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„Was ist denn da los?“ Er schob den Vorhang hinter dem einzigen Fenster zur Straße beiseite und fuhr entsetzt zurück. „Die Cherokees! Ganz viele! Mindestens zwanzig, dreißig an der Zahl! Nein, noch mehr!“
Julie schnappte nach Luft. „Um Gottes Willen! Ich muss sofort nach Hause!“
„Sie müssen überhaupt nichts!“ Unsanft packte Doktor Retzner sie an den Armen und drückte sie gegen die Wand neben dem Medikamentenschrank. „Sie bleiben hier, verdammt nochmal und wenn ich Sie festbinden muss! Ich schaue raus und sehe, ob ich irgendwie helfen kann! Aber ich warne Sie, wenn Sie es wagen, Ihre Nase nach draußen zu strecken, lege ich Sie über’s Knie!“
In dem Hinterzimmer, das er bewohnte, lag immer ein geladenes Gewehr bereit, nach dem er jetzt rannte und das er fest in seiner rechten Hand hielt, als er zur Eingangstür eilte.
„Bleiben Sie hier!“, schärfte er Julie noch einmal ein. „Ich bin bald zurück!“
Ihre großen, bernsteinfarbenen Augen spiegelten ihre Angst und das Entsetzen, doch sie nickte tapfer.
„Passen Sie auf sich auf, Hardy!“, rief sie ihm nach, als er nach einer kurzen Sekunde des Zögerns hinaushuschte in die kalte, verschneite Nacht.
In den nächsten Minuten, die Julie wie Stunden erschienen, hörte sie das wütende Geheul der Indianer von draußen und ihre Rufe in einer Sprache, die sie nicht verstand. Dann wiederum vernahm sie laute Schüsse aus Gewehren und Revolvern und sie glaubte, die Befehle eines der Soldaten aus dem Fort aus dem ganzen Lärm herauszuhören. Von irgendwoher brüllte jemand „Feuer! Feuer!“ und im nächsten Augenblick fiel ein weiterer Schuss, ganz in der Nähe.
Ein kalter Schauer jagte Julie über den Rücken. Was ging dort draußen nur vor sich? Wie sinnlos sie hier herumstand! Längst hatten die Angst und der Schrecken von ihr Besitz ergriffen. Wo blieb bloß Hardy? Sie musste nach ihm sehen!
Kurz entschlossen zog Julie den hinderlichen, bodenlangen Mantel wieder aus, warf ihn achtlos beiseite, ehe sie ihre Röcke raffte und zur Eingangstür eilte. Sie horchte mit angehaltenem Atem. Noch immer erklangen von draußen Schreie und Schüsse und ihr Verstand wusste, in was für eine Gefahr sie sich begab, aber sie konnte nicht länger nutzlos hier herumstehen! Hastig riss sie die Türe auf und mit einem Satz sprang sie hinaus, ins Freie. Unter dem Vordach der Praxis war es dunkel. Mit einem Blick erfasste sie die Situation, die sich fast am anderen Ende der Straße abspielte, denn der Schein des brennenden Saloons leuchtete weit über die Siedlung hinweg. Menschen mit Eimern rannten umher und versuchten zu retten, was noch zu retten war. Dazwischen ritten Cherokees auf ihren Pferden und Männer versuchten, sie aufzuhalten. Sie hörte das Surren von Pfeilen und Schreie von Verwundeten, doch genau erkennen konnte sie nichts. Alles schien gleichzeitig zu passieren und immer wieder krachten Schüsse, die ihr durch Mark und Bein gingen. Der Rauch der Flammen und der abgefeuerten Munition mischte sich mit dem herabfallenden Schnee und nebelte ihre Sicht ein. Sie musste husten.
Auf der Straße lagen Menschen, von denen sie nicht abschätzen konnte, ob sie noch lebten oder schon tot waren. Ihr Herz schlug laut und rasend und pochte in ihren Halsschlagadern. Was sollte sie tun? Einige Meter vor ihr kamen zwei Reiter in wildem Galopp entlang gejagt und sie erkannte, dass es Cherokees waren. Mit einem leisen Aufschrei wollte Julie sich abwenden und in die Praxis zurückstürmen, doch sie stolperte über einen Gegenstand. Hart schlugen ihre Ellenbogen auf den Holzbohlen auf. Sie achtete kaum auf den Schmerz, sondern wandte sich um. Ihr stockte der Atem.
