Kinder nach draußen. Hugh seufzte und verdrehte die Augen. Ja, seine lieben Schüler wussten ganz genau, was ein dritter Strafpunkt wegen Zuspätkommen bedeutete – nachsitzen. Ihm allerdings graute bei dieser Vorstellung noch viel mehr als den Kindern vermutlich. Er hasste es, sich mit ein paar einzelnen herumzuärgern, die ihm dann auch noch grollten und sowieso nichts anderes wollten als nach draußen, um mit ihren Freunden zu spielen. Selbst Nikolaus war heute gleich hinausgerannt, ohne auf ihn zu warten. Hugh schmunzelte. Nun, auch Nikolaus wurde im nächsten Jahr bereits dreizehn und er begann ganz allmählich, sich auf eigene Beine zu stellen und sich von seiner Familie abzunabeln.
Hugh packte seine Bücher und die Arbeitsblätter zusammen. Draußen pfiff ein eisiger Wind um die Häuser. Es war mittlerweile November und der erste Schnee lag, zwar dünn aber immerhin, auf der Prärie und den Bäumen.
„Grüß dich, grießgrämiges Brüderchen!“, sagte eine lachende Stimme vom Eingang her und Hugh musste nicht den Blick heben, um zu wissen, wer es war.
„Was für eine Begrüßung ist das denn? Du hörst dich schon an, wie einer dieser Herumtreiber!“ Er grinste sie überlegen an. „Heute gar nicht unterwegs?“, fragte er scheinheilig, wusste er doch, dass seine Schwester keine Gelegenheit entgehen ließ, sich in den Sattel des Fuchshengstes zu schwingen – zum Leidwesen ihrer Mutter.
„Ich war schon längst“, erwiderte Julie und kam zu ihm geschlendert, um sich auf sein Pult zu setzen. „Zuerst war ich bei den Stromsons, dann bin ich zu Miklós und seiner Frau, beide hat die Grippe erwischt und danach waren wir draußen, bei dem Siedlertreck, der vor der Stadt lagert. Hardy meint, ein paar hätten Typhus.“
„Typhus?“, wiederholte Hugh alarmiert und starrte sie an. „Pass bloß auf, dass du dich nicht ansteckst!“
„Ja, ja!“, machte Julie ungeduldig. „Wusstest du, dass sie sich bei uns niederlassen wollen?“
„Nein“, gab Hugh zurück und schloss seine Tasche. „Das einzige, was ich weiß ist, dass vorher ein paar Soldaten vom Fort aufgekreuzt sind und sich gleich mit Vater und Sheriff O’Connor zusammengesetzt haben.“
Burt O’Connor war Ire und gleich nach ihrer Ankunft zum Sheriff ernannt worden. In seiner Heimat hatte er bei der Gendarmerie gedient und schien somit prädestiniert für den Posten als Ordnungshüter. Zu tun gab es ohnehin nicht viel für ihn, abgesehen von den regelmäßigen Samstagabend-Schlägereien. Wenn im Saloon große Tanzabende veranstaltet wurden, bekamen sich immer wieder junge Männer in die Haare oder brachen mit ein paar Soldaten vom Fort einen Streit vom Zaun, die sich eingeschlichen hatten – verbotenerweise natürlich.
„Das bedeutet nichts Gutes“, entfuhr es Julie und ihre Stirn legte sich in viele kleine Falten.
Neckend zwickte Hugh sie in die Rippen. „Du kannst dich ja im Ernstfall bei Hardy verstecken! Der passt bestimmt sehr gern auf dich auf!“
„Bei Hardy?“ Verständnislos schaute Julie ihn an. „Wie kommst du ausgerechnet auf Hardy?“
„Jetzt tu’ doch nicht so unschuldig“, grinste Hugh. „Glaubst du, es wüsste nicht längst jeder in der Stadt, dass ihr ineinander verliebt seid?“
Julie lachte laut auf. Endlich begriff sie. „Verliebt? Ich und Hardy? Ha, das ist das Lustigste, was ich seit langem gehört habe! Verliebt! Ich in Hardy! So ein Unfug!“
Verdutzt hielt Hugh in seiner Bewegung inne. „Du meinst, ihr habt nicht die Absicht, irgendwann zu heiraten?“
„Heiraten?“, stieß Julie prustend hervor. „Ich will Hardy doch nicht heiraten! Er ist nett, sehr nett sogar, aber doch kein Mann, den ich heiraten würde!“
Hugh schluckte und kratzte sich verlegen an der Schläfe. Er kannte den österreichischen Arzt mittlerweile gut genug, um zu merken, dass dieser ganz andere Gefühle für seine kleine Schwester hegte, als diese offensichtlich für ihn.
