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Julie schluckte. Es kostete sie einige Überwindung, es auszusprechen. „Aber...nun ja, was ich nicht verstehe ist, wie es dort überhaupt hineinkommt!“
Er erstarrte. Er hatte diesen Punkt absichtlich ausgelassen, in der Hoffnung, sie würde sich die logische Folgerung selbst zusammenreimen. Offenbar tat sie das nicht, konnte es vermutlich auch gar nicht. Er stieß einen tiefen Seufzer aus. Es half nichts, er musste sie darüber aufklären. Er konnte ihr das nicht vorenthalten, wollte er sie nicht bei einer der Frauen in eine peinliche Situation bringen. Natürlich würden die Patientinnen mit ihr anders reden und ihr Dinge anvertrauen, die sie ihm gegenüber vermutlich nicht erwähnten und dann musste sie wissen, worum es sich handelte. Ihm blieb keine Wahl und so nahm er den Bleistift wieder zur Hand und nach einer kurzen Sekunde der Überwindung setzte er ihn auf den entsprechenden Teil der Zeichnung.
„Damit“, stieß er hastig vor, „damit gelangt das Kind in eine Frau und deshalb kann nur durch beide zusammen, durch Mann und Frau, neues Leben gezeugt werden.“
Er fühlte, wie Julie neben ihm den Atem anhielt. Er wusste, dass ihr in diesem Moment sehr vieles klar werden musste und einige Erkenntnisse auf sie einstürzten, mit denen sie vermutlich nicht sofort zurechtkommen würde. Es tat ihm leid, dass er es ihr nicht irgendwie schonender beibringen konnte. Wieviele junge Mädchen hatten nicht den Schimmer einer Ahnung, was sie in ihrer Hochzeitsnacht erwartete! Wieviele böse Überraschungen gab es für sie und genau das wollte er ihr ersparen. Er wollte nicht, dass sie überfallen wurde von einem Vorgang, von dem sie nicht einmal ahnte, dass es ihn gab, erst recht nicht, wenn er ihr Bräutigam sein würde. Die Vorstellung ließ ihn lächeln. Er betrachtete das junge Mädchen, das noch immer da stand, ganz in ihren Überlegungen versunken und auf das Buch hinabstarrte. Am liebsten hätte er sie augenblicklich in den Arm genommen. Wie entzückend sie aussieht, schoss es ihm durch den Kopf, wie ungeheuer süß und einzigartig!
„Tun Sie mir einen Gefallen?“, fragte er dann, als sie auch nach einer langen Pause keinen Ton von sich gab.
„Ja, natürlich“, brachte das junge Mädchen leise hervor. Sie fühlte, wie ihr Gesicht heiß und rot wurde.
„Erzählen Sie bitte Ihren Eltern niemals etwas von dem, was ich Ihnen eben erklärt habe! Sie würden es mir vermutlich nie verzeihen!“
Unerwartet trat ein verschmitztes Lächeln auf Julies Gesicht. „Nein“, erwiderte sie leise und warf selbstbewusst den Kopf zurück, um ihn anzusehen. „Das glaube ich allerdings auch nicht!“
Am darauffolgenden Sonntag, nach Friedrichs Predigt, standen noch einige Städter vor der Kirche, wie so häufig nach dem Gottesdienst und unterhielten sich, doch nicht allzu lange, denn es regnete schon wieder und ein kalter Wind pfiff zwischen den Häusern hindurch und über das Land.