„Hardy!“ Sie merkte nicht, dass es ihr eigener Aufschrei war, der über den Platz hallte. Auf allen Vieren krabbelte sie zu ihm hinüber. „Hardy!“
Schluchzend suchten ihre zitternden Finger nach seinem Handgelenk, nach einem Puls, einem Lebenszeichen. Er hatte die Augen geschlossen, doch als sie den langen, dünnen Pfeil entdeckte, der in seiner Brust steckte, wusste sie, dass es vergebens war. Zu oft hatte sie die Anatomiebücher durchgearbeitet. Der Pfeil hatte ihn direkt ins Herz getroffen. Am ganzen Leib zitternd wollte sie sich aufrappeln, doch da war plötzlich ein Schatten über ihr, der den Feuerschein des Saloons versperrte und sie an den Oberarmen packte und durch die Tür ins Innere der Praxis schleifte.
Völlig außer sich und nun in grenzenloser Panik, kreischte Julie auf. Sie versuchte, sich zu wehren, doch die beiden Arme waren stärker und warfen sie unsanft neben der Tür zu Boden. Schützend schlug sie die Hände über ihrem Kopf zusammen.
„Du hierbleiben!“, befahl eine tiefe Stimme in gebrochenem Englisch. Langsam wagte Julie es, den Blick zu heben. Ihr Herzschlag setzte einen Moment aus. Obwohl auf seinen Wangen die beiden weißen Striche aufgemalt waren, erkannte sie ihn. Seine schwarzen Augen blickten eindringlich zu ihr hinab und mit einem Mal hatte sie sich wieder unter Kontrolle. Er würde ihr nichts tun, das spürte sie.
„Du hierbleiben“, sagte er noch einmal und deutete auf den Boden. „Sonst du tot!“
Julie wagte kaum zu atmen und starrte ihn an. Es war dasselbe Gesicht, derselbe junge Mann, doch mit einem Mal gab es da keine bedauernswerten Gefühle mehr, die sich bei ihrer ersten Begegnung in ihr Bewusstsein gestohlen hatten. Das da, dieser junge Mann da vor ihr, war ein Wilder, ein unberechenbares Individuum, dem sie nicht länger trauen konnte. Julie biss sich auf die Lippen. Er würde sie nicht umbringen, weil sie ihm damals geholfen hatte, nur aus diesem einen Grund würde er sie verschonen.
„Du verstanden?“, fragte er jetzt, deutlich sanfter, als ihre großen, verängstigten Augen ihn noch immer sprachlos beäugten.
Julie nickte zaghaft. Sein schwarzes Haar glänzte im Licht der Lampen, die überall brannten und die Federn, die hineingebunden waren, ließen es noch dicker erscheinen, als es ohnehin bereits war. Doch ehe sie dazu kam, sich zu fragen, weshalb er immer noch regungslos dort stand und auf sie hinabstarrte, wandte er sich um und verließ die Praxis. Er schlug die Tür hinter sich ins Schloss und ließ sie alleine zurück. Schutzsuchend zog Julie ihre Knie an den Körper, legte ihren Kopf darauf und begann, haltlos zu schluchzen. Gedämpft drangen die Rufe und die Schreie, Wiehern von Pferden und weitere Schüsse zu ihr hindurch, bis schließlich eine bedrückende Stille folgte. Irgendwann hörte sie auf zu weinen. Sie lauschte und glaubte, vertraute Stimmen zu vernehmen. Ruhe schien eingekehrt zu sein, was wohl bedeutete, dass die Cherokees fort waren. Julie wusste nicht, wie lange sie dort auf dem kalten Fußboden neben der Eingangstür gekauert hatte. Ihr fröstelte, doch sie wagte nicht, aufzustehen und ihren Mantel zu holen, der halb auf dem Behandlungstisch hing, halb unten auf der Erde lag.
Schnelle Schritte erklangen auf den Holzbohlen vor dem Eingang. Sie hielten kurz inne, ehe sie näher kamen. Es waren laute, klopfende Schritte von schweren Stiefeln und Julie musste lächeln. Es war vorüber. Jemand kam, um sie zu retten. Die Tür wurde aufgestoßen.