„Hardy ich doch kein Mann für mich“, erklärte Julie jetzt, sehr ernst. „Er ist ein guter Freund, aber verliebt? Nein! Wieso sollte ich ihn also heiraten wollen?“
Hugh unterdrückte ein Schmunzeln. „Weißt du überhaupt, wie sich das anfühlt? Wenn man verliebt ist, meine ich?“
Ein verträumter Ausdruck legte sich auf das runde Gesicht seiner Schwester. „Ja, ich glaube schon und dabei weiß ich nicht einmal, wie er heißt. Ich bin ihm nur ein einziges Mal begegnet, aber als ich angesehen habe... Hugh, noch nie hat ein Mensch solche Gefühle in mir ausgelöst. Ganz plötzlich habe ich gewusst, dass ich mich in ihn verliebt habe. Ist das nicht eigenartig?“
„Nein“, erwiderte ihr großer Bruder. „Nein, ich glaube nicht. Es ist etwas ganz Natürliches, was jeder irgendwann einmal erfährt!“
„Ach, spielt ja keine Rolle. Wahrscheinlich werde ich ihn sowieso nie wiedersehen.“ Julie seufzte, ein wenig betrübt. Sie hatte immer wieder an ihn denken müssen in den zurückliegenden Monaten, seitdem sie hier angekommen waren. Jedesmal, wenn Soldaten vom Fort herübergekommen waren, hatte sie Ausschau gehalten, ob er mit dabei wäre, doch kein einziges Mal hatte sie ihn entdecken können. „Wahrscheinlich ist er längst woandershin versetzt worden.“
Hugh hielt verdutzt inne. „Einer der Soldaten vom Fort?“
Julie lächelte weggetreten. „Er war an dem Tag mit Captain Harbach am Tor gestanden, als wir angekommen sind.“
„Da waren ein paar Männer“, erinnerte sich Hugh sehr vage.
„Er war groß und blond und er hatte die blausten Augen, die ich jemals gesehen habe.“
Hugh lachte, ein wenig belustigt und kratzte sich am Kopf. „Du bist schon ein wenig zurückgeblieben, Schwesterchen. Du hast kein Wort mit ihm gewechselt und glaubst, in ihn verliebt zu sein! Sieh lieber zu, dass du dich in Hardy verliebst! Damit wäre uns allen geholfen!“
Julie schwieg. Sie wollte doch gar nicht Hardy lieben! Sie schreckte bei der Vorstellung zurück, mit einem Mann verheiratet zu werden, den ihr Vater als gut befand und für den sie aber nicht die nötigen Gefühle empfand. Sie wollte nicht heiraten, weil es praktisch war! Das Leben musste doch noch mehr zu bieten haben, als jemanden zu ehelichen, den ihre Eltern als recht und anständig empfanden, um danach als Hausfrau und Mutter zu enden. Es musste einfach noch mehr geben! Es konnte nicht alles im Leben einer Frau sein, bloß Mutter und Misses Sowieso zu werden!
