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„Guten Morgen! Du bist ja schon unterwegs! Gut geschlafen?“
„Kann ich nicht behaupten!“ Sie reckte ihre Arme und unterdrückte ein Gähnen. „Hab’ von unserem Treck nach Oregon geträumt...schlimme Sache, kann ich dir sagen.“
„Warum?“ Hubert konnte nicht anders, sondern musste amüsiert grinsen. Er wusste, wie theatralisch seine Schwester sein konnte, besonders dann, wenn eine Sache gegen ihren Dickkopf ging.
„Wir sind nicht in Oregon gelandet, in meinem Traum“, rief seine Schwester sich ins Gedächtnis zurück und runzelte die Stirn. „Wir haben irgendwo, an einem sehr merkwürdigen Ort eine Stadt errichtet und ich erinnere mich, dass ich vorhatte zu heiraten...vollkommen abwegig!“
Hubert lachte leise und ließ seinen Blick kopfschütteln über sie gleiten. Sie trug nur eine Bluse und einen Rock, beides zerknittert und die Bluse noch nicht einmal in ihren Gürtel geschoben, noch dazu zwei offene Knöpfe am Kragen. „Du solltest dich lieber anständig anziehen, bevor Mutter dich in dieser Aufmachung mitten auf dem Flur einer öffentlichen Pension zu Gesicht bekommt!“
Juliane gähnte erneut und begann, ihre zerknitterte Bluse glatt zu streichen und ihren Rock zu ordnen.
„Für einen Siedlertreck ist das alles ganz schön unpraktisch“, erklärte sie in ihrer offenen, ehrlichen Art und seufzte. „Wenn doch bloß diese Unterröcke nicht wären!“
„Mutter wird dir kaum erlauben, dass du Hosen anziehst!“, meinte Hubert leise und grinste, einen Blick über seine Schultern zurückwerfend, hinaus zu dem Fenster des Flurs. Dort unten, hinter der Scheibe, konnte er die Straße erkennen, wo die Stadt allmählich begann, zu erwachen und sich zu regen.
„Das befürchte ich beinahe auch“, erwiderte seine kleine Schwester gequält, wobei sie fand, dass es an der Zeit war, sich ihr Haar zu kämmen. „Aber vielleicht darf ich irgendwann die Unterröcke weglassen.“
„Solange es so kalt ist? Ich würde nicht darauf hoffen. Es wäre vermutlich auch keine besonders gesunde Idee.“
„Hmm.“ Das Mädchen hob resigniert die Schultern. „Du hast recht. Trotzdem – mir gefällt diese ganze Sache mit dem Wagentreck und den Maultieren und allem sowieso nicht. Und mir gefällt noch weniger, wenn ich daran denke, dass ich ständig auf diesen Karren klettern muss, mit all den unpraktischen Röcken und diesem hässlichen Kopftuch.“
Eine Stunde später waren Friedrich und Luise Kleinfeld zusammen mit ihren Kindern und Doktor Burkhard Retzner so weit, dass sie sich zum Treffpunkt für den Siedlertreck aufmachen konnten. Jeder trug irgendein Gepäckstück die Treppe hinab zur Rezeption, hinter der ein älterer Herr saß, um sie zu verabschieden.