„Julie!“ Eine ihr wohlbekannte Gestalt beugte sich über sie. „Julie! Bist du verletzt? Ist dir etwas passiert?“
Ihre rotgeweinten Augen schauten ihn an. Sie brachte ein kaum merkliches Kopfschütteln zustande.
„Mir...geht’s gut“, kam es leise über ihre Lippen. „Aber Hardy...“
„Ich weiß.“ Behutsam legte Hugh seinen linken Arm um ihre Schultern und schob den rechten unter ihre Kniekehlen. „Ich habe ihn gesehen.“
Er nahm sie hoch und sie ließ es geschehen. Er trug sie hinaus, in das Schneegestöber und die Kälte, über Hardy Retzers Leichnam hinweg und marschierte mit ihr die Straße hinab. Sie schien unter Schock zu stehen, denn sie reagierte nicht auf die besorgten Fragen ihrer Freunde und Nachbarn, an denen sie vorüber kamen.
Hugh sagte nur immer wieder: „Sie ist in Ordnung! Ihr ist nichts passiert!“ und war doch selbst kaum fähig, seine Fassung zu wahren. Immer wieder verschwamm die Straße vor seinen Augen, als er versuchte, die Tränen zurückzudrängen und sich nichts anmerken zu lassen.
Die Kälte und der Schnee, der unaufhörlich auf sie herabfiel, brachten Julie aus ihrer Lethargie in die Gegenwart zurück.
„Was...was ist passiert?“, fragte sie leise und fuhr sich mit der Hand über das blasse Gesicht.
„Die Cherokees haben uns überfallen“, antwortete Hugh leise und warf einen langen Blick zurück auf die glühenden Überreste des Saloons.
„Ich weiß“, entgegnete Julie. „Deshalb habe ich überlebt...weil es die Cherokees gewesen sind.“
Hugh verstand sie nicht, doch er hatte jetzt keinen Nerv, sie danach zu fragen, was ihre geheimnisvolle Aussage zu bedeuten hatte.
„Lass mich runter“, bat Julie, doch Hugh achtete nicht darauf. Er würde kein Risiko eingehen. Es war besser, wenn er sie jetzt nicht auf ihre eigenen Beine stellte. Vor ihrem Wohnhaus standen Miklós und seine Frau. Beide weinten leise und als sie Hugh mit Julie jetzt erblickten, bekreuzigten sie sich.
„Mädchen! Oh, Gott sei Dank!“, rief der Ungar und wischte sich die feuchten Wangen trocken. „Du lebst!“
Julie versuchte ein Lächeln, das nicht recht gelingen wollte. „Ja, ich bin in Ordnung!“
„Hardy nicht.“ Hugh deutete die Straße hinab und Miklós nickte begreifend.
Äußerlich war ihr nichts geschehen, sie war unverletzt, doch der Schock und die entsetzlichen Geschehnisse pressten ihr Herz zusammen. Nur ganz allmählich fühlte sie sich ein wenig besser. Der Nebel lichtete sich. Jetzt trug Hugh sie zur Tür hinein, in den schwach beleuchteten Wohnraum. Sie hörte ihr Mutter weinen, von irgendwoher weinen und konnte sie doch nicht entdecken.
Sehr vorsichtig setzte Hugh seine kleine Schwester ab, fasste sie jedoch sogleich an den Oberarmen. Das Schluchzen kam aus der angelehnten Tür zum Jungenschlafzimmer.
„Ihr seid nicht verletzt?“, fragte Julie hastig. „Euch ist doch nichts geschehen?“
Zu ihrem Entsetzen antwortete ihr großer Bruder nicht. Seine braunen Augen starrten sie leer an und auf einmal spiegelten sich Tränen darin. Ein Schauer jagte Julie über den Rücken. „Nein!“
Mit einem Ruck machte sie sich aus Hughs Umklammerung frei. Sie lief zur Schlafzimmertür, stieß sie auf. Dort standen ihre Eltern, neben dem Bett von Nikolaus. Stützend krallte Julie sich am Türrahmen fest. Ihre Knie drohten, unter ihr nachzugeben.