„Lass uns nach Hause gehen“, meinte Hugh und schob sie zur Tür hinaus, wobei er sie aus ihren trostlosen Überlegungen bezüglich ihrer Zukunft riss. „Dann ziehst du dir erstmal diesen verdammten Reitrock und die Stiefel aus und kleidest dich, wie es sich für eine anständige Frau unserer Gesellschaft gehört! Und dann bekommst du Tanzstunden von mir, damit du dich unter die anderen jungen Leute mischen kannst und nicht ständig nur über irgendwelchen Büchern sitzt! Vielleicht ist ja unter den neuen Siedlern einer dabei, der dir als Ehemann taugt!“
Er hielt sie am Ellenbogen fest, als fürchtete er, sie könnte ihm entwischen. Nur widerwillig ließ Julie sich von ihm hinterdrein zerren. Ihr rebellisches Wesen schrie in ihr, dass sie sich das nicht gefallen lassen dürfe, dass sie anständig gekleidet war – jedenfalls für ihren Geschmack – und dass sie überhaupt nicht tanzen können wollte! Doch eher hätte sie sich die Zunge abgebissen als jetzt, hier auf der Straße und in aller Öffentlichkeit, einen Streit mit Hugh vom Zaun zu brechen. Sie wusste aus Erfahrung, dass er den größere Dickschädel von ihnen beiden besaß und nicht locker ließ, ehe er seinen Willen nicht durchgesetzt hatte.
Vor der Arztpraxis standen drei Pferde angebunden und an der Art ihrer Sättel und Zaumzeuge war zu erkennen, dass sie vom Fort sein mussten. Also war die Besprechung noch immer nicht beendet. Weder Hugh, noch Julie sprachen ein weiteres Wort, ehe sie bei ihrem Haus angelangt waren.
„Nein!“, schrie Doktor Retzner und schlug so heftig mit der Hand auf den Tisch, dass alle, die rundherum versammelt standen, erschrocken zurückfuhren. „Nein, nein, nein!“
„Aber Hardy!“, versuchte Friedrich ihn zu besänftigen. „Captain Harbach will doch nur unsere Sicherheit und...“
„Was Captain Harbach will“, fiel Doktor Retzner ihm wutentbrannt ins Wort, „ist, gegen ein Volk sein Gewehr erheben, das alle Rechte auf seiner Seite hat, uns von hier zu vertreiben!“
„Diese roten Teufel haben überhaupt keine Rechte, nach unserem Gesetz!“, rief Sheriff O’Connor.
Ein scharfer Blick Doktor Retzners traf ihn. „Nach dem Gesetzbuch vielleicht nicht, aber es gibt noch ein anderes Gesetz und zwar das des Christentums und der Menschlichkeit und das zählt in meinen Augen mehr als jedes andere! Selbst, wenn wir uns auf die Paragraphen der Vereinigten Staaten von Amerika berufen, befinden wir uns auf Grund und Boden den diese Regierung den Indianern zugesprochen hat!“
„Die Verhandlungen zwischen Washington und den oberen Häuptlingen wurden bereits wieder aufgenommen!“, mischte Captain Harbach sich jetzt ein. „Es gibt mehrere Anträge im Kongress, um das Land für die Besiedlung freizugeben. Im Moment ist alles jedoch in der Schwebe, obwohl ich fest davon überzeugt bin, dass es früher oder später passieren wird. Es ist nur eine Frage von Tagen, bis der große Run auf das Land beginnt. Wir können die ganzen Trecks jetzt schon nicht mehr kontrollieren, die über sämtliche Grenzen in das Territorium strömen. Im Übrigen, mein lieber Doktor: Wenn Sie solche Bedenken haben, weshalb sind Sie dann überhaupt hierher gekommen?“
„Offen gestanden frage ich mich das allmählich auch!“, stieß Hardy zornig hervor. „Dieser unselige Mensch, von dem wir hergebracht worden sind, hat uns hier sozusagen abgeliefert und sich dann mitsamt unserem Geld aus dem Staub gemacht! Wertvolle Dollars, die wir ihm nur dafür bezahlt haben, dass er uns in eine Gegend bringt, die uns nicht zusteht! Das einzige, was wir tun könnten wäre, wieder abzuziehen und diesen Raub rückgängig machen!“
„Dieses Land ist viel zu fruchtbar und wertvoll, als dass wir es einfach diesen Wilden überlassen können!“, rief Sheriff O’Connor aufgebracht.