„Siedlertreck“, wiederholte er gedehnt, als Friedrich ihm auf Nachfrage von ihrem Vorhaben berichtete und runzelte die Stirn. „Sie wissen hoffentlich, auf was Sie sich da einlassen?“
„Natürlich“, versicherte Friedrich mit einem zuversichtlichen Lächeln, wie nur ein Geistlicher es fertigbrachte. „Wir möchten nach Oregon oder Kalifornien, jedenfalls nach Westen.“
„Schön, schön!“ Der Rezeptionist nickte besonnen. „Meine Familie lebt jetzt in der vierten Generation in diesem Land und ich habe weiß Gott eine Menge Trecks nach Westen ziehen sehen!“ Sein Blick glitt über die ihm fremden Menschen hinweg. „Ein Spaziergang wird das nicht, das ist Ihnen hoffentlich klar?“
„Wie charmant von Ihnen, uns darauf hinzuweisen“, erwiderte Doktor Retzner und entsann sich im selben Moment, dass er ja Englisch sprechen musste, damit der Mann ihn verstehen konnte. Da er sich jedoch außerstande sah, das eben Gesagte zu übersetzen, vollendete er: „Hier im Osten ist doch kein Platz für uns alle! Wo sollen wir denn hin? Und Amerika ist so groß und gerade weiter im Westen gibt es so viel Land, das noch ungenutzt ist und...“
Der Rezeptionist nickte und brachte ihn mit einer Handbewegung zum Schweigen. „Nun, ich sehe, das wird für einige Leute ein echtes Abenteuer. Darf ich fragen, welchem Treck Sie sich anschließen wollen?“
„Oh, das ist einer mit nur etwa zwanzig Familien, die entweder mit demselben Dampfer wie wir hier angekommen sind oder ein paar Tage zuvor schon.“
„Aha!“, machte der Mann und verzog das Gesicht. „Also ein ganzer Haufen voller Grünschnäbel, die in ihrem Leben weder einen Grizzlybären, noch einen Wolf gesehen haben!“
„Grizzlybär?“ Luise schaute schockiert. „Was ist das, ein Grizzlybär?“
„Wie der Name schon sagt, Ma’am“, half der Rezeptionist ihr auf die Sprünge, „handelt es sich um eine große und nicht sehr freundliche Kreatur. Wenn Sie dort hinausgehen und ihre Route westwärts einschlagen, werden einige sehr interessante Überraschungen auf Sie warten, mit denen Sie vermutlich nicht gerechnet hätten! Und es gibt in der Tat eine Menge an wilden Tieren und anderen Dingen da draußen, mit denen nicht gespaßt werden sollte! Aber, bitte, Sie wissen ja vermutlich selbst, was Sie wollen!“
Nun wurde auch Doktor Retzner hellhörig. „Was wollen Sie damit sagen? Dass wir zu blöd sind, um in der Wildnis zu überleben?“
„Das haben Sie gesagt, Mister“, entgegnete der Mann mit einem Grinsen. „Ich kann Ihnen jedefalls nur sehr viel Glück wünschen!“
Ein Stück außerhalb der ersten Häuser New Yorks, auf einer großen, freien Wiese, hatte sich bereits eine gewaltige Anzahl von Menschen versammelt. Dazwischen standen Maultier- und Ochsenwagen und Handkarren herum, bereit für die Abfahrt. Es mussten mindestens siebzig bis achtzig, wenn nicht noch mehr Personen sein, die darauf warteten, sich dem Treck anschließen zu können, die Kinder nicht mitgezählt. Sie stammten aus den unterschiedlichsten Ländern und redeten in den verschiedensten Sprachen. Da waren Norweger, Schweden, Spanier, Holländer und Ungarn, dazwischen ein paar Engländer und Griechen.
„Es ist unglaublich!“, fand Friedrich und schüttelte den Kopf.
„Der Rezeptionist hatte womöglich nicht ganz Unrecht“, stellte Hubert gedehnt fest und vermied es, den Blick zu heben.
„Wie meinst du das?“ Sein Vater wirbelte herum. „Inwiefern? Willst du etwa lieber hierbleiben? In dieser...dieser Stadt?“
„Nun, es fängt doch schon damit an, dass wir den Maultieren nicht zumuten können, uns alle den ganzen Weg zu ziehen. Das würden sie vermutlich kaum überleben!“
„Oh nein!“, rief Nikolaus erschrocken. „Nicht Hans und Otto!“
„Und was, bitteschön, schlägst du dann vor? Ein zweites Gespann geben unsere finanziellen Ressourcen nicht mehr her!“ Friedrich kreuzte die Arme vor der Brust, seinem Ältesten einen strengen Blick zuwerfend. Etwas ging mit seinem Sohn vor sich, er widersprach so häufig wie nie, seit ihrer Ankunft in diesem sogenannten Land der großen Freiheit.
„Wir müssen uns abwechseln. Jeder von uns muss einige Meilen pro Tag laufen und damit die Belastung für die Maultiere so gering wie möglich halten.“
„Ich ganz bestimmt nicht!“, rief Juliane entrüstet und verschränkte ihre Arme trotzig vor der Brust. Luise versetzte ihr mit der flachen Hand einen unwirschen Schlag auf die Wange.
