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„Immer mit der Ruhe!“, entschied Friedrich energisch, als seine drei Kinder ebenfalls aufgeregt davonrennen wollten. „Wir kommen genauso schnell an, wenn ihr hier bleibt!“
„Aber...wenn wir nicht gleich gehen, bekommen wir keinen Platz mehr, an dem wir etwas sehen können!“, rief Juliane und trat nervös auf der Stelle.
„Also, wirklich!“, entrüstete sich Luise und schüttelte missbilligend den Kopf, während sie sich ihr Cape umlegte. „Wir kommen noch früh genug nach oben!“
Endlich, für Nikolaus und Juliane kaum abzuwartende, zehn Minuten später führte auch ihr Weg hinauf aufs Deck. Unten, in den Korridoren und den Kabinen herrschte erregte Aufbruchstimmung.
Sie hatten nicht den Schimmer einer Ahnung, dass sie nicht sofort in Castle Garden, an der Spitze von Manhattens Insel würden anlegen dürfen. Dort befand sich die Anlegestelle für alle Immigranten. Zuerst würde ein offizieller Gesundheitsinspektor erscheinen und alle Anwesenden an Bord kurz nach irgendwelchen Anzeichen von ansteckenden Krankheiten wie Pocken, Typhus oder Cholera untersuchen. Danach würde er sich die Unterlagen der Todesfälle an Bord zeigen lassen. Wenn alles in Ordnung wäre, würde er ihnen die Erlaubnis geben, zum Zielhafen weiterzufahren, andernfalls würde das komplette Schiff erst einmal unter Quarantäne gestellt.
All diese organisatorischen Vorgänge waren den meisten Einwanderern völlig unbekannt, während sie sich wild und aufgeregt an Deck drängten. Alle wollten sie nur endlich einen ersten Blick auf Amerika erhaschen. Es herrschte dichtes Gedränge und eine Art Festtagsstimmung schien ausgebrochen zu sein. Ein paar Flaschen Wein wurden herumgereicht, einige junge, wohl bereits angetrunkene Männer sangen deutsche Volkslieder und Hubert beschloss, an einem der Stützseile der Schornsteine ein Stück hinauf zu klettern.
„Was soll denn das?“, brüllte Friedrich gegen das Stimmengewirr und den Lärm zu ihm hinauf. „Komm sofort wieder herunter!“
„Aber wieso denn?“, schrie Hubert zurück. „Von hier oben sehe ich viel mehr!“
Und er blieb, wo er war. Er konnte nicht verhindern, dass sein Herz mit jeder Minute schneller und stärker in ihm zu schlagen begann. Seine Augen hingen an den Fluten des Meeres, durch das sich der Dampfer schob und zwischen denen in absehbarer Zeit Amerika vor ihnen auftauchen musste. Hubert bekam nicht mit, was unter ihm herum geschah. Er bemerkte weder, dass Nikolaus sich ein Stück weit nach oben zu ihm getraute, noch, wie Juliane sich sanft und doch bestimmt soweit bis zur Reling nach vorn drängte, dass sie etwas sehen konnte.
„Da!“, brüllte plötzlich jemand hinter ihm und er kniff die Augen zusammen. „Land in Sicht!“
Wildes Geschrei und Jubelstürme brachen los und jetzt entdeckte auch Hubert, wie sich vor ihnen dunkle Schatten zu erheben begannen. Sie waren am Ziel und auf einmal ging alles sehr schnell. In kürzester Zeit hatten sie das Festland erreicht und der Dampfer drosselte sein Tempo merklich.
Nachdem der Gesundheitsinspektor sie für einwanderungsfähig befunden hatte, fuhren sie zunächst in gemäßigtem Tempo weiter nach Castle Garden, wo die „Elbe“ endlich Anker legte. Ein letztes Mal stieß sie ihren dumpfen, langgezogenen Pfiff aus, der zum Ende hin schrill anschwoll, dann drängten sich die Passagiere zu den Ausgängen. Sie wollten hinaus, in die kühle, windige Frühjahrsluft, die über die Insel und die Hafenanlage strich. Hinaus in das fremde, unbekannte und unvorstellbar große Land, das sie von nun an ihr Zuhause nennen würden.