„Ah, machen Sie sich nicht lächerlich!“, brüllte Doktor Retzner und fuhr ruckartig herum. „Macht doch alle, was ihr wollt!“
„Na, na!“ Beschwichtigend hob Captain Harbach den Arm. „Immer mit der Ruhe! Bisher haben wir nicht allzu viele Opfer der Indianerüberfälle zu beklagen. Ein paar einzelne Siedlertrecks und Farmen, aber ich kann Ihnen nicht versprechen, ob nicht Ihr Ort der nächste sein wird! Morgen früh werden ich und ein paar Männer hinausreiten, um mit dem Häuptling der Cherokees zu verhandeln. Vielleicht können wir sie davon überzeugen, ihr Kriegsbeil zu begraben und mit diesen verdammten Überfällen solange aufzuhören, bis es zu einer Einigung mit der Regierung kommt.“
„Nur verhandeln?“, fragte Friedrich und runzelte bedenklich die Stirn. „Meinen Sie, die hören auf Sie?“
Captain Harbach hängte seine Daumen am Revolvergürtel ein. „Verehrter Pastor! Die Strategie, mit der ich gegen die Indianer und ihre Überfälle vorgehe, müssen Sie schon mir überlassen! Die Regierung sieht es nunmal nicht besonders gern, wenn in unserem Gebiet ständig irgendwelche Trecks oder Kutschenkolonnen überfallen werden, denn das nächste könnte unsere Eisenbahn sein, die das Holz Richtung Norden liefert und das wollen wir keinesfalls riskieren!“ Er gab seinen beiden Soldaten einen Wink. „Und jetzt entschuldigen Sie mich, ich muss zurück zum Fort. Es gibt noch eine Menge Vorbereitungen zu treffen, bevor ich morgen aufbreche. Ich werde Ihnen ein paar meiner Männer dalassen, für alle Fälle. Ich traue dem Frieden der letzten Tage nicht. Sie wissen jetzt über alles Nötige Bescheid. Geben Sie es an die restlichen Bewohner weiter und sagen Sie diesen Greenhorns vor den ersten Häusern, sie sollen ihre Wagen gefälligst in einem Kreis aufstellen und ihre Tiere in die Mitte nehmen!“
„Ist gut! Mache ich sofort!“, versprach Sheriff O’Connor und schickte sich an, hinter dem Captain und den beiden Soldaten die Praxis zu verlassen. Nur Friedrich blieb zurück und beobachtete, wie Doktor Retzner die vier Männer mit einem finsteren Blick bedachte, als sie die Türe hinter sich zuschlugen.
Müde räkelte Nikolaus sich in seinem Bett. Die Nacht brach um diese späte Jahreszeit früh herein und ein anstrengender Nachmittag lag hinter ihm, denn er hatte Miklós im Stall geholfen, nachdem dieser mit seiner Grippe kaum aufzustehen vermochte.
„Schneit es draußen?“, fragte er seine Mutter, die die beiden Wolldecken über ihm ausbreitete.
Luise lächelte sanft und strich ihm das braune, widerspenstige Haar aus der Stirn. „Ja, es schneit ganz große, schwere Flocken!“
„Ich will hinausschauen!“, rief der Junge und wollte aufspringen, doch seine Mutter hielt ihn zurück.
„Oh nein! Du bleibst im Bett und schläfst!“ Sie lächelte und drückte ihm einen Kuss auf die Stirn. „Und wenn du morgen früh aufstehst, ist die ganze Welt weiß und sagt dir, dass der erste Advent bald vor der Tür steht!“
„Und dann kommt bald Weihnachten“, sagte Nikolaus glücklich lächelnd und gähnte laut. „Nicht wahr, Mutti? Dann ist auch bald Weihnachten?“
„Ja, mein Liebling!“ Sie drückte die Decken an allen Seiten fest, damit keine kalte Luft darunter konnte und ihr jüngster Sohn sich womöglich erkältete. „Dann ist bald Weihnachten!“
Sie nahm die Petroleumlampe vom Nachttisch und ging zur Tür. Mit einem letzten, zärtlichen Blick raunte sie ein leises „Gute Nacht!“, ehe sie das Zimmer verließ.
Der Wohnraum war mit mehreren Lampen und dem offenen Kamin hell erleuchtet. Hugh saß am Tisch, noch immer damit beschäftigt, den Unterricht für die nächsten Tage vorzubereiten und Friedrich arbeitete an seinem nächsten Gottesdienst. Luise lächelte und stellte die Lampe beiseite, auf die Kommode. Nur Julie war noch immer nicht Zuhause, sondern half wieder einmal Doktor Retzner bis spät abends in der Praxis.
