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Oben, in seinem Zimmer, richtete ihr ältester Sohn sich langsam ein wenig auf, sodass er sich auf die Ellenbogen stützen konnte. Ihm schwindelte, doch er versuchte tapfer, das Gefühl zu ignorieren.
„Ja“, rief er leise zurück. „Aber bitte nicht zu viel!“
Es ging nur allmählich aufwärts mit ihm, nur ganz langsam hatte sich sein Zustand in der vergangenen Woche gebessert. Er hatte fast zehn Kilo verloren, was ihn völlig abgemagert erscheinen ließ und er fühlte sich auch schwach und noch weit von seiner alten Form entfernt. Seit fast drei Wochen lag er nun hier und hatte nichts außer Pfefferminztee zu sich nehmen können, aber er lebte. Die Lungenentzündung war überstanden und nun musste er zusehen, dass er schnellstmöglich wieder zu Kräften kam. Jeden Tag konnte der Aufbruch mit einem Wagentreck gen Westen bevorstehen und er konnte nicht zulassen, dass seine Familie sich diesem nicht anschließen konnte, weil er noch nicht wieder stark genug war.
Luise brachte ihm eine Schale mit Suppe nach oben und Hugh richtete sich vollends auf, um sich gegen die Wand, hinter dem Bett zu lehnen. Ohne Stütze sitzen konnte er noch nicht, dazu war er noch zu schwach.
„Hardy wird nachher noch einmal vorbeischauen“, bemerkte Luise, während sie ihm die Schale und den Löffel reichte. „Geht es?“, fragte sie zärtlich und wollte ihm zur Hand gehen, doch Hugh winkte hastig ab.
„Natürlich geht es! Keine Sorge! So weit bin ich schon wieder auf dem Damm!“
Er wollte sich nicht bemuttern lassen, dazu fühlte er sich zu erwachsen. Außerdem glaubte er wirklich, es ginge ihm schon wieder viel besser, dank der Hilfe und hervorragenden Betreuung von Doktor Retzner. Jeden Tag sei er hier gewesen, hatte Julie ihm berichtet und immer wieder hätte er andere Medikamente ausprobiert, die er von Doktor Stankovski erhalten habe und doch hätte es alles nichts geholfen.
Aber ich lebe ja noch, dachte Hugh erleichtert und aß langsam die heiße Suppe. Ich lebe und werde überleben und ich werde Oregon sehen und wir werden dort ein eigenes Häuschen besitzen.
Bei dem Gedanken lächelte er vor sich hin. Die Vorstellung ließ ihn Vorfreude verspüren und er malte sich bereits aus, wie ihr Haus sein müsste, dann jedoch kam ihm ein ganz anderer Gedanke. Wie oft hatte er während dieser Fieberphasen an Suzie denken müssen, wie oft war sie vor seinem Auge erschienen und er hatte sich gefragt, ob sie wohl wusste, dass er hier lag. Sie bedeutete ihm etwas, auch wenn er kaum annehmen durfte, dass sie dasselbe für ihn empfand. Für sie war er vermutlich nichts weiter, als eine Nummer in der Liste ihrer Freier. Nur ein junger Mann, der ihr Geld dafür bezahlte, damit sie mit ihm schlief, damit er an ihr seine Triebe ausleben konnte. Er schluckte. Niemals durften seine Eltern davon erfahren, dass er – ihr ältester Sohn, christlich erzogen – bei einer Prostituierten gewesen war und das nicht nur einmal.
Die Suppe schmeckte ihm plötzlich nicht mehr, doch Hugh zwang sich, sie hinunterzuwürgen. Den einzigen, den er dafür verantwortlich machen konnte, war er selbst. Er ganz allein trug die Schuld daran, dass es geschehen war, weil er seine Wallungen und seine Begierden nicht unter Kontrolle gehabt hatte. Am liebsten hätte er es rückgängig gemacht – und andererseits doch auch nicht. Es waren zwei herrliche, wundervolle Nächte gewesen und er war Suzie dankbar, dass sie ihm erlaubt hatte, sich an ihrem Körper zu vergnügen. Er senkte den Kopf. Irgendwann würde er ihr das sagen. Vielleicht an dem Tag, an dem sie St. Louis wieder verlassen würden, um weiter nach Westen zu ziehen.