In Lastkähnen und Schleppern wurden die Einwanderer vom Dampfer zum Castle Garden Anlegesteg gebracht, wo erneut einige Sanitätsoffiziere auf sie warteten und sich vergewisserten, dass sich tatsächlich keine kranken Passagiere unter ihnen befanden. Nach dieser Untersuchung und der Prüfung ihres Gepäcks, das erneut in einem separaten Raum verstaut wurde, betraten sie das runde Gebäude mit dem mächtigen Glasdom auf der Kuppel durch einen langen Gang. Sie fanden sich im Zentrum des Rundbaus wieder, wo sie sich in Reih und Glied in unterschiedlichen Abteilungen anstellen mussten, je nachdem, ob jemand der englischen Sprache mächtig war oder nicht.
„Verflixt und zugenäht!“, fluchte Juliane unbeabsichtigt und verdrehte die Augen, bevor sie sich auf eine der Holzbänke fallen ließ. „Das kann ja Stunden dauern!“ Sie beobachtete die anderen Passagiere, die ebenfalls mit ihrem Schiff angekommen waren und sich kontinuierlich durch die Türe in das Gebäude schoben und drängten.
„Juliane!“ Der empörte Aufschrei ihrer Mutter ließ sie zusammenzucken. „Wirst du wohl aufhören, dich wie ein Zigeuner zu benehmen?!“
„Ja, Mutter!“ Mit einem leisen Ächzen folgte das Mädchen ihrer Familie hinunter zu den zirkelähnlich angeordneten Schreibtischen, wo ein ganzes Dutzend Männer damit beschäftigt war, die Registrierungen der Neuankömmlinge vorzunehmen.
„Das ist...einfach überwältigend“, bemerkte Hubert nach einer ganzen Weile, in der er nichts anderes tat, als die riesige Halle genau in Augenschein zu nehmen. Balkone waren rundherum an den Wänden errichtet worden und der majestätische Dom aus Glas über ihnen erhellte das komplette Innere des Gebäues.
„Wann gehen wir denn jetzt?“, wollte Nikolaus ungeduldig wissen, während er permanent herumhüpfte und ständig in irgendwelche anderen Menschen hinein rempelte. „Gehen wir jetzt auch bald raus?“
„Ja, gleich!“ Sein Vater legte ihm seine Hände auf die Schultern und hoffte inständig, der Junge würde jetzt endlich still sein, nachdem er ihm ohnehin keine Antwort auf seine ständige Fragerei geben konnte.
Hunderte von Personen hielten sich in dem Rundbau auf, warteten, genau wie sie und bei Einbruch der Dunkelheit waren sie zwar endlich registriert, allerdings immer noch ohne Erlaubnis, das Gebäude zu verlassen.
„Amerika“, grinste Hubert sarkastisch, während er auf eine der Holzbänke sank und hinter vorgehaltener Hand ein Gähnen versteckte. „Wir sind da!“
„Was sollen wir denn jetzt tun?“, jammerte Luise und setzte sich neben ihren Sohn. „Wir haben die letzten paar Tage auf diesem schrecklichen, schaukelnden Dampfer verbracht und ich würde mir wirklich nichts mehr wünschen, als ein Bett und ein warmes Bad. Einfach nur das, sonst nichts.“ Hoffnungsvoll blickte sie zu ihrem Ehemann hinauf. „Können wir es uns nicht leisten, zumindest für eine Nacht, in einer Pension oder etwas ähnlichem zu bleiben?“
Friedrich runzelte die Stirn. „Das können wir gerne machen, obwohl ich gehofft habe, wir könnten das Geld für unsere Reise westwärts sparen.“
„Du kannst doch nicht ernsthaft vorhaben, heute Nacht noch ein Ticket für die Eisenbahn zu kaufen?“ Seine Frau schnappte nach Luft.
„Nein, nein“, versicherte er hastig. „Ich habe nur laut nachgedacht...“
Einer der führenden Offiziere der Einwanderungsbehörde betrat nun den Rundbau und informierte die versammelten Menschen, dass sie die Nacht hierbleiben dürften, sollten sie nicht anderweitig schon von Verwandten erwartet werden oder bereits eine Unterkunft haben. Ebenso wäre es ihnen gestattet, gleich die Weiterreise anzutreten, ob nach Westen, Osten, Nord oder Süd, wie auch Geld zu wechseln oder sich mit Freunden und Verwandten in Verbindung zu setzen.