„Ein solches Wetter habe ich in Deutschland noch nie erlebt“, gab Julie zu, die langsam mit Doktor Retzner den morastigen Pfad hinab spazierte, der auf die Hauptstraße führte. „Es wird überhaupt nicht besser! Dabei sollten wir längst Frühling haben!“
„Das ist ein anderes Klima hier“, erläuterte der junge Arzt und lächelte. „Ich lese die Zeitung so oft, wie ich dazukomme und darin stand auch einmal etwas über die verschiedenen Wettergebiete dieses riesigen Landes.“
„Wirklich?“ Interessiert schaute Julie ihn an. „Was heißt das?“
„Das heißt“, erklärte er bereitwillig, „dass es in Amerika alles gibt: Grüne Wiesen, weite Wälder, hohe Gebirge und Wüsten, einfach alles! Ist das nicht unglaublich? Und das auf einem einzigen Kontinent!“
Julie versuchte, sich das vorzustellen – eine Wüste neben einer grünen Wiese, doch es wollte ihr nicht recht gelingen. Schließlich nickte sie nur. „Was Sie nicht alles wissen!“
Hinter ihnen kamen Luise und Friedrich mit ihren beiden Söhnen marschiert. Niemand wollte sich zu lange in der regnerischen Kälte aufhalten und sie beeilten sich, ihren Spaziergang heute kurz zu halten, um schnell nach Hause, ins Warme und Trockene zu gelangen. Es war schon seit Jahren zu einer Angewohnheit geworden, jeden Sonntag nach dem Gottesdienst immer noch eine kurze Runde zu Fuß zu gehen. Auch in Deutschland hatten sie das immer getan und dabei öfter zu einem Tratsch bei einem Gemeindemitglied angehalten und die neuesten Ereignisse ausgetauscht. Hier beschränkte sich der Sparziergang auf die Bewegung an der frischen Luft.
„Die beiden sehen sehr vertraut aus“, fand Luise, während sie ihre Tochter und den österreichischen Arzt kritisch beobachtete.
Friedrich schmunzelte. „Keine Sorge! Ich glaube, dass ihre Beziehung rein auf der Basis ihrer Arbeit beruht!“
„Hoffentlich!“, kommentierte seine Frau und runzelte bedenklich die Stirn. „Mit seiner Bildung wird er ja hoffentlich vernünftig genug sein und die Finger von ihr lassen!“
„Aber Luise!“, raunte Friedrich kopfschüttelnd und warf einen Blick über seine Schulter zurück, doch weder Hugh noch Nikolaus schienen etwas von ihrem Gespräch gehört zu haben, denn sie schuppsten sich gegenseitig umher. „Hardy ist ein anständiger Kerl! Er würde Juliane niemals unsittlich nahetreten!“
Seine Frau lächelte leicht, wenig überzeugt. „Vermutlich hast du recht, dennoch werde ich ein Auge auf die beiden werfen und sollte mir irgendetwas auffallen, werde ich einschreiten. Sie ist schließlich unsere einzige Tochter!“
Am Abend, noch bevor das Abendessen fertig war, musste Nikolaus wieder durch die Stadt laufen, bis zu der großen Scheune, wo die Pferde, Maultiere und Ochsen untergebracht waren. Dort half er wie jeden Tag beim Misten, wie abgesprochen.
„Ich beeile mich!“, versprach der Junge und zog sich seine Schildmütze über das braune, widerspenstige Haar.
„Warte!“ Sein großer Bruder erhob sich vom Tisch und legte die zwei Wochen alte Zeitung beiseite, die er von irgendjemandem geschenkt bekommen hatte. „Ich helfe dir, dann geht es schneller!“
„Au ja!“, rief Nikolaus und hüpfte auf der Stelle. „Das wird lustig!“
„Ihr sollt arbeiten, nicht euch amüsieren“, grummelte Friedrich, der neben dem Ofen stand, seine Frau beim Kochen beobachtete und sich gleichzeitig die Hände wärmte. „Vergesst das nicht und beeilt euch! Heute ist Sonntag!“
„Natürlich, Vater!“, kam die prompte Antwort gleichzeitig aus zwei Mündern und in der nächsten Sekunde schlug die Türe ins Schloss.
Draußen fiel wieder Regen in großen, schweren Tropfen vom schwarzen Nachthimmel herab. Der kalte Wind stieß sie während ihres Falls in sämtliche Richtungen, von rechts nach links, gegen die Hauswände und hinein in die Baumkronen, die sich sacht im Takt wiegten. Ihre noch beinahe blattlosen, kahlen Äste wirkten trübsinnig und hoffnungslos. Hugh starrte zu ihnen hinauf, soweit er sie in der Dunkelheit erkennen konnte. Er musste einige male hart und tief husten.
„Wirst du krank?“, wollte Nikolaus besorgt wissen und blickte zu seinem großen, dürren Brüder hinauf. Es schien ihm fast, als sei er noch schmaler geworden, seitdem er bei der Eisenbahn arbeitete.