Die Sonne besaß trotz der frühen Tageszeit bereits eine ungewöhnliche Kraft und Wärme. Langsam schlenderte Julie neben Doktor Retzner über die Brücke des einstigen Flüsschens, das mit dem Regen der vergangenen Wochen gefüllt nun mehr an einen reißenden Strom erinnerte. Sie wollten sich ein wenig im Lager umsehen und sich um ein paar Kranke kümmern.
„Kaum zu glauben, dass es eine solche Menge Wasser auf einmal geben kann“, meinte der Österreicher und betrachtete mit gerunzelter Stirn den rauschenden, gurgelnden Fluss, der sich unter ihnen seinen Weg durch die Erde pflügte.
Julie musste lachen. „Wenn der Matsch erst einmal getrocknet ist und der Sommer kommt, wären die Leute bestimmt froh, wenn sie so viel Wasser hätten!“
„Das stimmt wohl“, musste Doktor Retzner ihr recht geben. „Im August ist er höchstwahrscheinlich ausgetrocknet.“
Eine Menschenansammlung hatte sich zwischen einigen Zelten und Wagen gebildet. Alle redeten durcheinander, einige schimpften, andere hoben hilflos die Schultern.
„Was ist denn da los?“ Alarmiert schlug Doktor Retzner diese Richtung ein und Julie beeilte sich, ihm zu folgen. Nicht nur deshalb, weil sie neugierig war, was dort vor sich ging, sondern auch, weil es durchaus sein konnte, dass ihre Hilfe benötigt wurde. Julie fühlte sich ausgesprochen nützlich umd wichtig, seitdem sie so viel über die Pflege von Kranken gelernt hatte und mit einer verantwortungsvollen Aufgabe betraut war. Ihr war bewusst, wie enorm sie sich in den vergangenen Monaten weiterentwickelt hatte und dass sie sich fast wie eine ausgebildete Schwester fühlen durfte. Sie erblickte Miklós zwischen den Wartenden.
„Was ist los?“, wollte sie von ihm wissen.
Der Ungar seufzte und zuckte die Schultern. „Nichts Schlimmes. Es sein bloß so, dass bald wir werden weiterziehen. Sehr bald sogar, ich fürchte!“
Julie und Doktor Retzner wechselten einen schnellen Blick. „Wo ist dieser Engländer, der uns hierhergebracht hat?“
„Er wird nicht mehr weiter mit uns fahren“, erklärte der Ungar. „Er hierbleibt, aber das...“ Er deutete auf einen großen, dürren Mann, der nur wenige Meter zwischen den anderen stand. „Das ist ab jetzt unser Führer. Er nennen sich Charlie.“
„Was?“ Doktor Retzner starrte Miklós an. „Das ist nicht dein Ernst! Und wie soll er heißen?“
„Charlie“, wiederholte der Ungar und nickte heftig mit dem Kopf. „Und das mit großem Ernst!“
„Charlie, schön.“ Der Österreicher seufzte. „Und weiter?“
„Nix weiter“, erklärte Miklós. „Er nur heißen Charlie.“
„Aha!“ Doktor Retzner verzog den Mund. „Na, von mir aus. Hauptsache, er bringt uns nach Oregon!“
„Übermorgen, wenn die Sonne aufgeht, brechen wir auf!“, hörten sie ihren neuen Treckführer nun erklären, der sie von nun an leiten sollte. Er sprach mit verzerrtem, undeutlichem Akzent, als habe er den Mund voller Kieselsteine und mit dem selbst Julie ihre Probleme hatte. „Das heißt, ihr habt morgen noch genug Zeit, euch um eure Wagen und die Zugtiere zu kümmern! Lasst die Pferde neu beschlagen, wenn es sein muss und repariert, was repariert werden muss! Wenn wir erst auf dem Weg sind, habt ihr dazu nur noch schwer Gelegenheit!“ Er holte weit mit dem Arm aus und deutete hinter sich, nach Westen. „Dort, meine lieben Freunde, dort draußen gibt es nicht mehr viel, außer Wildnis! Ein paar einzelne Städte, ein paar Ranches und Siedlungen – mehr nicht und alle liegen über viele Meilen verstreut! Also, seht zu, dass Tiere und Wagen euch durch dieses Land bringen können! Ihr seid ganz allein dafür verantwortlich! Ich kenne bloß den Weg, mehr nicht und wer bis übermorgen nicht fertig ist, den lasse ich zurück! Ich nehme niemanden mit, der nicht anständig gerüstet ist!“
Ein Murmeln und auch Schimpfen ob so viel Unverschämtheit ging durch die Menge. Die meisten sprachen mittlerweile gut genug Englisch, um das zu verstehen, was er ihnen mitgeteilt hatte.