Juliane konnte nur müde lächeln – sie verstand nicht die Hälfte dessen, was der Mann ihnen gerade erklärt hatte und sie spürte noch nicht einmal mehr das Heimweh, das sie während der Reise gequält hatte. Osten oder Westen, Zuhause ist’s am besten, dachte sie und schloss ihre Lider für einige Sekunden.
„Ich habe Hunger“, verkündete Nikolaus.
„Ich auch!“, schloss Juliane sich an, was ihr einen strengen, rügenden Blick ihrer Mutter einbrachte. Eilig senkte das junge Mädchen den Blick. Weshalb konnte sie eigentlich nicht einmal den Mund halten, wenn sie doch schon vorher ahnte, dass es falsch war, was sie sagen wollte? Wieso konnte sie nicht einmal an der richtigen Stelle still sein, wenn es alles andere als damenhaft war, wie sie sich gab und wenn ihr das auch noch von vorn herein bewusst war?
Friedrich fand den Inhaber einer Pension, dem es gestattet war, in dem Rundbau der Einwanderungsbehörde Werbung für seine Unterkunft zu machen, was bedeutete, dass er von der Stadt lizenziert war und ein Zertifikat besaß, welches ihm Vertrauenswürdigkeit ausstellte. So gingen sie hinüber zur Gepäckabfertigung und erhielten endlich ihre Taschen und Koffer. Danach wurde ihnen gestattet, Castle Garden zu verlassen und sie traten ihren Weg an durch die nächtlichen, aber erleuchteten Straßen New Yorks. Juliane schlurfte müde und erschöpft hinter ihren Eltern und Brüdern her, entlang einer breiten Straße, als plötzlich eine Stimme hinter ihr erklang: „Ah, geh! Das kann ja jetzt nicht wahr sein!“
Ein lachender Mann, den sie nie zuvor gesehen hatte, klein gebaut und nicht viel größer als sie selbst, mit blondem Haar und unzähligen Lächfältchen um die Augen und Mundwinkel, trat zu ihnen.
„Was für eine Überraschung! Der Pastor und seine Familie! Sagen’s jetzt nicht, Sie steuern dieselbe Pension an wie ich!“
Friedrich starrte ihn für eine Minute verdutzt an, dann fiel es ihm wieder ein: „Ach, ja! Sie sind der Doktor, der sich um den verletzten Seemann gekümmert hat!“
„Retzner“, stellte der Österreicher sich mit breitem Akzent vor und lächelte in die Runde. „Doktor Burkhard Retzner, aber bitte, lassen wir die Förmlichkeiten! Daheim nennt mich jeder bloß Hardy, also, seien Sie so frei und reden Sie mich auch so an. Dieses ganze Doktor-Getue hilft einem hier nicht wirklich weiter, im Gegenteil! Andauernd kommen dann die Leute gerannt und wollen etwas von einem!“
Er zwinkerte verschmitzt, wobei seine grünen Augen auffallend lange an Juliane hängenblieben, die ihn unverhohlen und neugierig musterte. Er wirkte sehr sympathisch und vertrauenerweckend, auch wenn er gut doppelt so alt sein mochte wie sie selbst. Seine fröhliche, humorvolle Art gefiel ihr. Sein schmales Gesicht mit der etwas schiefen Nase verzog sich zu einem Lächeln, was ihn sehr charmant aussehen ließ und sie lächelte zurück.
Friedrich räusperte sich. „Nun, wo haben Sie denn vor, die Nacht zu verbringen?“
Burkhard Retzner warf einen kurzen Blick auf das Stück Papier in seiner Hand. „Sunnyside Boarding House“, las er vor.
„Oh, wenn das kein Zufall ist!“, mischte Hubert sich nun mit einem Zwinkern ein. „Wir hatten auch vor, dort zu übernachten!“
„Warum begleiten Sie uns nicht einfach?“, schlug Friedrich vor und gab dem Doktor einen Wink, sich ihnen anzuschließen. „Wohin soll die Reise für Sie denn gehen? Wissen Sie das schon?“
„Westwärts“, erwiderte der Österreicher geradeheraus.