Alles schien so friedlich. Sie besaßen ein eigenes Haus, das sie nach und nach mit allem würden ausstatten können, was ein Haushalt brauchte. Was wollten sie mehr? Die Auswanderung und der Entschluss, Deutschland den Rücken zu kehren, waren gut gewesen, die richtige Entscheidung. Zufrieden griff Luise nach ihrer Strickarbeit und setzte sich in den Schaukelstuhl neben dem Kamin, in dem knisternd das Feuer brannte und eine angenehme Wärme verbreitete. Heute, vor dem Schlafengehen, würde sie zweimal das Vaterunser sprechen, denn es gab wirklich nichts, worüber sie sich beschweren könnte – außer vielleicht über ihre einzige Tochter, die immer mehr zum Mann mutierte, was ihre Art, sich zu bewegen und zu kleiden anbelangte. Aber gut, auch dafür würde sich eine Lösung finden und Luise war davon überzeugt, dass der Tag nicht mehr fern sein würde, an dem Hardy Retzner und Juliane von Friedrich getraut werden würden und dann hatte sich sowieso jede unnötige Auseinandersetzung mit einem Schlag erledigt.
Der Sturm pfiff eisig und unerbittlich über das Land und um die Hausecken. Er wirbelte die Schneeflocken im teuflischen Spiel umher und ließ die Bäume gefährlich nach allen Himmelsrichtungen wippen.
„Was für ein scheußliches Wetter“, meinte Hardy, während er Holz im kleinen Bullerofen seiner Praxis nachlegte. „Sieht fast so aus, als würde es immer schlimmer!“
„Bloß gut, dass ich gleich heute Morgen zu der kleinen Farm hinter der Eisenbahnlinie geritten bin“, bemerkte Julie, während sie das nächste Medikamentenfläschchen aus der Kiste nahm, die am Vormittag mit dem Frachtzug bei der Wagoner Kreuzung angekommen war. Sorgfältig notierte sie den Namen, der auf der Flasche stand, auf einer Liste, die Doktor Retzner penibel genau führte, um zu wissen, welche Medikamente er nachbestellen musste und welche er noch auf Vorrat hatte.
„Sie sollten lieber nach Hause gehen, bevor es noch schlimmer wird“, schlug Hardy vor und trat lächelnd zu ihr. Er fand, dass sie an diesem Tag, mit den zu einem Dutt hochgesteckten Haaren, ganz besonders hübsch und bezaubernd aussah.
„Das macht nichts“, erwiderte Julie, völlig auf ihre Arbeit konzentriert. „Ich mache das hier fertig und dann gehe ich. Meine Eltern wissen ja, wo sie mich finden.“
„Ich werde Sie begleiten“, versicherte Hardy eilig.
„Oh, das ist nicht nötig“, meinte Julie, ihn kurz ansehend. „Die Indianer sind bisher ja nicht aufgetaucht.“
„Hmm“, machte Hardy nachdenklich. „Mit dem Captain schon seit zwei Tage da draußen und noch immer keine Nachricht von ihm...“
„Wahrscheinlich ist es nicht so einfach, wie er es sich vorgestellt hat“, mutmaßte Julie mit einer Schärfe, die Hardy eine Sekunde den Atem verschlug. Er betrachtete ihr Profil lange, dann überkam ihn das plötzliche, unstillbare Verlangen, sie zu berühren. Er streckte seine Hand aus und strich mit den Fingerspitzen sacht über ihren unbedeckten Hals. Sie zuckte zurück. Verwirrt starrten ihre bernsteinfarbenen Augen ihn an.
„Ist...ich meine, stimmt etwas nicht?“, fragte sie schließlich zaghaft. Dieser eigenartige Ausdruck auf Hardys kantigem Gesicht jagte ihr ein wenig Angst ein. Sie hatte ihn noch nie zuvor an ihm bemerkt und sie wusste nicht, was er zu bedeuten hatte.
„Julie...“ Hardy gab sich einen Ruck. Es war endlich an der Zeit, dass er ihr die entscheidende Frage stellte. Er besaß nun eine eigene Praxis und eine gesicherte Existenz und es gab keinen Grund mehr, weshalb er nicht um ihre Hand anhalten sollte.