„Nein, nein!“, winkte Hugh eilig ab und bemühte sich, ein weiteres Husten zu unterdrücken. „Lass uns ein wenig hinne machen, damit wir zum Abendessen wieder zurück sind!“
„Ach“, machte Nikolaus gleichgültig. „Julie ist auch nie da, wenn es Essen gibt!“
Sein großer Bruder schmunzelte. „Du nennst sie also auch schon Julie?“
Der schmächtige Junge nickte. „Natürlich! Sie hat mich selber darum gebeten und ich finde es auch schöner, genau, wie ich Nick besser finde.“
„Die Kinder in der Schule nennen dich so?“
„Ja und ich weiß, dass dich bei der Eisenbahn alle nur Hugh rufen! Das gefällt mir auch viel besser!“
„Weil es amerikanisch klingt?“
„Natürlich! Wir sind doch jetzt Amerikaner oder etwa nicht?“
„Noch nicht, aber bald, bestimmt.“
Sie umrundeten das Lager und erreichten die große, alte Scheune. Licht fiel durch die Schlitze des Tores und sie traten ein. Eine warme, streng nach Mist stinkende Luft schlug ihnen entgegen.
„Puh!“, machte Hugh und war auf einmal sehr dankbar für seine wechselnden Arbeitsplätze bei der Eisenbahn, ob nun in durch Pfeifen- und Zigarrenqualm eingeräucherten Büros, kalten, unbeheizten Eisenbahnwaggons oder zugigen Bahnsteigen. Alles war besser als dieser Gestank!
Es gab einiges für sie zu tun. Außer Nikolaus half nur einer der Ungarn aus ihrem Treck beim Misten, der zudem die Oberaufsicht über den Stall und die Tiere übertragen bekommen hatte. Die anderen Männer kannten sie nicht. Der Ungar brachte die Tiere jeden Tag nach draußen, auf eine Art Koppel, verschaffte ihnen Bewegung, striegelte sie und kümmerte sich um die Hufe und die Eisen. Miklós war ein Pferdemann gewesen in seiner alten Heimat und liebte die Tiere. Er redete in gebrochenem Englisch ohne Unterlass, während er neben den beiden Kleinfeld-Brüdern einen Verschlag nach dem anderen mistete.
Zum ersten Mal wurde Hugh bewusst, welche Schwerstarbeit sein kleiner Bruder hier zu verrichten hatte und er bewunderte ihn im Stillen dafür. Sie brauchten fast eine Stunde, bis sie sämtlichen Mist hinaus auf den Haufen gekarrt und frisch eingestreut hatten.
„Das ging wunderherrlich schnell heute“, strahlte der Ungar und wischte sich den Schweiß von der Stirn. „Könntest kommen jeden Tag! Würde alles immer so schnell sein!“ Er lachte fröhlich, wobei er seine dunklen Augen zusammenkniff.
„Geht nicht“, erwiderte Hugh entschuldigend. „Die Eisenbahn zählt auf mich!“
„Ah ja!“, rief Miklós und klatschte sich bedauernd in die Hände. „Die Eisenbahn! Die wird kosten eines Tages unseren Pferden das Dasein! Du wirst sehen!“ Er seufzte betrübt. „Aber was redet alter, dummer Miklós hier? Ihr müsst nach Hause, nicht wahr? Eltern warten und ist schon spät! Kommen morgen wieder! Gute Nacht!“
„Gute Nacht!“, rief Nikolaus fröhlich und drückte dem Ungar kurz die Hand. Er mochte ihn sehr und hörte unheimlich gerne seine Geschichten an, die er zu erzählen wusste.
„Gute Nacht“, sagte auch Hugh, doch nur leise, denn jedes lautere Wort hätte einen erneuten Hustenanfall ausgelöst. Er schlug den Kragen seiner Jacke hoch und schlurfte hinter seinem kleinen Bruder hinaus ins Freie. Noch immer fiel Regen vom Himmel.
„Ist das nicht schön?“, jubelte Nikolaus ausgelassen und hüpfte über mehrere Pfützen hinweg.