„Westwärts?“, wiederholte Friedrich und seine braunen Augen begannen zu leuchten. „Eine großartige Idee! Genau dasselbe hatte ich auch schon im Kopf, gleich von Anfang an! Kommen Sie, kommen Sie! Wir müssen unsere Unterkunft finden und morgen früh werden wir über die weiteren Vorbereitungen sprechen, wir beide, meine ich.“
Es dauerte noch fast eine halbe Stunde, bis sie „Klein-Deutschland“ erreichten. Klein-Deutschland war nichts anderes, als ein Stadtgebiet inmitten des riesigen New York, mit dem Unterschied, dass dort ausschließlich deutsche und deutschsprachige Auswanderer lebten. Sie fanden in der besagten kleinen Pension ein Zimmer, wo sie vorerst bleiben konnten.
„Du lieber Himmel!“, sagte Luise und starrte mit offenem Mund auf den engen Raum und den überfüllten Flur im oberen Stockwerk. Dieselbe Idee hatten andere Einwanderer vor ihnen auch schon gehabt und tummelten sich nun bis zur völligen Auslastung unter dem Dach des geschäftstüchtigen Pensionsbetreibers. „Schon wieder so viele fremde Leute auf einem Haufen!“
„Keine Angst“, beruhigte Friedrich sie. „Ich bin sicher, wir werden nicht lange hier bleiben.“
Er ahnte nicht, wie recht er mit dieser Aussage behalten sollte, die er eigentlich nicht ernst gemeint, geschweige denn groß überdacht hatte! Das einzige, worauf er abzielte war, seine Frau davon zu überzeugen, dass sie sich keine Sorgen zu machen brauchte.
Nikolaus gähnte. „Wann krieg’ ich endlich was zu essen?“, wollte er wissen und rieb sich müde die Augen.
Juliane schwieg beharrlich, seitdem sie den Hafen verlassen hatten. Zum einen, weil ihr die Füße wehtaten und zum anderen, weil sie ihre Mutter nicht noch einmal verärgern wollte. Es war ihr auch alles zu viel im Augenblick. Ihr Kopf fühlte sich an, als habe ihr jemand wieder Alkohol zu trinken gegeben. Niemand durfte natürlich wissen, dass sie und ihre Freundin Annegret heimlich in deren Vaters Weinkeller eine Flasche gemopst hatten. Das war erst wenige Monate her. Sie hatten damals beschlossen, die Auswanderung zu begießen, wie Erwachsene es auch taten. Von dem säuerlichen Geschmack des Weins waren sie zum einen enttäuscht gewesen und konnten auch nicht nachvollziehen, weshalb die Erwachsenen so versessen darauf waren, das Zeug zu trinken. Zudem kam die ungewohnte Wirkung hinzu, die sie glauben ließ, nicht mehr Herr ihrer Sinne zu sein. Ganz abgesehen von den dumpfen Kopfschmerzen, der sie am anderen Tag auf Schritt und Tritt begleiteten. So in etwa fühlte Juliane sich in diesem Moment und sie konnte nicht sagen, ob sie das alles nur träumte oder ob es Wirklichkeit war.
In dem winzigen Raum, den sie sich teilen mussten, gab es nichts, außer durchgelegenen Matratzen auf dem Fußboden und einem kleinen Tisch. Luise ächzte. So hatte sie sich ihre Ankunft in dem hochgelobten Land weiß Gott nicht vorgestellt und sie schwor sich, keinen Tag länger als irgendnötig hierzubleiben.
Am anderen Morgen wachten sie zu später Morgenstunde völlig übernächtigt auf. Als Juliane und ihre Mutter den kleinen Saal betraten, in dem das Frühstück eingenommen werden konnte, waren Friedrich, Hubert und Nikolaus bereits mit ihrer ersten, amerikanischen Mahlzeit beschäftigt. Doktor Retzner hatte sich ebenfalls zu ihnen gesellt.
Jetzt, bei Tageslicht, konnte Juliane ihn genauer betrachten und sie musste zugeben, dass ihr erster Eindruck sie nicht betrogen hatte – er schien tatsächlich ein äußerst sympathischer, vertrauenswürdiger Mann zu sein.