„Nein“, flüsterte sie und biss sich auf die Lippen. Tränen schossen ihr in die Augen und da fühlte sie, wie Hugh seinen Arm um ihre Taille legte und sie langsam bis ans Bett geleitete. Durch den Schleier nahm Julie kaum wahr, was sie dort vor sich erblickte. Nikolaus, ihr kleiner Bruder, der ihr so unendlich viel bedeutete! Es schien, als schliefe er nur. Seine Augen waren geschlossen und seine Hände über seinem Körper gefaltet. Julie blinzelte. Die Farbe seines Gesichts war blass und Julie wusste, dass sie ihm nicht mehr helfen konnte, niemand konnte das.
„Ein Indianerpfeil“, flüsterte Hugh ihr von hinten leise ins Ohr, sodass nur sie es hören konnte. „Er ist durch die Fensterscheibe gedrungen und hat ihn genau getroffen. Er hat nicht gelitten.“
Seine Stimme brach ab und ein leises Schluchzen drang aus seiner Kehle. Julie fand keine Worte, sie fühlte sich entsetzlich hilflos und geschunden. Ihr kleiner Bruder war tot! Noch nach dem Abendessen hatte sie sich von ihm verabschiedet und er hatte gelacht und ihr versprochen, etwas vom Nachtisch für sie übrigzulassen. Bei der Erinnerung war Julie nicht länger fähig, sich unter Kontrolle zu halten. Sie warf sich herum, klammerte sich an ihren großen Bruder, der sie um einen ganzen Kopf überragte und weinte unkontrolliert. Sie merkte kaum, wie Hughs Arme sich um sie schlangen und fest an sich pressten, wie er sein Gesicht in ihrem Haar vergrub und seine Tränen hineintropften und es feucht werden ließen. Sie standen und hielten sich und wussten doch beide, dass ihr Leben nie mehr so sein würde wie zuvor.
Sie beerdigten die Toten am anderen Morgen auf dem Friedhof neben der Kirche. Friedrich war kaum fähig, die Gebete zu sprechen, doch er tat es mit mühevoller Würde und leisen, wenigen Worten. Zuerst kam Miss Tryon, eine junge Engländerin an der Reihe, die ein Zimmer in der zerstörten Pension gemietet hatte und nicht mehr rechtzeitig aus dem brennenden Gebäude herausgekommen war. Danach musste er zwei junge Männer begraben, die zu dem Siedlertreck gehört hatten, der noch immer vor der Stadt kampierte und dort auch den Winter verbringen wollte, um im Frühjahr Häuser zu bauen. Sie hatten versucht, ihre Wagen zu verteidigen und dabei unvorsichtig gehandelt. Das nächste Opfer war Penny, ein sechzehnjähriges Mädchen. Daneben stand der Sarg von Doktor Hardy Retzner und schließlich der von Nikolaus Kleinfeld, dem jüngsten Opfer des Überfalls.
Die komplette Stadt, einschließlich des Trecks, war zur Trauerfeier erschienen und füllte den Friedhof. Sie hatten Glück im Unglück gehabt und die meisten ihrer Wagen zeigten keine Beschädigungen. Die Männer, die die Löcher für die Gräber hatten ausheben müssen, standen einige Meter daneben und es war ihnen anzusehen, welche Schwerstarbeit sie verrichtet hatten. Der Boden war gefroren und jede Schaufel Erde eine Qual. Später war es ihre Aufgabe, die Gräber wieder zuzuschütten und sie mit einfachen Holzkreuzen zu versehen.
Nach der Trauerfeier wurde von allen Seiten großes Beileid bekundet, was Luise kaum zu ertragen vermochte. Friedrich stützte sie an den Oberarmen und gab sich alle Mühe, die Fassung zu wahren. Noch während sie herumstanden, begannen die Männer, die Gräber wieder zuzuschütten, denn der Himmel versprach neuen Schnee und deshalb mussten sie sich beeilen. Die gefrorenen, harten Erdklumpen schlugen auf den einfachen Holzsärgen auf und erzeugten ein dumpfes, gespenstisches Klopfen.
Die Trauergemeinde löste sich auf, jeder ging zurück zu seinem Haus oder zu den Wagen vor der Stadt. Friedrich hielt seinen Arm schützend um seine Frau gelegt, während sie die Straße hinab, nach Hause gingen.