Hugh erwiderte nichts. Er fühlte sich ausgesprochen elend und erschöpft. Er konnte sich selbst nicht erklären, woher das kam. Am Morgen noch war er bei bester Gesundheit gewesen, das hieß, nein, eigentlich auch schon nicht mehr, wenn er ehrlich sein wollte. Einige male war ihm eigenartig schwindlig geworden und er war im Grunde ganz froh gewesen, als sein Arbeitstag sich dem Ende geneigt hatte.
Sie mussten wieder den weiten Weg quer durch die Stadt zurücklegen. Als sie das Pfarrhaus betraten, schlug ihnen der Duft von Luises Mahlzeit entgegen und drehte Hugh fast den Magen um. Er musste sich am Türrahmen festklammern. Die Welt um ihn herum begann, sich zu drehen.
„Du lieber Himmel! Wie siehst du denn aus?“ Das war Julie. Er spürte, wie ihre kleine, zarte Hand ihn fasste und stützte und die andere sich auf seine Stirn legte. „Du glühst ja! Los, leg dich sofort in dein Bett! Ich hole Hardy, du brauchst einen Arzt!“
„Mir...geht’s...gut“, brachte Hugh leise und schwerfällig hervor. „Wirklich...“
„Genauso siehst du auch aus!“, erwiderte Friedrich sarkastisch. Seine großen, kräftigen Pranken packten seinen Sohn entschlossen und zerrten ihn zur Treppe. „Rauf da! Mach’ schon!“
Nur mit letzter Kraftanstrengung und mit Hilfe seines Vaters gelang es Hugh, sich am Geländer hinaufzuziehen. Oben gab es nur zwei Räume: Im einen teilten sich die Kinder zwei Betten, im anderen schliefen Luise und Friedrich.
Hugh wankte zu seinem Bett. Seine Knie gaben unter ihm nach, er sank auf die Daunendecke und spürte, wie im nächsten Augenblick eine harte, schwarze Dunkelheit über ihm hereinbrach und er das Bewusstsein verlor.
„Schnell, Mädchen!“, rief Friedrich erschrocken nach unten, während er die Decke unter seinem Sohn hervorzog und über ihm ausbreitete. „Hol’ Hardy! Deinem Bruder geht es sehr schlecht!“
„Ja, ich laufe!“ Bereits im Hinausstürmen warf Julie sich ihr Cape über und dann rannte sie los, durch den strömenden Regen und die morastigen Straßen. Sie merkte nicht, wie sich ihr langes, rotblondes Haar mit Wasser vollsog und ihre Schuhe durchweichten. Das Herz schlug ihr bis zum Hals. Den Symptomen nach zu urteilen musste es sich um eine schwere Grippe handeln oder womöglich um Schlimmeres. Sie atmete schnell und keuchend. Ihre Röcke waren längst völlig durchnässt und wurden mit jedem Schritt schwerer. Hoffentlich hatte sie Glück und Hardy war noch in der Praxis, sodass sie nicht bei Doktor Stankovski klopfen und diesen bei seinem Feierabend stören musste! Sie eilte die menschenleere, wie ausgestorben wirkende Hauptstraße hinab. Nur aus dem Saloon drangen Musik und Gelächter, wie jeden Abend. Um die nächste Kurve und dann war da die Praxis. Julie seufzte erleichtert – Licht fiel aus einem Fenster auf die Straße. Sie raffte ihre Röcke und eilte hinüber. Das Herz schlug ihr bis zum Hals und sie hatte das Gefühl, jeden Augenblick ohnmächtig zu werden. Ihre Faust hämmerte laut gegen die Türe.
„Hardy?“, rief sie leise. „Sind Sie da?“ Es dauerte keine drei Sekunden, dann wurde die Tür von innen aufgerissen.
„Julie!“ Erschrocken fasste Doktor Retzner sie an den Schultern. „Was ist passiert? Geht es Ihnen nicht gut? Sie sind ja ganz nass!“
„Mit mir ist alles in Ordnung!“, brachte sie keuchend hervor. „Aber Hugh...ich meine, mein Bruder ist krank! Bitte, Hardy, Sie müssen sofort mitkommen!“
„Natürlich, warten Sie!“ Er wirbelte herum, griff nach seiner Tasche und der Jacke. Die Eingangstür fiel krachend ins Schloss. Der Österreicher legte einen Arm um Julies Schulter, als fürchtete er, sie würde andernfalls den Weg zurück in der Dunkelheit und dem Regen nicht überstehen.