„Übermorgen?“, fragte Julie und ein Schreck durchfuhr sie. Sie fasste Doktor Retzner am Handgelenk. „Aber...was wird aus Hugh? Er wird eine solche Anstrengung noch nicht schaffen!“
Der Österreicher seufzte tief, während sich seine Stirn in bedenkliche Falten legte. „Wir müssen den Frühling und den Sommer nutzen, um so weit als möglich vorwärts zu gelangen.“ Er überlegte kurz. „Er wird im Wagen mitfahren müssen und jemand anderer wird seinen Platz einnehmen und zu Fuß gehen...“
„Das werde ich tun!“, entschied Julie sofort. „Nikolaus ist zu klein und Mutter hält das auch nicht durch, aber, wenn ich meinen Rock anziehe, Sie wissen schon, den zum Reiten und die Stiefel dazu, dann...“
„...dann wird mich Euer Vater vor aller Augen erschießen“, vollendete Doktor Retzner voller Sarkasmus und verzog das Gesicht. „Ich halte das für keine sehr gute Idee!“
„Aber ich!“, rief Julie störrisch und raffte ihre Röcke. „Er wird es einsehen müssen, wenn er nicht Huberts Gesundheit aufs Spiel setzen will oder vielleicht sogar sein Leben und das tut er ganz bestimmt nicht! Niemals! Verlassen Sie sich nur auf mich!“
Doktor Retzner ächzte leise. „Hoffentlich“, murmelte er, nur zu sich selbst. „Hoffentlich täuschen Sie sich da nicht, Julie-Mädchen!“
Diese jedoch hörte ihn nicht mehr, denn sie war bereits losgestapft durch den Morast und die Pfützen, zurück Richtung St. Louis, um ihren Eltern und Brüdern die Nachricht zu verkünden, sofern Friedrich und Nikolaus schon zu Hause waren. Und dann würde sie in die Praxis laufen und ihre Lieblingskleidung waschen. Oh, wie freute sie sich! Raus aus diesen unpraktischen, nervtötenden Unterröcken, die nur schwer und umständlich waren und andauernd im Weg umgingen! Raus aus diesen Schnürstiefeln, die so unbequem waren, dass sie sie geradezu verteufelte! Ha, was würden ihre Eltern für Augen machen! Sie in einem knöchellangen Reitrock, der zwischen den Beinen wie Hosen getrennt war, und dazu in Cowboystiefeln – nie zuvor hatte sie erfahren, welch herrliche Freiheit solche Kleidung bedeutete. Welch entzückende Aussichten! Julie strahlte in sich hinein. Entschlossen schritt sie vorwärts. Jawohl, überraschen würde sie ihre Familie! Übermorgen früh würde sie eher aufstehen als die anderen und wenn sie dann nachkamen – voilá! Was würden sie für Augen machen! Das Risiko einer Bestrafung würde sie auf sich nehmen. Diesmal stand sie auf der vernünftigen Seite, auf der des Siegers und sie würde gewinnen! Dieses Mal würde sie nicht dulden, dass ihr Wille gebrochen wurde, diesmal nicht!
Schon in aller Früh am nächsten Morgen, kaum, dass es hell genug war, um die Hand vor Augen erkennen zu können, erklangen die ersten Hammerschläge von der Scheune her. So gut wie alle Pferde benötigten neue Hufeisen und Miklós und ein weiterer Ungar hatten alle Hände voll zu tun, wenn sie bis zum Abend damit fertig werden wollten. Die beiden waren die einzigen, die dieses Handwerk gut genug beherrschten, um die Pferde für die lange, unvorstellbar harte Reise vorzubereiten. Auch viele der restlichen Auswanderer, die bisher nicht zu ihnen gehört hatten, machten sich daran, ihre Kutschen auf Vordermann zu bringen und ihre Zelte abzubrechen, in denen sie die vergangenen Wochen zugebracht hatten. Sie wollten sich ihrem Treck anschließen und nicht länger in St. Louis herumsitzen und auf den nächsten warten. Vor allem die Leinenstoffe der Planwagen hatten mit all der Nässe an manchen Stellen Risse und Löcher bekommen, die geflickt werden mussten. Die Räder brauchten Schmiere und die Geschirre der Pferde mussten gereinigt und gefettet werden.