„Julie“, sagte er noch einmal und ergriff ihre Hände. „Seitdem ich Sie in New York, am Hafen, zum ersten Mal gesehen habe, war mir klar, dass Sie eines Tages meine Frau werden.“
Sie schaute ihn fassungslos, überrumpelt an, schwieg jedoch, was er als Zeichen wertete, fortzufahren. „Ich glaube, die Zeit ist jetzt gekommen, da ich bei Ihrem Vater um Ihre Hand anhalte, Julie-Mädchen...natürlich nur, wenn Sie das auch möchten!“ Er lächelte und wartete auf eine Erwiderung ihrerseits. Als diese nicht kam, holte er tief Luft und stieß feierlich hervor: „Juliane Kleinfeld, möchten Sie meine Frau werden?“
Endlich brachte Julie es fertig, den Mund aufzumachen. Sie konnte einfach nicht glauben, was hier vor soeben passierte! Er wollte sie heiraten!
„Frau?“, erwiderte sie gedehnt.
„Ja, natürlich!“ Enthusiastisch schlang Hardy seine Arme um ihre Taille und zog sie fest an sich. „Spürst du das denn nicht? Merkst du denn dieses gewisse Gefühl nicht, wenn ich dich berühre, so wie jetzt?“
Er beugte sich zu ihr hinab und küsste sie stürmisch. Seine feuchten Lippen pressten sich auf die ihren. Mit aller Kraft wollte Julie sich von ihm freimachen. Sie wollte ihn nicht küssen und sie wollte auch nicht seine Frau werden! Doch die Leidenschaft, die Hardy überkommen hatte, schien ihn alles vergessen zu lassen. Er küsste und küsste sie, während seine Hände ihre Taille beinahe schmerzhaft umklammerten. Endlich ließ er atemlos von ihr ab.
„Sag“, raunte er heiser und keuchend. „Spürst du das nicht?“
Julie zögerte einen Moment. Sie wollte ihn nicht anlügen, sie war immer ehrlich zu ihm gewesen und so schüttelte sie langsam den Kopf. „Nein, ich fühle überhaupt nichts.“
Sie machte sich von ihm frei. Ihr entging die Veränderung auf seinem Gesicht nicht und es tat ihr entsetzlich leid, dass sie ihn irgendwie enttäuscht haben musste, aber es war besser, als ihn zu belügen und falsche Hoffnungen in ihm zu wecken. Niemals würde sie seine Frau werden und wenn er der letzte Mann auf Erden wäre. Sie mochte ihn sehr, er war ihr ein guter und teurer Freund geworden, aber doch kein Mann, den sie heiraten, mit dem sie Kinder haben wollte!
„Bitte...“, begann sie, doch Doktor Retzners Hand, die er hastig nach oben riss, ließ sie abbrechen.
„Sei ruhig, Julie!“, sagte er, ohne sie anzusehen. „Sei ruhig, ja? Das, was ich gehört habe, genügt.“
Mit klopfendem, schmerzendem Herzen senkte Julie den Kopf. Sie hatte ihn nicht verletzten wollen! Sie hatte ihn doch gern! Allerdings nicht auf die Art, wie er es sich gewünscht hätte. Dafür konnte sie aber doch nichts! Mit scheuem Blick beobachtete sie, wie er an seinen Schreibtisch trat, sich dahinter setzte und nach einem Heft griff. Sie wollte ihn nicht als Freund verlieren und spürte doch, dass genau dies jetzt geschehen war.
Vielleicht, dachte sie, ist eine Lüge manchmal doch besser, als die Wahrheit.
Ächzend streckte Hugh die Beine unter dem Tisch aus und schob den Weltaltlas beiseite.
„Fertig?“, fragte Friedrich, kaum von der Wochenzeitung aufsehend, die aus der Town of Kansas stammte und schon fast einen Monat alt war.
„Ja“, antwortete sein ältester Sohn und begann, die Schulunterlagen zusammenzupacken. „Jetzt kann ich ihnen morgen wieder etwas Neues erzählen!“
„Dieser Sturm!“, entfuhr es Friedrich und er horchte nach draußen. „Morgen kommen wir nicht mehr von hier raus, wenn es weiterhin so tut!“
„Sitzen wir dann im Schnee fest?“, fragte Luise mit ängstlichen Augen.