Als sie das Pfarrhaus erreichten, wurden sie bereits von einer aufgeregten, äußerst besorgten Luise empfangen, die sich von ihrem Mann kaum beruhigen ließ. Nur Nikolaus saß, wie unbeteiligt am Tisch, über seinem Abendessen.
„Er hat mir geholfen, den Pferdestall zu misten“, sagte der Junge zwischen zwei Bissen und beobachtete, wie der österreichische Arzt die Treppe hinauf eilte, gefolgt von Luise.
„Was meinen Sie, Doktor?“, rief sie verängstigt und faltete die Hände, wie zum Gebet. „Es ist doch nichts Ernstes?“
„Lass ihn doch erst einmal schauen!“, versuchte Friedrich sie zu bremsen und zog sie vom Bett fort. „Wie soll er etwas sagen können, wenn du andauernd dazwischenredest?“
Doktor Retzner ließ sich nicht von dem Gespräch ablenken. Er kannte das bereits und hatte schon vor vielen Jahren gelernt, einfach wegzuhören und sich nur auf seine Arbeit zu konzentrieren. Julie stellte sich neben ihn und beobachtete, wie er Hughs Atem überprüfte, seinen Puls maß und die Temperatur nahm. Schließlich richtete er sich auf. Sein schmales Gesicht legte sich in tiefe Falten.
„Was ist es?“, fragte Julie leise, jede seiner Regungen besorgt beobachtend.
„Nun“, er biss sich kurz auf die Lippen. „Er hat sich ganz offensichtlich eine Lungenentzündung eingefangen.“
Luise stieß einen kurzen, leise Schrei des Entsetzens aus. Genauso gut hätte er das Todesurteil für ihren ältesten Sohn verkünden können.
„Sind Sie ganz sicher?“, wollte Friedrich wissen, während er seine Frau an beiden Oberarmen stützte.
„Ja.“ Der Arzt nickte. „Es tut mir leid, aber ich kann nichts Großartiges für ihn tun. Das muss er alleine schaffen. Halten Sie ihn möglichst warm und flößen Sie ihm so viel heißen Tee ein, wie es nur geht und wenn das Fieber zu hoch wird – dann versuchen sie es mit Wadenwickel.“
„Aber...das kann doch nicht alles sein!“, rief Luise verzweifelt und presste sich die Hände vors Gesicht.
„Ich komme gleich morgen Früh wieder vorbei“, versprach Doktor Retzner. „Sehen Sie unbedingt zu, dass er nicht friert! Ich besorge Ihnen auch noch ein paar dickere Wolldecken und jemand muss über Nacht Wache halten.“
„Das kann ich tun!“, rief Julie sofort.
„Kommt nicht in Frage!“, donnerte Friedrich. „Du bist den ganzen Tag auf den Beinen und brauchst deinen Schlaf! Deine Mutter und ich können uns abwechseln! Du versuchst zu schlafen und keine weitere Diskussion!“
„Ja, Vater“, sagte Julie leise, wenn auch mit innerem Widerwillen. Sie verstand doch ein klein wenig etwas von Medizin mittlerweile. Sie wollte Hugh jetzt beistehen!
Doktor Retzner verabschiedete sich, unzufrieden, nicht mehr tun zu können. Manchmal, dachte er, während er die Türe hinter sich zuzog und hinaus ins Freie trat, ist es ein verdammt frustrierender Beruf. Man will helfen und kann nicht, man will Leben retten und hat keine Ahnung, wie man es anstellen soll, weil es keine Möglichkeiten gibt oder weil wir an unsere Grenzen als Mediziner stoßen, an die Grenzen dessen, was wir wissen.
Er blieb stehen, hob sein schmales, müdes Gesicht dem schwarzen Nachthimmel entgegen. Die Regentropfen fielen kalt auf seine Haut. Er schloss die Augen. Diese Aussichtslosigkeit, diese Hilflosigkeit! Wie konnte er Hubert nur helfen? Wie konnte er sein Leben retten? Nicht nur um Huberts Willen und deshalb, weil er sich als Arzt dazu verpflichtet fühlte – für Julie vor allen Dingen, für Julie wollte er den jungen Mann am Leben erhalten. Sie würde es ihm nie verzeihen, sollte er es nicht schaffen.