„Nun, wie sehen Ihre Pläne für heute aus?“, wollte Friedrich nach einer Weile wissen, nachdem seine Frau und Tochter sich ebenfalls zu ihnen gesetzt hatten.
„Nun, ich werde nach dem schnellsten und günstigsten Weg suchen, um nach Westen zu kommen“, gab der österreichische Arzt zu und schmunzelte. „Denn ich habe nicht vor, unnötig Geld für teure Zugtickets auszugeben.“
Luise beäugte ihn, sichtlich irritiert. „Nein? Und wie wollen Sie dann von hier aus irgendwohin kommen?“
“Es gibt verschiedene Möglichkeiten.“ Burkhard Retzner wiegte bedächtig seinen Kopf. „Sehen Sie, ich habe gehört, dass es dort draußen irgendwo eine Stadt gibt, die sie das Tor zum Westen nennen und von dort kommen Sie überall hin, in jede Richtung dieses Landes!“
Friedrich hatte genau zugehört. „Darf ich fragen, ob es möglich wäre, dass Sie weitere Informationen über diesen Ort ausfindig machen und wie man dorthin käme?“
„Das ist genau das, was ich mir für diesen Vormittag vorgenommen habe!“
„Würde es Ihnen etwas ausmachen, wenn ich Sie begleite?“
„Ganz und gar nicht!“ Der österreichische Arzt lächelte einnehmend. „Vielleicht können wir sogar einen Weg finden, uns die weiteren Reisekosten zu teilen!“
Friedrich hob eine Augenbraue, gab jedoch nicht sofort eine Antwort. „Lassen Sie uns zuerst einmal sehen, was wir alles erfahren“, erwiderte er ausweichend. Er schien noch nicht völlig davon überzeugt zu sein, ob er dem anderen Mann trauen konnte oder nicht.
„Und was sollen wir den ganzen Tag so treiben?“, fragte Hubert, ein wenig eingeschnappt, wie ein kleines Kind behandelt zu werden. Zu gern wäre er auch mit auf Erkundungstour gegangen.
„Ihr?“ Friedrich überlegte einen Augenblick. „Ihr könnt euch ja ein bisschen die Stadt ansehen. Wir treffen uns hier wieder, irgendwann heute Nachmittag und dann werden wir euch mitteilen, was wir entschieden haben.“
Es war bereits Nacht, als Doktor Retzner und der Pastor zurück zur Pension kamen. Sie versammelten sich in ihrem Zimmer, wo Nikolaus und Hubert auf einer der Matratzen kauerten, während ihr Vater eine Karte auf dem Tisch ausgebreitet hatte.
„Wir haben Neuigkeiten“, verkündete er und die Aufregung war ihm anzumerken.
„Das heißt, wir verlassen diese Stadt?“ Es war mehr eine Feststellung denn eine Frage und augenblicklich fühlte Juliane die Hand ihrer Mutter, die ihr energisch auf den Arm klopfte. Es war das Zeichen, dass sie es unterlassen sollte, die Unterhaltung der Männer zu unterbrechen. Das gehörte sich nicht für eine anständige, junge Dame. Die Männer wussten, wovon sie sprachen und die Frauen hatten sich dem zu fügen, was sie entschieden. Wieder einmal regte sich in Juliane der Trotz. Sie war nicht dumm! Sie war in in vielen Bereichen besser gebildet als mancher Mann! Weshalb sollte sie darauf nicht stolz sein dürfen und zeigen, was sie konnte und wusste?
„Welche Neuigkeiten?“, fragte nun auch Hubert und stand auf, um die Karte näher inspizieren zu können. Das lummelige Licht der Deckenlampe reichte dafür gerade aus. Es handelte sich um einen ganz neuen Druck, der das komplette Gebiet der Vereinigten Staaten umriss.