„Sei still, wenn Männer miteinander reden!“
„Ich werde laufen“, verkündete Nikolaus eifrig, allerdings nicht wirklich glücklich und runzelte die Stirn. „Ich will nicht, dass Hans und Otto sterben müssen!“
Mit gemischten Gefühlen fuhr Friedrich sich mit den Händen übers Gesicht. Schließlich räusperte sich Doktor Retzner hinter ihm. „Verzeihung, aber...“
„Haben Sie eine bessere Idee?“
„Nein und ich denke, dass Ihr Sohn völlig richtig liegt. Wir haben keine andere Möglichkeit und jeder von uns wird sein Pensum pro Tag zu Fuß zurücklegen. Allerdings sehe ich darin keine allzu großen Probleme. Ein bisschen Bewegung ist besser für den menschlichen Körper als ständig nur herumzusitzen.“
Friedrich seufzte gereizt. Er verabscheute die Vorstellung, neben dem Wagen herzustapfen, nachdem sie ihn schon für einen Haufen Geld erstanden hatten und offenbar nur dafür, dass er trotzdem seine Beine benutzen musste!
„In Ordnung“, raunzte er den Doktor an. „Lassen Sie uns bloß hoffen, dass dieses Tor zum Westen nicht ganz so weit entfernt ist, wie es auf der Landkarte ausgesehen hat!“
Tiefe Spuren von eisenbereiften Rädern zeichneten sich auf der Art Landstraße ab, die vom Regen der letzten Tage durchweicht war. Pferde schnaubten, Atemwölkchen vor den Nüstern bildend, und hin und wieder brüllte ein Ochse. Ein paar Kinder jammerten, weil ihnen kalt war und einige junge Frauen beschwerten sich, dass sie nicht mehr gehen konnten, weil sie entsetzliche Blasen an den Füßen hatten.
„Wenn ich mir vorstelle, welchen Luxus wir in einem Zugabteil nun genießen würden“, sagte Luise inbrünstig und ein bisschen wehmütig, während sie ihre Jacke fester vor ihrer Brust zuzog. Ihr fröstelte. „Wenn ich mir ausmale, dass es täglich so weitergeht, bis Oregon...“ Sie brachte den Satz mit einem Kopfschütteln zu Ende. Sie fuhren zwischen unzähligen anderen Karren in eine Dunst von Nieselregen. Ein paar einzelne Reiter waren dazwischen zu entdecken, meist junge Männer, voller Tatendrang und Sehnsucht nach Abenteuern. Mindestens genauso viele marschierten jedoch zu Fuß, weil ihr Geld nicht ausreichte, um sich ein Fortbewegungsmittel zu erwerben.
„Geh doch nach hinten, zu Nikolaus, und ruh dich ein bisschen aus“, schlug Juliane vor, ihre Mutter besorgt beobachtend. „Du bist ganz blass. Hardy und ich schaffen das hier oben auch alleine.“
Der österreichische Arzt nickte zustimmend. „Sie sehen wirklich nicht gut aus!“
„Ich fühle mich auch entsetzlich“, gab Luise zu und erhob sich. Ihren Rock und die Unterröcke raffend kletterte sie über die Lehne des Kutschbocks nach hinten, in den von der Plane überspannten Teil des Wagens. Dort schlief Nikolaus, müde und erschöpft von der nun bereits vier Wochen andauernden Reise.
Doktor Retzner seufzte. „Diese verflixte Kälte!“
Juliane schaute ihn an. Er hielt die Zügel der beiden Maultiere fest in der Hand. Der österreichische Arzt hatte sich nicht nur als hervorragender Kutscher, sondern auch als großartiger Kartenleser und Entfernungsberechner bewiesen. „Wann, glauben Sie, werden wir endlich in dieser Stadt zum Westen angelangt sein?“
Doktor Retzner hob die Achseln, wobei sein zu lang gewordenes, strohblondes Haar sanft mitwippte. „Es sollte nicht mehr sehr weit sein.“ Überlegend richtete er den Blick gen Himmel. „Meinen Berechnungen nach, dürfte es sich nur noch um Stunden handeln.“ Er nickte zuversichtlich.