Langsam ging Hardy Retzner weiter. Es half nichts, er musste endlich aufhören, sich selbst zu belügen. Ein sanftes Lächeln spielte um seine Lippen, während er langsam durch die Dunkelheit spazierte. Jeden Morgen wartete er voller Sehnsucht und Vorfreude darauf, dass die Tür der Arztpraxis aufschwang und die helle, fröhliche Stimme ihn und Doktor Stankovski begrüßte. Wenn sie strahlend und glücklich, diese Arbeit verrichten zu dürfen, im Hinterzimmer verschwand, um sich umzuziehen. Verträumt suchte der junge Arzt sich seinen Weg über die matschigen Wege, durch die ausgestorbenen Gassen zwischen den Wohnhäusern bis zur Hauptstraße. Er durfte nicht länger vor sich selbst verleugnen, was dieses einfache, ehrliche und doch so besondere Mädchen ihm bedeutete, dass sie schon längst sein Herz erobert hatte, ohne es vermutlich überhaupt auch nur zu ahnen. Sie war noch fast zu jung, um zu wissen, was Liebe bedeutete, aber doch nicht zu jung und er war fest entschlossen, um ihre Hand anzuhalten, sobald sie in Oregon angelangt sein würden. Wenn er dort erst einmal seine eigene Arztpraxis eröffnet haben würde und ihr eine sichere Zukunft bieten konnte – dann würde er sie bitten, seine Frau zu werden. Er wollte sie an seiner Seite haben, jeden Tag und dieses bezaubernde Mädchen sein Eigen nennen können.
Irgendwann, dachte er, wird es soweit sein und dann wird sie vor mir stehen und ich werde sie fragen, ob sie mich heiraten will. Und sie wird mich mit ihrem eigenen, hinreißenden Lächeln ansehen und das wird der Beginn eines neuen Lebens sein!
Wände stürzten auf ihn ein, Pferde galoppierten auf ihn zu, überrannten ihn. Die Kutschenräder holperten über ihn hinweg, begruben ihn bei lebendigem Leib auf der Straße. Dann war da plötzlich Suzie. Sie stand über ihm und trug nur eine weiße, mit Spitzen besetzte Corsage...dieselbe, die sie auch bei ihrem zweiten Treffen vor einer Wochen getragen hatte. Wie schön sie aussah, wie unglaublich attraktiv und erregend! Sie hatte sich gefreut, ihn wiederzusehen und diesmal hatte er gleich gewusst, was er von ihr haben wollte. Sie hatte ihn mitgenommen, hinauf in ihr Zimmer und diesmal war es anders, intensiver und noch schöner gewesen. Hugh lächelte. Er wollte die Hand nach ihr ausstrecken, doch in dem Augenblick, da er sie berührte, löste sie sich in Luft auf und an ihre Stelle trat... Ein Offizier stand mit einem Mal über ihm, brüllte zu ihm hinab, er solle gefälligst aufstehen und nicht faul herumzuliegen. Er solle sofort die restlichen Kutschen anspannen, damit sie von hier fort kämen. Erschrocken wollte Hugh aufspringen, dem Befehl Folge leisten, doch er konnte nicht, nicht ein Glied seines Körpers gehorchte ihm. Jede Bewegung war unmöglich und er wartete angstvoll darauf, was dieser ihm völlig unbekannte Soldat nun mit ihm anstellen würde...
„Er ist entsetzlich unruhig!“, rief Luise verzweifelt durch die offene Tür hinunter, was Julie dazu veranlasste, ihr Abendessen stehenzulassen und die Stufen der Treppe hinaufzurennen, immer zwei Stufen auf einmal nehmend. Sie verfing sich fast in einem der Unterröcke und stieß ein leises Schimpfwort aus, das ihre Mutter zwar hörte, aber geflissentlich ignorierte.
„Er redet ununterbrochen wirres Zeug, das ich kaum verstehe und wenn, dann begreife ich nicht, was es bedeuten soll“, sagte Luise stattdessen und legte ihre Hand auf die Stirn ihres ältesten Sohnes.