„Ihr werdet es nicht erraten!“ Die grünen Augen des Österreichers funkelten triumphierend. „Übermorgen geht ein Wagentreck westwärts!“
„Ein Wagentreck?“, wiederholte Luise gedehnt, keinen Hehl aus ihrer Abneigung machens. „Und so bald schon?“
„Ja, und glauben Sie mir, das ist nur zu unserem Besten“, nickte Doktor Retzner. „Wir müssen vor dem Herbst und dem Wintereinbruch über die Rocky Mountains sein und jetzt, im Frühjahr, stehen die Chancen am besten, dass wir von St. Louis aus einen anderen Treck finden, dem wir uns anschließen können bis Oregon.“
„St. Louis?“, fragte Juliane. Es war ihr unmöglich, ihre aufsteigende Neugier bezüglich der bevorstehenden Ereignisse zu unterdrücken. „Wo ist das?“ Wieder fühlte sie die Hand ihrer Mutter, die auf ihre Schulter hämmerte, als Zeichen, endlich den Mund zu halten, dieses Mal jedoch wesentlich energischer.
„Gleich hier, Fräulein!“ Der Österreicher deutete auf einen Punkt auf der Karte, fast in der Mitte des riesigen Landes. „Und hier ist New York.“
Hubert betrachtete abschätzend die Distanz zwischen den beiden Orten und runzelte die Stirn. „Das ist eine verdammt lange Strecke mit einer Kutsche!“
„Hubert!“, wies sein Vater ihn zurecht. „Hier wird nicht geflucht!“
„Entschuldige“, murmelte sein Sohn und wich dem strengen Blick seines Vaters aus. „Aber es ist doch so, nicht wahr?“
„Natürlich“, stimmte der Österreicher zu. „Mehrere hundert Meile, schätze ich.“
„Warum nehmen wir dann nicht einfach den Zug?“, hakte Hubert verständnislos nach. „Wäre das nicht viel einfacher und sicherer und wir würden auf jeden Fall in St. Louis ankommen, völlig unabhängig von irgendewelchen Witterungseinflüssen?“
Friedrich legte seine Stirn in Falten. Ihm gefiel die direkte Art nicht, mit der sein Sohn hier redete, obwohl er nicht leugnen konnte, dass einige seiner erwähnten Punkte durchaus Sinn machten. „Der Grund ist ganz einfach – hast du dir einmal durchgerechnet, was so eine Zugfahrt von hier nach dort für uns alle kosten würde?“
„Nun, nein“, gab Hubert etwas kleinlaut zu.
„Wir sind fünf Köpfe“, fuhr sein Vater fort. „Und unsere Ersparnisse sind nicht endlos. Wir müssen ein wenig bedacht damit umgehen.“
„Ist St. Louis das Tor zum Westen, von dem ihr gesprochen habt?“, wollte Nikolaus nun wissen.
„Ja, mein Sohn, das ist es.“ Friedrich nickte, wobei er mit dem Zeigefinger eine Linie zwischen New York und der der genannten Stadt zog. „Und in einigen Wochen wirst du es selber sehen.“
„Was für Leute sind das, die uns auf diesem Wagentreck begleiten werden?“ Luise wirkte sehr erschrocken. „Und wird es für die Kinder sicher sein?“
„Nichts ist sicher in diesem Land“, erwiderte der Arzt mit einem vagen Lächeln. „Aber machen Sie sich wegen der anderen Reisenden keine Sorgen – die haben alle nur eins im Kopf: Nach Westen ziehen und ein neues Zuhause für sich finden!“
„Das ist korrekt“, unterstützte Friedrich ihn, um die Ängste seiner Frau zu zerstreuen. „Wir haben bereits mit einigen von ihnen gesprochen und es scheinen ordentliche Leute zu sein. Sie alle sind in derselben Ausgangslage wie wir und wir werden uns einen Wagen und Maultiere kaufen und...“
„Einen Wagen kaufen?“, echote Luise verwirrt. „Und Maultiere?“
„Natürlich, meine Liebe”, sagte ihr Mann, einen Arm um ihre Schulter legend. „Du wirst doch nicht etwa laufen wollen?“
„Nein, aber...“ Sie warf Burkhard Retzner einen finsteren Blick zu, ehe sie ihre Aufmerksamkeit wieder ihrem Mann schenkte. „Das hat offen gestanden wenig damit zu tun, wie ich es mir in diesem neuen Land vorgestellt hatte...“
„Ich auch nicht“, grummelte Juliane leise, mit finsterer Miene.
„Ich finde es großartig! Wir werden unsere eigenen Maultiere haben!“ Nikolaus schien der einzige, der sich freute, während er aufgeregt auf der Matratze herumhüpfte. „Darf ich sie dann auch striegeln?“
Grinsend zerraufte Hubert seinem Bruder das dunkelbraune Haar.