Juliane seufzte tief und warf den geflochtenen Zopf ihres langen, rotblonden Haares zurück. „Wir sind jetzt beinahe vierzig Tage unterwegs und ich habe schon jetzt keine Lust mehr. Ich frage mich, ob es den anderen auch so geht...“
Doktor Retzner lächelte. Seine grünen Augen bedachten sie mit einem liebevollen Blick. „Keine Angst, kleine Julie, lass uns erstmal in St. Louis ankommen und all die anderen treffen, die gen Westen wollen.“
„Julie?“, wiederholte das junge Mädchen gedehnt und starrte ihn irritiert an. „Was ist das?“
Doktor Retzner lachte leise auf. „Das ist die englische Form deines Namens! Du glaubst doch nicht etwa, dass ihr eure Namen hier allzu lange in der deutschen Form behalten werdet, hier, wo alles Englisch spricht? Eure Namen sind so kompliziert, dass sich die meisten die Zunge brechen würden!“
Juliane lächelte. Wenn sie mit Doktor Retzner auf dem Kutschbock saß und ihr Vater und Bruder neben- oder hinterher marschierten, verging die Zeit immer schneller. Die Quelle seiner Geschichten und humorvollen Bemerkungen schien unerschöpflich und Juliane liebte es, ihm zuzuhören. Auch sein unglaubliches Wissen faszinierte sie. Er schien immer auf alles eine Antwort zu kennen, nichts schien ihm unbekannt. So fragte sie jetzt: „Wie würden die Leute uns dann auf Englisch nennen?“
Doktor Retzner musste schmunzeln. Wie unglaublich naiv sie doch war! „Du hast nicht den Schimmer einer Ahnung, nicht wahr?“
„Ahnung? Wovon?“
„Dass sich nicht nur eure Namen mit diesem Land verändern werden, sondern auch ihr selbst...du und deine Eltern und deine Brüder und ich natürlich auch. Wir alle werden mit diesem Land, das wir besiedeln, wachsen – oder scheitern. Das steht in unserer Macht, aber wir werden unsere Vornamen auch deshalb anders aussprechen, weil wir dazugehören wollen, weil wir uns als ein Teil dieses ungezähmten, weiten Landes betrachten werden. Verstehst du?“
Juliane starrte ihn lange an. Wenn er in solch ernste, philosophische Überlegungen ausbrach, bekam sein freundliches Gesicht immer einen eigenartigen Ausdruck, als befände er sich gar nicht mehr hier, sondern irgendwo weit fort, auf einer Wolke, die ihn von einem Gedanken zum nächsten trug.
„Doch“, sagte sie schließlich, „ich verstehe. Wir werden keine Deutschen mehr sein, sondern Amerikaner.“
Ein Lächeln bildete sich auf dem Gesicht des Österreichers, das von den zurückliegenden, anstrengenden Wochen eingefallen und müde wirkte.
„Ganz recht. Wir werden alle irgendwann amerikanische Ausweise bei uns tragen. Du wirst Julie heißen, dein Vater vielleicht Frederick, deine Brüder Hugh und Nicolas und deine Mutter...nun, da bin ich mir offen gestanden nicht ganz sicher, aber ich glaube, sie müsste dann mit einem ‚ou‘ in der Mitte geschrieben werden.“
„Julie“, sagte das junge Mädchen verträumt. „Mein Name ist Julie Kleinfeld. Klingt das nicht schon sehr amerikanisch?“
Doktor Retzner schmunzelte. „Sehr!“, versicherte er mit Nachdruck. „Nur der Nachname, an dem müssen wir noch ein bisschen feilen!“
„Wie übersetzt man Kleinfeld?“, wollte Juliane wissen. Sie unterhielten sich immer auf Deutsch, was ihrer Sprachförderung nicht gerade zugute kam.
Doktor Retzner zuckte die Schultern. „Ich weiß es nicht, wirklich nicht...Julie!“ Er grinste breit, als er den zufriedenen Ausdruck auf ihrem hübschen Gesicht bemerkte. „Weißt du was? Von jetzt an werde ich dich nur noch so nennen!“
Ein paar Meter neben dem Wagen, abseits von dem aufgeweichten Schlamm der Straße marschierten diejenigen, die sich entweder keinen Wagen hatten leisten können oder sich mit anderen beim Fußmarsch abwechseln mussten, weil die Tiere nur eine bestimmte Anzahl von Leuten ziehen konnten.