Doktor Retzner packte seine Instrumente zusammen und verabschiedete sich von seinem Kollegen Stankovski, der ihn nur äußerst ungern ziehen ließ. Außerdem steckte er Julies frisch gewaschenen Reitrock und die glänzend geschrubbten Stiefel ein, um sie ihr zu bringen, auch, wenn er es noch immer für keine sehr glückliche Idee hielt. Danach würden Friedrich und Nikolaus ihn bei den Mulis und dem Wagen brauchen und somit wäre der restliche Tag damit zugebracht, ihre Weiterreise vorzubereiten.
Die Stunden flogen dahin, bald wurde es Mittag, dann Abend. Ein kalter Wind kam auf und trieb dunkle Wolken über sie hinweg, ehe die Dämmerung einsetzte und auch die letzten Verbliebenen ihre Arbeiten einstellen mussten. Ein letztes Mal half Nikolaus beim Misten der Ständer, was ihn ein wenig traurig werden ließ. Auch Miklós schwieg an diesem Abend und erzählte keine seiner Geschichten.
Friedrich und Hardy Retzner kontrollierten noch einmal die Waagscheite und Deichsel ihres Wagens, ehe sie sich auf den Weg zum Pfarrhaus und zum Abendessen machten. Diese Nacht würde der Österreicher bei ihnen in der Küche schlafen, damit er keinesfalls den Aufbruch verpasste. Die beiden Männer schlenderten nebeneinander her, jeder in seine Gedanken versunken. Hier und dort brannte eine Lampe vor einem der Häuser, ansonsten herrschte eine geradezu andächtige Stille, als wüsste jeder in der Stadt, dass es nun erstmal wieder ruhiger werden würde, ohne die Neuankömmlinge vor den ersten Häusern. Allerdings würde der Zustand nicht lange andauern und bald würden die nächsten Trecks aus dem Osten die letzte Station vor dem unendlich erscheinenden, ungezähmten Westen der Vereinigten Staaten erreichen und alles würde wieder von vorn beginnen: Einige wenige blieben, doch die meisten zog es weiter, in der Hoffnung, auf bessere Bedingungen oder Bodenschätze, auf ein Stück gutes Land, eine eigene Ranch.
„Heute hat dieser Charlie schon die erste Rate, wie er es nennt, kassiert“, bemerkte Friedrich auf einmal und verschränkte die Hände auf dem Rücken.
„Die Rate?“, fragte Doktor Retzner ahnungslos. „Wofür eine Rate?“
„Na, seinen Lohn dafür, dass er uns weiter nach Oregon bringt!“, erwiderte Friedrich ungeduldig und schüttelte kurz den Kopf über so viel Begriffsstutzigkeit. „Für den Weg, der uns noch bevorsteht, damit er auf uns achtet, damit uns nichts zustößt! Allmählich frage ich mich, ob wir diesen Trail nicht auch alleine gefunden hätten!“
„Ah, geh!“ Der Österreicher machte ein ungläubiges Gesicht. „Das kann er doch nicht machen!“
„Natürlich kann er!“, entgegnete Friedrich. „Oder denken Sie, er bringt uns zu seinem Vergnügen über die Rocky Mountains? Nein, nein, schön wäre es gewesen!“
„Wieviel wollte er denn?“
„Fünf Dollar pro Familie!“ schnaubte Friedrich entrüstet. „Stellen Sie sich vor, fünf Dollar! Wenn Hubert nicht das Geld bei der Eisenbahn verdient hätte...gar nicht auszudenken!“
„Da werden wohl einige Siedler auf halber Strecke liegenbleiben oder sie stehen bei diesem Herrn in der Kreide“, kommentierte Doktor Retzner trocken.