Julie half ihrer Mutter schweigend bei der Zubereitung des Trauerschmauses und sie war froh, dass es hier nicht mehr üblich war, alle Nachbarn dazu einzuladen. So konnte jeder von ihnen still seinen Gedanken nachhängen und sich seiner Trostlosigkeit hingeben.
Julie war sich nicht schlüssig, für wen der Schmerz des Verlustes größer war: Für ihren kleinen Bruder oder für Hardy Retzner. Sie fehlten ihr beide entsetzlich und die Erkenntnis, dass sie beide niemals wiedersehen würde, zerriss ihr das Herz. Genauso schlimm empfand sie jedoch diese bedrückende Stille, die über ihrem Haus lastete. Friedrich saß im Schaukelstuhl vor dem Kamin, in dem das Feuer knisterte und las in der Bibel. Hugh hatte sich in sein Schlafzimmer zurückgezogen und sie stand mit ihrer Mutter in der angrenzenden Küche und versuchte so zu tun, als würde alles wieder irgendwie in Ordnung kommen.
Julie verspürte den starken Drang, darüber zu sprechen, was geschehen war. Sie wollte, dass sie sich alle gemeinsam an die schönen Zeiten erinnerten, die sie miteinander gehabt hatten. Nikolaus’ vorlauten und doch häufig so weisen Sprüche, sein Temperament und seine wilden Phantasien. Sie erinnerte sich, wie er einmal im Frühjahr, als Kleinkind, in den Bach hinter dem Häuschen gesprungen war, das sie in Deutschland bewohnt hatten. Er hatte „Ente“ spielen wollen, wie er ihnen später erklärte und dabei war er stundenlang unbemerkt in dem niedrigen Rinnsal hin und her gepaddelt. Im Winter desselben Jahres hatte er sich auch die Lungenentzündung zugezogen, die seine Gesundheit auf ewig geschwächt und anfällig gemacht hatte.
Julie schluckte. Sie konnte nicht daran zurückdenken. Es war zu früh, für sie alle. Sie konnten noch nicht darüber sprechen, wie dankbar sie dafür sein mussten, dass Nikolaus sie – wenn auch für eine viel zu kurze Zeit – ein Stück des Weges begleitet hatte. Irgendwann würde es wieder in Ordnung kommen, denn sie mussten ihr Leben weiterführen, auch ohne ihn. Sie würden so tun, als ginge es weiter wie bisher, auch wenn es niemals wieder so sein würde und ganz gleich, wie sehr ihr Herz sich danach sehnte, dass die Vergangenheit zurückkehrte. Sie würden sich ablenken mit neuen Aufgaben und Zielen, um den Schmerz weit fernhalten zu können und wenn sie es lange genug durchhielten, dann würden sie es irgendwann akzeptieren können.
Der Überfall
Die ersten Schneeflocken fielen wieder vom Himmel als der Trupp der Kavallerie sich langsam in Bewegung setzte. Die beiden Soldaten vor dem Tor zum Fort hoben salutierend ihre Gewehre und warteten, bis Captain Harbach mit der zwanzig Mann starken Truppe hinausgeritten war und den Weg in Richtung Stadt hinab verschwand.
„Sergeant!“, brüllte er auf einmal und ein Reiter löste sich aus der Gruppe.
„Ja, Sir?“ Der junge Mann ließ seinen Dunkelbraunen mit dem Hengst des Captains Schritt halten.
„Wir werden als erstes den Sheriff aufsuchen und ihn grob über unser weiteres Vorgehen unterrichten. Nur für den Fall, dass er unsere Hilfe bräuchte. Ich hoffe aber nicht, dass das in nächster Zeit der Fall sein wird.“
„Ja, Sir.“
„Währenddessen können Sie nach unseren vier Soldaten sehen und prüfen, wie es ihnen geht! Verstanden?“
„Jawohl, Sir!“ Der junge Mann hielt sein Pferd noch immer neben dem des Captains.
„Irgendwelche Fragen, Sergeant? Irgendwelche Unklarheiten?“, fragte Captain Harbach mit deutlich unwilligem Unterton.