„Bald fängt es wieder zu dämmern an“, meinte Hubert und richtete seinen Blick nach oben, zu den grauen Aprilwolken. „Ich frage mich, wann wir endlich ankommen werden.“
Sein Vater schien ihm nicht richtig zugehört zu haben. „Ja“, erwiderte er nur. „Ja, ja.“
Erstaunt zog Hubert die Brauen hoch. „Was ist denn?“, wollte er wissen und folgte dem Blick seines Vaters, der an ihrem Wagen, genauer, am Kutschbock hing, wo sich seine einzige Tochter und der österreichische Arzt angeregt unterhielten.
Hubert musste ein Grinsen unterdrücken. „Sieht fast so aus, als würden Hardys Berechnungen nicht nur auf dem Interesse einer schnellen Ankunft beruhen“, gluckste er, nur mit Mühe die Beherrschung wahrend.
Friedrich warf ihm einen strengen Blick zu. „Solche Anschuldigungen verbitte ich mir! Ich halte Hardy für einen ausgesprochen höflichen, wohlerzogenen, jungen Mann!“
„Oh, ich habe nichts Gegenteiliges behauptet!“, wagte Hubert zu widersprechen. Niemandem konnte entgehen, mit welch ungewöhnlicher Aufmerksamkeit der österreichische Arzt seine kleine Schwester bedachte. „Aber ich bin der Ansicht, er passt nicht zu ihr.“
„Passen!“, stieß Friedrich verächtlich hervor. „Was heißt hier passen? Ob ein Ehemann zu einem Mädchen passt oder nicht, haben immer noch die Eltern zu entscheiden.“
Huberts braune Augen weiteten sich. Er biss sich auf die Lippen. „Du...du meinst, Hardy und Juliane sollten...ich meine...sie sollten...“
„Warum nicht?“, unterbrach Friedrich sein Gestammel. „Nicht sofort, natürlich! Erst, wenn wir am Ziel angekommen sind und uns eine Existenz aufgebaut haben. Vorher gebe ich sie ihm nicht, aber dann – was spricht dagegen?“
Hubert atmete tief durch. Er konnte sich nicht helfen. Sicher, die Argumente seines Vaters waren durchaus vernünftig. Bisher hatte Hardy sich nur von seiner besten Seite gezeigt und Hubert bezweifelte, dass es da eine andere, eine schlechte Eigenschaft an ihm gab, die sie noch nicht kannten. Doch es gab einen Punkt, den er ganz klar in Frage stellte und den er für die Eheschließung als absolut notwendig erachtete: „Juliane liebt ihn nicht.“
Friedrich starrte ihn perplex an. „Bitte?“, fragte er. „Was hast du gesagt?“
Hubert schluckte. Er wusste, was es bedeutete, sich mit seinem Vater auf eine Diskussion einzulassen. Friedrich war gebildet und schlagfertig und zudem noch mit einem gesunden Selbstbewusstsein ausgestattet, durch das er sich unangefochten als Oberhaupt innerhalb seiner Familie sah.
„Nun“, erwiderte der junge Mann gedehnt. „Ich denke, dass Juliane nicht die Gefühle für ihn hegt, die für eine Ehe wichtig wären.“
„Liebe“, sagte Friedrich und das Wort klang aus seinem Mund, als sei es ein Fremdwort. „Liebe innerhalb einer Ehe bringt meistens nur Ärger mit sich! Die Liebe kommt schon im Laufe der Jahre, wenn erst einmal Kinder da sind und die Frau weiß, wo sie hingehört! So war das auch bei eurer Mutter und mir! Unsere Eltern haben bestimmt, dass wir heiraten werden und wie du siehst, sind wir nach fast zwanzig Jahren immer noch glücklich. Was können zwei Menschen sich mehr wünschen?“
Hubert antwortete nichts darauf, sondern richtete seinen Blick stur auf den Boden vor seinen Füßen. Nun gut, es war offensichtlich, dass Doktor Retzner Interesse an Juliane zeigte. Kein Wunder, dachte er, sie ist eine reizende, junge Dame geworden, richtig erwachsen.