„Ich hab’ einem jungen Ehepaar aus Norwegen ebenfalls die Rate bezahlt“, erzählte Friedrich bedacht. „Sie hätten sonst wohl ihren Wagen verkaufen und damit entweder hier zurückbleiben oder zu Fuß gehen müssen.“
Hardy Retzner räusperte sich. „Das würde ich wohl Ihrem Beruf zuschreiben.“
„Wie darf ich das verstehen?“
„Nun, ich hätte es ihnen nur gegen einen schriftlichen Vertrag geliehen!“
Friedrich stieß ein verächtliches „Pah!“ aus. „Das ist typisch Mediziner! Kein Vertrauen in die Menschheit und die Ehrlichkeit der einfachen Leute!“
Doktor Retzner wollte protestieren, doch er kam nicht dazu, weil Friedrich ihn ruckartig am Oberarm fasste. „Sagen Sie mir die Wahrheit, Hardy, die ganze Wahrheit. Ich werde sie Luise nicht verraten, sie würde sie vermutlich nicht verkraften, aber ich will es wissen, ich muss es wissen!“ Die beiden Männer schauten sich fest in die Augen. Der Österreicher ahnte, welche Frage nun folgen würde und er musste schluckten.
„Sagen Sie mir, ob Hubert es schaffen kann. Ganz ehrlich und ohne Schönmalerei.“
Ein schwerer, verzweifelter Seufzer war die Antwort. „Ich weiß es nicht, Pastor, ich weiß es wirklich nicht! Hugh, ich meine, Hubert ist stark und jung und wenn er auf dem Wagen fährt, hat er durchaus eine Chance! Vor allem, weil er so wieder zu Kräften kommen kann.“
„Dann wird Nikolaus die langen Fußmärsche übernehmen müssen“, murmelte Friedrich gedankenverloren.
„Das dürfen Sie nicht erlauben!“, widersprach Doktor Retzner ernst. „Der Junge ist viel zu zart! Er würde das nicht durchstehen!“
„Aber...“
„Ihre Tochter, Pastor, sie kann das. Wenn jemand es durchhalten kann, dann Juliane!“
„Das Mädchen?“ Friedrichs Augen weiteten sich. Er glaubte, nicht richtig gehört zu haben.
„Ja, Pastor, sie schafft das! Sie hat einen Dickkopf und ist zäh. Das konnte ich in den vergangenen Wochen häufig beobachten. Sie hält was aus! Geben Sie ihr die Möglichkeit, sich zu beweisen!“
Zweifeld runzelte Friedrich die Stirn. „Wir haben noch bis morgen Zeit! Bis dahin werde ich mir das durch den Kopf gehen lassen, aber jetzt lassen Sie uns zum Abendessen gehen. Meine Frau wartet bestimmt schon.“
Das Wetter schien kein Einsehen mit ihnen haben zu wollen, denn es regnete in Strömen, als am anderen Morgen die aufsteigende Helligkeit im Osten die Nacht vertrieb. Das Trommeln auf dem Dach des Pfarrhauses weckte Friedrich und das erste, was er wahrnahm, war der Geruch von frischgebackenem Brot, der durch den Flur und die Zimmer zog. Meine Güte! Wie lange musste seine Frau bereits wach sein, wenn sie schon frisches Brot gebacken hatte?
Langsam richtete er sich auf. Er zog sich an und warf einen Blick durch die angelehnte Tür des angrenzenden Schlafzimmers. Hubert und Nikolaus schliefen noch, er würde sie später wecken. Juliane war nicht hier und auch ihre Wolldecke schon fort. Vermutlich hatte sie bereits begonnen, den Wagen zu beladen. Friedrich warf einen Blick die Treppe hinab, in den kleinen Wohnraum des Pfarrhauses. Dort stand Luise am Herd und kochte ein paar Eier. Hardy Retzner war ebenfalls nicht zu sehen.
Nun, dachte Friedrich, kein Wunder. Er wird die Nacht auf dem Fußboden nicht sehr angenehm verbracht haben. Wahrscheinlich hilft er Juliane.
Die Vorstellung ließ ihn schmunzeln. Wenn sich da nicht etwas anbahnte zwischen den beiden, dann fraß er einen Besen! Es war doch eindeutig, dass die zwei sich gern hatten und sobald sie in Oregon angelangt sein würden, musste er sich Doktor Retzner einmal zur Brust nehmen und ihm dringend ans Herz legen, endlich um die Hand seiner Tochter anzuhalten!