„Nun, Sir...Captain...“, begann der junge Mann zögernd und merkte gleich darauf, dass er besser den Mund gehalten hätte. „Ich will Ihre Fähigkeiten und Ihre Entscheidungen wirklich nicht in Frage stellen und kritisieren, Sir, aber...“
„Aber was, Sergeant?“, fiel der Captain ihm scharf ins Wort.
Der junge Mann schluckte. „Nun, Sir...meiner Ansicht nach machen Sie das Problem mit den Cherokees nur schlimmer anstatt besser, wenn Sie jetzt hinausreiten, um wieder irgendwelche Verhandlungen anzustiften und am Ende vielleicht Rache zu üben und...“
„Ihre Ansichten sind mir schnuppe!“, brüllte der Captain ihn ungehalten an. „Für wen halten Sie sich eigentlich, Sie...Sie...zweitrangiger Klugscheißer, Sie! Wofür, glauben Sie, habe ich wohl die Verstärkung bekommen? Damit sie sich in den Quartieren einen Urlaub gönnt, oder was?“
„Nein, Sir...“, brachte der junge Sergeant mit einer gehörigen Portion Mut hervor.
„Ist Ihnen entgangen, dass ich bereits vor ein paar Wochen versucht habe, eine friedliche Lösung mit den Rothäuten zu finden? Wie Sie aber jetzt feststellen müssen, offensichtlich ohne Resultat?“
„Nein, Sir!“
„Sehr spitzfindig!“, schnauzte der Captain ihn an und gab ihm mit der Hand einen Wink. „Wissen Sie was, Sergeant? Sie werden nicht mit uns reiten! Sie werden die ehrenvolle Aufgabe übernehmen und in der Siedlung für Recht und Ordnung sorgen und sich um den Treck vor der Stadt kümmern! Die sollen schon anfangen mit ihren Häusern! Ist doch egal, wie weit sie damit kommen! Solange noch keine geschlossene Schneedecke liegt, können Sie was tun! In dieser Wagenburg ist es viel zu gefährlich mit den Streifzügen unserer roten Freunde. Dort werden Sie dann auch bleiben, bis ich mit den Männern wieder zurück bin, vielleicht sogar, bis die Häuser fertig sind! Habe ich mich klar und deutlich ausgedrückt?“
„Jawohl, Sir!“, stieß der junge Mann hervor und zügelte sein Pferd, um es wieder mit den restlichen Soldaten in Zweierreihen laufen zu lassen.
Langsam wanderte Julie die Straße hinab. Sie hatte es im Haus ihrer Eltern nicht länger ausgehalten. Dieses Schweigen während der ganzen Mahlzeiten, die zwanghafte Ruhe und die andauernden, verstohlenen Blicke aller auf den leeren Stuhl – sie hatte es einfach nicht länger ertragen können. Hugh war mit rotgeweinten Augen aus seinem Schlafzimmer gekommen, das er jetzt alleine bewohnte und hatte sich still an den Tisch gesetzt.
Irgendwann war sie einfach gegangen – ohne ein Wort und ohne sich zu verabschieden. Vielleicht hatten sie auch alle geglaubt, sie wolle noch einmal hinüber zu den Gräbern sehen, die inzwischen zugeschüttet waren. Eine merkwürdige Ruhe lag über der Stadt, als hätten die Beerdigungen sie in eine Art Starre versetzt.
Julie trat unter den Vorbau der Arztpraxis – die Tür war unverschlossen. Im Inneren war es kalt, denn der Bullerofen war längst ausgegangen. Ihr schauderte und sie beschloss, Feuer zu machen, als wäre er noch immer hier, als würde sie ihm noch immer bei seiner Arbeit assistieren. Bald schon verbreitete der Ofen eine angenehme Wärme. Julie zündete die Lampe auf dem Schreibtisch an und setzte sich. Dort, in der obersten Schublade, hatte Hardy penibel genau, wie es seine Art gewesen war, eine Patientenkartei angelegt. Auf jeder Seite des Heftes stand ein anderer Name in der obersten Zeile.