Dass sie ihn nicht liebte, höchstens bewunderte und verehrte, konnte Hubert allerdings nicht entgehen. Dazu war er zu sensibel und feinfühlig und dafür kannte er seine Schwester auch zu gut. Er bezweifelte nicht, dass sie sich erfolgreich weigern würde, sollte Friedrich auf den Gedanken kommen, sie – erstmal in Oregon, Kalifornien oder wo auch immer angelangt – mit dem Österreicher verheiraten zu wollen. Sie war doch noch so jung und Hardy Retzner fast doppelt so alt! Hubert seufzte leise. Nein, das Leben war weiß Gott nicht einfach, zumindest nicht für ein Mädchen. Ein Mann konnte sich aussuchen, welche Frau er haben wollte, zu ihren Eltern gehen und um ihre Hand anhalten und wenn die Eltern ihn als gut genug empfanden, gaben sie ihre Tochter frei. Wie ein Stück Vieh, schoss es Hubert durch den Kopf und ein Schauer jagte über seinen Rücken, genau wie eine Kuh oder ein Pferd. Dann wird sie an denjenigen weitergereicht, den ihre Eltern als den Besten betrachten, der sie haben möchte.
Noch am selben Abend, bei Dämmerung und einem kalten, schneidenden Frühjahrswind erreichten sie St. Louis, eine der westlichsten Städte, die noch als zivilisiert bezeichnet werden konnten. Sie überquerten den Mississippi an einer flachen Stelle und ohne, dass einer der Wagen umkippte, obwohl die Zugtiere erschöpft und müde waren und der Wasserpegel aufgrund der Schneeschmelze eine ordentliche Höhe aufwies.
„Jetzt, mein Junge“, sagte Friedrich und Stolz schwang in seiner Stimme mit. „Jetzt haben wir den Osten hinter uns gelassen und nur noch der endlose, weite Westen wartet auf uns!“
Ein Engländer mittleren Alters, der die Strecke schon einmal gefahren war, es sich dann anders überlegt hatte und wieder nach New York zurückgekehrt war, um es jetzt noch einmal zu versuchen, führte sie ein Stück außerhalb der ersten Häuser der stetig wachsenden, für die Verhältnisse ausgesprochen modernen Stadt, zu einer abgeschiedenen Wiese. Dort standen, wild durcheinander und scheinbar ohne Anordnung, bereits unzählige Planwagen von anderen Trecks und dazwischen erhoben sich mindestens ebenso viele Zelte. Das einzige Gebäude in der sichtbaren Umgebung war eine mächtige Scheune.
„Wie?“, sagte Luise fassungslos. „Sollen wir etwa die ganze Zeit über hierbleiben, bis es weitergeht? Nur in unseren Wagen oder den Zelten?“
„Scheint so“, entgegnete Hubert und griff in die Zügel des Gespanns, um es anzuhalten.
„Nun“, meinte Friedrich und schaute sich um. „Es kann sich ja hoffentlich nur um wenige Tage handeln, bis wir uns einem anderen Treck anschließen können!“
„Sprich, wir sitzen erst einmal hier fest“, murmelte Hubert leise und machte ein finsteres Gesicht. Hoffentlich würde es sich nicht allzu lange hinziehen – er war ungeduldig, er wollte nicht unnütz hier herumsitzen!
Sein Vater neben ihm seufzte tief. „Ja, es hat fast den Anschein, als müssten wir es uns hier vorerst gemütlich machen.“
Hubert blickte um sich, betrachtete die Gesichter, die ihm mittlerweile schon vertraut vorkamen und die müde und erschöpft aussahen.
„Ich glaube“, murmelte er, mehr zu sich selbst, „da sind wir nicht die einzigen.“
Die anderen Reisenden ihres Wagentrecks begannen, einen Kreis mit ihren Wagen zu formen und Hubert trieb die Maultiere vorwärts, um sich ihnen anzuschließen. Danach begannen sie alle, sich bestmöglich für die Nacht vorzubereiten und die Ochsen und Pferde zu versorgen. Sie versammelten die Tiere in der Mitte der Wagen, wo die ersten auch bereits begannen, offene Feuer zu entfachen.