Keine vierzig Minuten später hatten auch seine beiden Söhne gefrühstückt, als es auf einmal an der Tür klopfte und ein junger Mann den Kopf zur Tür herein streckte.
„Der Doktor schickt mich! Alle sollen sofort ihre Sachen packen und zur Scheune hinüberkommen! In einer Stunde geht es los!“
„Du lieber Himmel!“, entfuhr es Luise und sie sprang hastig auf. „So bald schon?“
„Ich habe noch überhaupt nichts zusammengepackt!“, erklärte Hubert und erhob sich ebenfalls.
„Ich auch nicht!“, rief Nikolaus und beeilte sich, ihm zu folgen.
„Dann trödelt nicht länger herum!“, bat Friedrich und hob die Arme. „Wir müssen zusehen, dass wir rechtzeitig zu den anderen stoßen!“
Auf dem Platz vor dem Stall hatten sich die Wagen und Gespanne aufgereiht, fertig für die Abreise. Stimmen schrien, riefen, einige lachten, andere schimpften. Überall herrschte Hektik und Aufregung. Irgendwo dazwischen, etwas an den Rand gedrängt, standen Julie und Doktor Retzner bei ihrem Wagen und warteten.
„Haben Sie Ihre Sachen alle schon eingepackt?“, wollte er jetzt von ihr wissen.
Julie nickte. „Ja, habe ich gleich heute Morgen verstaut, bevor irgendjemand wach war.“ Sie blickte zufrieden an sich hinab. Sie trug ihren Reitrock mit den Stiefeln und dazu eine Bluse und ein Regencape darüber. Zwar ließen die Schauer ein wenig nach, je länger der Morgen andauerte, doch das Wetter zeigte noch immer keine Gnade.
„Hoffentlich bleibt es nicht den ganzen Tag so scheußlich!“ Doktor Retzner hob den Blick gen Himmel und bezweifelte, dass seine Bitte erhört werden würde. „Oh!“, machte er dann, denn seine Augen hatten vier Personen entdeckt, die zielstrebig auf sie zueilten. „Jetzt gibt’s gleich ein großes Donnerwetter!“
Julie straffte die Schultern und machte ein störrisches Gesicht. Sie war offensichtlich bereit, es auf einen Kampf mit ihren Eltern ankommen zu lassen. Hardy Retzner atmete tief durch und lehnte sich demonstrativ unbeteiligt an Hans, eines der beiden Maultiere, der gemeinsam mit seiner Kumpanin Otto die Hektik um sich herum mit stoischer Ruhe ignorierte.
„Na, alles bereit?“, rief Friedrich, noch bevor er sie erreicht hatte. „Sind wir startklar?“
„Sind wir!“, versicherte der Österreicher und kratzte sich ahnungsvoll den Hals.
„Tut mir leid, dass wir erst jetzt kommen“, entschuldigte Friedrich sich und winkte seiner Familie, damit sie die restlichen Gepäckstücke nach hinten brachten, um sie im Wagen zu verstauen. Es war nicht viel: Ihre Koffer, die sie bereits aus Bremerhaven mitgebracht hatten, das Zinngeschirr, die Töpfe und Pfannen und die restlichen Decken. Mehr besaßen sie nicht. „Wir hatten nicht damit gerechnet, dass der Aufbruch so plötzlich erfolgt. Man hätte einem wenigstens gestern Abend Bescheid geben können, dass wir in aller Herrgottsfrüh schon die Stadt verlassen.“
‚Man’ wäre ihr Treckführer gewesen, der sich jedoch seit der Eintreibung seines Vorschusses nicht mehr um sie gekümmert hatte.
„Ich glaube, es geht los!“, schrie auf einmal jemand neben ihnen und kletterte auf seine Kutsche. Tatsächlich – Charlie ohne Nachnamen ritt auf einem großen, schwarzen Hengst zwischen ihnen hindurch. Er verkündete laut brüllend, dass sich alle in anständiger Reihenfolge hinter ihm einordnen sollten, sobald er das Zeichen zum Aufbruch geben würde.