„Natürlich, Kleiner, du darfst sie jeden Tag saubermachen!“
„Sehen Sie”, versuchte Doktor Retzner ihnen zu verdeutlichen. „Es ist ja nicht so, dass Ihre Ausgaben zu Ende sind, wenn Sie mit dem Zug in St. Louis angekommen sind! Von dort kommen Sie ohne Pferd oder Kutsche nirgends mehr hin und ich vermute mal, keiner von Ihnen ist erpicht darauf, Monate im Sattel zu verbringen.“
„Ganz und gar nicht!“ Luise seufzte. Es schien keine Möglichkeit zu geben, dieser Sache noch einmal zu entkommen und ihr schwirrte der Kopf ob all der unerwarteten Wendungen. Ein Wagen mit Maultieren und sie sollte damit quer durch dieses riesige Land ziehen!
„Wir könnten den Winter auch in St. Louis verbringen, uns eine Arbeit suchen, ein bisschen Geld dazuverdienen und sobald der Schnee schmilzt, suchen wir uns einen Führer, der uns sicher über die Rocky Mountains bringt.“
„Was soll eigentlich die Endstation unserer Reise sein?“, Hubert gab es nicht zu, aber er spürte durchaus ein wenig Besorgnis, wenn er sich das bevorstehende Abenteuer ihrer Reise ausmalte. Er hatte genug in den Zeitungen gelesen, um von Indianermassakern und todbringenden Krankheiten zu wissen. Er konnte nicht behaupten, sonderlich erpicht darauf zu sein, mit irgendwelchen Indianern zu kämpfen.
Friedrich lächelte. „Ich bin mir sicher, dass sich alles zum Besten entwickeln wird.“ Bilder erschienen vor seinem inneren Auge, die seine eigene Kirche zeigten in einer neuen Stadt, die er mitbegründet hatte. „Wir ziehen von St. Louis über die Town Of Kansas zum Oregon Trail.“
„Wo ist Oregon?“ Huberts Augen glitten über die Karte, doch er konnte keinen Ort mit diesem Namen entdecken.
„Hier drüben.“ Doktor Retzner half ihm, wobei er auf den Teil der Karte tippte, der sich zuweitest an der Westküste des Kontinents befand. „Wie ich gehört habe, ist es das beste Grasland und der Boden so fruchtbar, dass alles darauf wächst. Dazu müssen riesige Wälder dort zu finden sein.“
„Wir sind keine Farmer“, wagte Hubert vorsichtig einzuwerfen. „Keiner von uns hat die leiseste Ahnung von solchen Dingen.“
Friedrich schmunzelte. „Zerbrich dir darüber nicht den Kopf, mein Junge. Die Wege des Herrn sind unergründlich, wie du weißt und wer kann schon sagen, was er sich für uns überlegt hat?“
Bei Morgengrauen des vierten Tages ihres Aufenthalts in New York war es soweit. Dicke Nebelschwaden hingen über den Dächern, wobei ein kühler Wind durch die Gassen blies. Hubert wachte als erster auf und öffnete den Vorhang, um hinab, auf die noch menschenleere Straße zu blicken. Er schob das Fenster nach oben, ließ die kühle Luft herein und atmete tief durch. Der letzte Morgen, den er in New York erwachte. Er lächelte. Gestern hatten Doktor Retzner und sein Vater ihr Geld zusammengelegt und einen Planwagen erstanden, zusammen mit zwei struppigen, großen Maultieren mit langen Ohren und einer gewissen Schläfrigkeit im Blick. Für Nikolaus war es Liebe auf den ersten Blick gewesen und er hatte sie bereits „Hans“ und „Otto“ getauft, völlig unbeeindruckt davon, dass es sich um zwei Stuten handelte.
Hubert verließ das Zimmer leise und schloss die Tür lautlos hinter sich, um seine Familie nicht zu wecken, die noch fest schlief. Im Korridor angelangt, bemerkte er eine vertraute Gestalt hinter sich und drehte sich um, nur um Juliane dabei zu ertappen, wie sie gemächlich den Flur entlang schlenderte, der überfüllt war mit Einwanderern, die mangels eines freien Zimmers hier nächtigten.