Behutsam nahm Julie das Heft heraus und schlug es auf. Sie las die auf Deutsch verfassten Befunde und Behandlungen und mit jedem Buchstaben wurde ihr schwerer ums Herz. Hätte sie doch nur geahnt was geschehen würde, dann hätte sie ihn schamlos angelogen, ihm vorgemacht, dass er ihr mehr bedeutet hätte als nur ein guter Freund! Dann würde sie jetzt nicht das schlechte Gewissen plagen und die Gewissheit, dass sie ihm noch kurz vor seinem Tod so weh getan hatte – sie hatte ihm einen Traum gestohlen.
Erschöpft legte Julie ihren Kopf in die Hände. Sie wollte weinen, doch sie konnte nicht. Ihre Tränen waren versiegt, sie fühlte sich zu leer und ausgelaugt. Julie wusste nicht, wie lange sie dort, auf Hardys Stuhl hinter seinem Schreibtisch gesessen hatte. Das laute, plötzliche Aufschlagen der Eingangstür riss sie hoch – zwei Soldaten standen in der Tür. Der eine war ihr bekannt – er war von Captain Harbach mit drei anderen in der Siedlung untergebracht worden und auch vergangene Nacht hier gewesen, um ihnen zur Seite zu stehen. Jetzt trug er seinen Arm in einer Schlinge.
Der andere jedoch... Julie starrte ihn fassungslos an. Das konnte doch nicht möglich sein! Ihr Herz begann wie verrückt zu rasen und sie fürchtete, gleich ohnmächtig zu werden. Jetzt, da er so nah bei ihr stand, anstatt einige Meter entfernt, wie am Tag ihrer Ankunft in Fort Gibson, konnte sie erst erkennen, wie ungewöhnlich groß und schlank er war. Unter dem breiten, dunklen Hut schaute sein hellblondes Haar hervor und seine blauen Augen betrachteten sie abschätzend. Sein auffallend attraktives Gesicht zeigte ein feines Lächeln, das ihr Herz tief in seinem Innersten berührte. Sie konnte nicht anders, sie erwiderte das Lächeln.
„Guten Tag, Miss!“, sagte er nun und seine Stimme klang warm und herzlich, wie es zu seiner ganzen Erscheinung passte. „Können Sie Amos vielleicht den Arm verbinden?“
„Wir...wir haben keinen Doktor mehr“, erklärte Julie leise und trat langsam hinter dem Schreibtisch hervor. Sie musste sich zwingen, ihren Blick von dem großen, schlanken Mann abzuwenden.
„Ich weiß“, entgegnete dieser mitfühlend und nahm seinen Hut ab. „Es tut mir sehr leid. Gestatten Sie trotzdem, dass ich mich vorstelle? Sergeant Ron McVeagh.“
„Freut mich, Sergeant.“ Langsam trat Julie zu ihm und deutete auf den Behandlungstisch. Sie warf einen kurzen Blick auf das blasse Gesicht des anderen Soldaten. „Bitte setzen Sie sich. Was ist denn passiert?“
„Ach, ist nicht weiter schlimm“, meinte dieser, wurde jedoch von seinem Sergeant durch den Raum geschoben. „Ist letzte Nacht passiert, als ich versucht habe, das arme Mädchen noch aus dem Haus zu retten.“
Julie fiel nicht sofort eine passende Antwort ein. Schließlich fragte sie: „Wieso sind Sie denn überhaupt noch hier? Ihr Arzt im Fort könnte Ihnen viel besser helfen als ich!“
Die beiden Männer wechselten einen schnellen Blick. „Der Doktor ist zur Zeit nicht dort“, entgegnete Ron McVeagh, seinen Hut in den Händen drehend. Er beobachtete, wie Julie behutsam den Verband und die Schlinge vom rechten Arm des Soldaten löste. Er fand, dass er nichts Unrechtes tat, wenn er ihr die Wahrheit erzählte. „Er ist mit Captain Harbach und der Verstärkung zu den Cherokees geritten.“
Julie zog die Brauen hoch und starrte ihn eine Sekunde eindringlich an. „Zu den Cherokees? Wegen vergangener Nacht?“
Der Sergeant zögerte einen Augenblick. Er fuhr sich durch das blonde Haar und nickte dann. „Ja, genau deshalb.“
„Aha“, machte Julie gedehnt und überlegte. „Was hat er dort vor? Einen Krieg beginnen?“