„Lasst uns jetzt besser anfangen“, schlug Luise vor, „bevor wir überhaupt nichts mehr sehen.“
„Das dürfte bei den vielen Feuern kein Grund zur Sorge sein“, warf Julie vorsichtig ein, wobei sie das Cape um ihre Schultern enger zog. Ihr fröstelte.
„Wir brauchen auch so ein Ding.“ Friedrich deutete neben sich, wo ein kleines Zelt aus festem Stoff mit Heringen im Boden verankert war. „Im Sommer werden wir bestimmt auch einige Gewitter und Stürme miterleben.“
„Es wäre zumindest keine schlechte Idee“, sagte Hardy Retzner leise und schüttelte den Kopf. „Es sind sicherlich einige hundert Leute hier und alle wollen sie weiter, aber kaum einer ist auch nur vernünftig gerüstet.“
„Es ist ein wenig spät für diese Einsicht.“ Friedrich klopfte ihm sacht auf die Schulter. „Wir waren unerfahren und wir haben die Naturgewalten zu wenig berücksichtigt. Das hier ist eben doch ein wildes Land voller Abenteuer, nicht zu vergleichen mit Deutschland. Wir können nur versuchen, das Beste daraus zu machen.“
Die beiden Maultiere mussten abgeschirrt und gefüttert werden, was Nikolaus mit Hilfe von Doktor Retzner erledigte. Sie begannen, die Plane, die über den Wagen gespannt war, gut festzuzurren, damit möglichst kein Wind darunterfahren und sie anheben konnte. Nach vorn, in Richtung Kutschbock, verschnürten sie sie komplett. Hubert hängte zusätzlich noch eine Decke davor.
„So kann zumindest kein Wind rein“, meinte er und kroch nach hinten, wo Juliane sich bemühte, ihre viel zu knapp bemessenen Decken gerecht im Wageninneren zu verteilen. Auf einmal stieß sie einen leisen Ruf aus: „Seht mal! Dort!“
Verwundert hob ihr Bruder den Blick. Zwischen den Planwagen und Zelten hervor kam der Engländer geschritten, dessen Namen sie nicht kannten und der sie bis hierher gebracht hatte. Es schien, als wollte er genau zu ihnen. Ein weiterer Mann begleitete ihn. Er war groß und schlank, in eine Wildlederjacke gekleidet und einem Abzeichen in Form eines glänzenden, silbernen Sterns auf der Brust.
„Was tut er hier?“, wisperte Nikolaus, während er unablässig Ottos Fell striegelte. Luise trat beschützend zu ihrem Sohn, als befürchtete sie, etwas könnte ihm zustoßen. Sie war damit beschäftigt gewesen, die Pfannen, Teller, Becher und die Kaffeekanne auszupacken, um ihnen unter den gegebenen Umständen bestmöglich eine warme Mahlzeit zuzubereiten.
Friedrich war losgezogen, um Feuerholz zu sammeln und dabei in ein Gespräch mit anderen Siedlern ihres Trecks verwickelt worden. Er wollte mehr darüber erfahren, wie es die nächsten Tage weitergehen würde und er war noch nicht zurück und nirgends zu sehen, auch wenn Luise verzweifelt nach ihm Ausschau hielt.
„He! Sie da!“, sagte der Mann mit dem Abzeichen an der Jacke, als er bei ihnen angelangt war und deutete auf Doktor Retzner. „Der Typ hier meint, er sei so etwas wie euer Führer und behauptet, Sie seien Arzt!“
Der Österreicher starrte ihn lediglich fragend an. Der Mann sprach mit einem nuscheligen Akzent und er verstand keine Silbe davon.
„Er fragt, ob Sie ein Doktor sind“, wisperte Julie auf Deutsch und endlich nickte Hardy Retzner, ehe er ein wenig mühsam die Frage beantwortete: „Ja, das bin ich.“
„Der Sheriff hat angeordnet, dass sich Ärzte sofort bei ihm melden sollen, weil sie überall gebraucht werden. Am besten, Sie kommen gleich mit und wir sagen ihm Bescheid. Ich bin sein Gehilfe.“