„Nun, gut“, entschied Friedrich. „Hubert, du übernimmst das Gespann! Luise, Nikolaus, rauf mit euch!“
Er half seiner Frau auf den hohen Kutschbock hinauf, ehe sein jüngster Sohn flink hinterher kletterte. Hugh musste sich von Doktor Retzner stützen lassen, um auf der anderen Seite hinaufzukommen. Er war noch zu schwach, als dass er es alleine hätte schaffen können.
Friedrich beobachtete, wie die Wagen vor ihnen sich in Bewegung setzten; einer reihte sich hinter den nächsten. Eine eigenartige Stimmung überkam ihn. Hätte er geahnt, dass vergangenen Sonntag sein letzter Gottesdienst in der Kirche gewesen war – er hätte sich gebührend von den Menschen hier verabschiedet, die ihm ans Herz gewachsen waren. Komisch, dachte er, wie schnell sich der Mensch doch an etwas gewöhnt.
Die beiden Maultiere zogen ihren Wagen mit einem Ruck an und das riss Friedrich aus seinen Gedanken. Er drehte sich herum, um zu sehen, ob Doktor Retzner und Julie ihm folgten. Sie schienen auf der anderen Seite des Wagens zu sein, denn er hörte seine Tochter mit dem Österreicher auf Deutsch reden.
Zunächst mussten sie ein Stück den Weg zurück, den sie gekommen waren, um dann auf die Hauptstraße von St. Louis einzubiegen, die sie weiter nach Westen bringen würde. Das Lager blieb hinter ihnen zurück, mitsamt all den restlichen Menschen, die voller Hoffnung waren, irgendwo in diesem Land eine bessere Zukunft zu finden. Sie würden auch nicht mehr lange hier bleiben. Einige waren schon vor ihnen aufgebrochen, immer weiter, den Oregon Trail entlang, voller Zuversicht und überschäumendem Herzen, andere warteten auf einen anderen Treck oder wollten in einer anderen Himmelsrichtung ihr Glück versuchen.
„Jetzt geht’s noch ein letztes Mal durch die Stadt“, sagte Hardy Retzner auf Deutsch mit breitem, österreichischen Akzent. „Und dann heißt es endgültig ‚Lebewohl!‘“
„Sie werden doch nicht sentimental werden?“, fragte Friedrich streng, doch es gelang ihm nicht recht, seine eigenen Gefühle unter Kontrolle zu halten. Auch er verspürte einen Abschiedsschmerz im Herzen. Wenn er ehrlich war, hätte er nichts dagegen einzuwenden gehabt, hierzubleiben, doch ihr Ziel hieß Westküste. Nur deswegen war er in dieses fremde Land gekommen, deshalb hatte er Deutschland den Rücken gekehrt.
Sie gingen nun hinter dem Wagen und seine Augen wanderten hinüber zu seiner Tochter, die eifrig voranstapfte. Er sah sie zum ersten Mal an diesem Tag – er stutzte.
„Was...?“ Mit drei schnellen Schritten stand er bei ihr und packte sie unsanft am Arm. „Was, in aller Welt, trägst du für fürchterliche Sachen?“, zischte er wütend, damit nur sie ihn verstehen konnte. „Woher hast du dieses...dieses sündige Zeug?!“
Selbstbewusst warf Julie den Kopf zurück. Nur sie selbst wusste, wieviel Mut ihre Worte sie kosteten: „Ich trage praktische Kleidung zum Laufen, Vater!“
„Die anderen Frauen, die keinen Platz mehr auf einem Wagen gefunden haben, können sich auch anständig anziehen!“ Ein ungeheurer Zorn ergriff von Friedrich Besitz. Er schüttelte seine Tochter heftig, ohne zu merken, dass die Gespanne an ihnen vorbeizogen und sie zurückblieben. „Sofort wirst du in den Wagen klettern und dich umziehen!“
„Nein!“, rief Julie trotzig. Sie fühlte sich tief verletzt von der Behandlung durch ihren Vater, die alle anderen nun mitbekamen. „Wenn ich diese Sachen nicht tragen darf, gehe ich keinen Schritt weiter, sondern bleibe hier! Ich kann selbst entscheiden, was ich anziehe und was nicht! Ich bin in deinen Augen immerhin erwachsen genug, dass du mich verheiraten willst!“