„Das Fieber ist wieder gestiegen“, erkannte Julie auf einen Blick und griff nach Hughs Handgelenk, um den Puls zu fühlen. „Schnell und unregelmäßig“, stellte sie sachlich fest. „Lass uns Wadenwickel machen und ihm wieder Tee einflößen!“
„Gut, wenn du meinst, lass es uns versuchen.“ Luise richtete sich auf. Sie war nun doch sehr froh, ihrer Tochter nicht verboten zu haben, Doktor Retzner in der Praxis zu helfen. So verstand sie ein wenig von Heilkunde und wusste wenigstens gleich, was gut oder schlecht für Hubert sein würde. Seit drei Tagen lag er nun hier, in diesem Dämmerzustand zwischen Delirium und Wachphasen, zwischen Genesung und hohem, lebensgefährlichem Fieber.
„Sie müssen Geduld haben“, hatte Doktor Retzner ihnen erklärt. „Der Körper muss erst Abwehrstoffe bilden, vorher kann er nicht gesund werden. Diese Zeit müssen Sie ihm einräumen.“ Und auf Luises Frage, wie lange das dauern könnte, hatte er nur die Schultern heben können: „Vielleicht eine Woche, vielleicht auch vier, das hängt davon ab, wie schlimm es ihn erwischt hat. Das aber sehen wir erst im Laufe der nächsten Tage.“
Die Sonne kam hinter den grauen Regenwolken hervor und spiegelte sich in den unzähligen Pfützen und Teichen, die sich überall auf der Wiese und rund um die Kirche gebildet hatten. Endlich schien das schlechte Wetter gegen den Frühling und die steigenden Temperaturen verloren zu haben.
Nikolaus hüpfte die Hauptstraße der Stadt hinab, in der sie nun doch länger als ursprünglich geplant hatten bleiben müssen. Der schmächtige, braunhaarige Junge sprang über eine Pfütze und überquerte die Straße. Die Schule war wieder einmal geschafft und nun hieß es, Miklós im Stall und bei den Pferden zu helfen, eine Arbeit, die er sehr viel lieber tat als zur Schule zu gehen und zu lernen. Er liebte den Geruch der großen, kräftigen und doch so sanften Tiere und die Art, wie der kleine Ungar ihn lehrte, mit ihnen umzugehen.
Der Platz, auf dem das Lager der Auswanderer errichtet worden war und die Scheune sich befand, stand fast gänzlich unter Wasser. Bei jedem Schritt gab die durchweichte Erde unter ihm nach und er spürte die Nässe durch seine Lederschuhe. Nikolaus rannte, um die Pfützen und Teiche hinter sich zu lassen. Keine zwei Stunden später war er mit seiner vertrauten Arbeit fertig und er lief denselben Weg zurück. Er wusste, dass er spät dran war und dass seine Mutter wieder böse mit ihm sein würde. Umso weniger achtete er darauf, wohin er seine Füße setzte. Einmal rutschte er aus, als er die Brücke über den Hochwasserführenden Fluss gerade hinter sich gebracht hatte, doch er tat sich nicht weh und so achtete er auch nicht weiter auf seine Kleidung, an der nun Schlamm klebte. Schließlich erreichte der Junge das Pfarrhaus. Er stieß die Tür auf und sprang ins Innere.
„Wie siehst du denn aus?“ Der Aufschrei seiner Mutter ließ ihn zusammenzucken. „Sofort ziehst du dir die Schuhe aus und stellst sie vor die Tür und später wirst du sie saubermachen! Ach, jetzt sieh nur, was du für Dreck mit hereingebracht hast!“
„Entschuldigung“, murmelte Nikolaus betreten und entledigte sich seiner mit Erdklumpen behafteten Stiefel.
„Und dann setz dich hin und iss“, befahl Luise streng, während sie seinen Teller nahm und ihn mit der Erbsensuppe füllte.
Nikolaus verzog das Gesicht, doch er beschwerte sich nicht, sondern tat, wie ihm befohlen und begann zu essen.
„Hubert?“, rief Luise nach oben und horchte. „Willst du auch noch ein wenig etwas haben? Du musst bald wieder bei Kräften sein, vergiss das nicht!“ Sie wartete.