„Und wenn schon, wir müssen ja nirgendwohin“, erwiderte ihr Mann und lächelte.
„Ich glaube nicht, dass es hier so viel Schnee gibt“, warf Hugh ein und erhob sich. „Gute Nacht.“
„Gute Nacht!“, erklang es gleichzeitig aus den Mündern seiner Eltern. Hugh betrat das winzige Schlafzimmer, das er sich mit seinem kleinen Bruder teilte und schloss die Türe leise hinter sich. Es war finster und kalt. Hugh suchte nach Streichhölzern in seiner Hosentasche, damit er die Lampe neben der Tür anzünden konnte. Verblüfft hielt er inne: Nikolaus stand am Fenster und versuchte, nach draußen zu schauen.
„Was treibst du denn da? Ich denke, du schläfst schon lange!“
„Ich will die Schneeflocken beobachten“, erläuterte der Junge. „Es schneit doch, nicht wahr?“
Hugh musste grinsen. „Es ist viel zu dunkel, als dass du irgendetwas erkennen könntest und außerdem solltest du längst schlafen!“
Nikolaus seufzte betrübt. „So ein Mist! Warum muss es auch ausgerechnet immer in der Nacht schneien? Liest du mir wenigstens noch eine Geschichte vor?“
Hugh nickte. „Klar, aber erst, wenn du brav im Bett liegst!“
Nikolaus reagierte nicht. Angestrengt horchte er in die Nacht hinein.
„Was ist?“, wollte Hugh ungeduldig wissen. „Los, los! Steh hier nicht herum! Wir gehen heut nicht mehr raus, vergiss es! Und du wirst höchstens noch krank, wenn du noch länger hier Löcher in die Luft starrst“
„Hörst du das denn nicht?“, wisperte sein kleiner Bruder mit weit aufgerissenen Augen. „Und spürst du das nicht, dieses Trommeln?“
Verständnislos starrte Hugh ihn an. „Nein“, gab er zu. „Ich höre nichts und ich spüre auch nichts.“
„Pferde!“, stieß Nikolaus hervor und fuhr zu ihm herum. „Schnell galoppierende Pferde! Sie müssen ganz in der Nähe sein!“
Besorgt trat Hugh zu ihm und legte ihm die Hand auf die Stirn. „Hast du Fieber? Bist du krank? Was fantasierst du denn da? Wieso sollten mitten in der Nacht irgendwelche Pferde herumgaloppieren?“
Die Scheibe ihres einzigen Fensters zersplitterte laut und berstend und nun hörte es auch Hugh: Das Trommeln von unbeschlagenen Hufen auf dem gefrorenen Boden, begleitet von wüstem, markerschütterndem Kriegsgeschrei.
Schweigend arbeiteten Julie und Hardy nebeneinander her. Als sie die Kiste schließlich geleert und alle Medikamente in den dafür vorgesehenen Schrank einsortiert hatte, war es bereits finsterste Nacht.
„Es...es wird Zeit, dass ich nach Hause gehe“, brachte Julie zaghaft hervor und starrte auf ihre Hände. „Meine Eltern machen sich sonst noch Sorgen.“
„Natürlich!“, erwiderte Doktor Retzner geschäftig und trat an die Garderobe, um ihr in den Mantel zu helfen. „Wir sehen uns morgen?“
Ein wenig erstaunt über diese Frage hob Julie den Kopf. Sie nickte. „Natürlich!“
Ein melancholisches Lächeln bildetet sich um Hardys schmale Lippen. „Natürlich. Soll ich Sie nicht doch nach Hause begleiten, Julie-Mädchen?“
„Nein“, versicherte sie. „Wirklich nicht! Die paar Meter schaffe ich schon alleine und so hoch wird der Schnee wohl kaum liegen!“
Das Splittern von Glas erklang irgendwo von draußen und laute, gellende Schreie mischten sich beinahe gleichzeitg darunter. Alarmiert wechselten Julie und Hardy einen Blick. Gleich darauf fielen Schüsse.