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Dank bildgebender Verfahren können Hirnforscher heute darstellen, welche Gehirnregionen bei bestimmten Tätigkeiten besonders aktiv sind und dass verschiedene Regionen bei derselben Tätigkeit aktiv sein können. Ebenso offensichtlich ist, dass Können und Wissen im Gehirn völlig unterschiedlich verarbeitet und gespeichert werden. Dies bemerken Sie rasch, wenn Sie jemandem, der noch nie ein Fahrrad gesehen hat, alles nachlesbare Wissen zum Thema Fahrradfahren vermitteln: Die verschiedenen Typen und Größen von Fahrrädern, die Namen der einzelnen Teile, die Berechnung der Übersetzung, die Statik des Rahmens, den Reifendruck und den daraus resultierenden Abrollwiderstand, die Materialeigenschaften der eingesetzten Werkstoffe, die Hebelwirkung der Bremsgriffe und die Kraft, welche die Bremsbacken dadurch ausüben, sowie die daraus resultierende Bremswirkung, den optimalen Neigungswinkel beim Fahren von Kurven mit unterschiedlichen Radien bei verschiedenen und so weiter. Der Lernende weiß vielleicht bald alles über Fahrräder – aber wird er auch Fahrradfahren können? Kreuzen Sie die richtige Antwort an.
◽Ja
◽Nein
Sollten Sie auf diese Frage mit einem überzeugten »Ja« geantwortet haben, sind Sie vielleicht davon ausgegangen, dass unser Musterschüler heimlich Fahrradfahren geübt hat. Freuen Sie sich: Sie sind auf dem richtigen Weg. Wenn Sie jedoch tatsächlich davon ausgegangen sind, dass unser Proband sich ohne zu üben auf das Fahrrad gesetzt hat und sofort hervorragend fahren konnte: Suchen Sie sich doch vielleicht eine der obigen Beschreibung entsprechende Versuchsperson, führen Sie den beschriebenen Versuch durch und lesen Sie hier unbedingt weiter.
Die richtige Antwort lautet nein. Stellen Sie sich vor, dass unser ganzes Wissen im Gehirn auf dem »Dachboden« abgelegt wird. Dort stapeln sich die Kisten, Truhen und Schubladen. Und stellen Sie sich nun vor, dass alles, was das Können (also Tätigkeiten) betrifft, im Keller unseres Gehirns erarbeitet und aufbewahrt wird, denn da stehen unsere Trainingsgeräte. Wie Sie vielleicht schon wissen, werden Tätigkeiten durch Training gelernt und schließlich perfektioniert. Dies betrifft die Fußballspielerin ebenso wie den Klaviervirtuosen.
Beantworten Sie bitte die folgende Frage, bevor Sie weiterlesen: In welchen Bereich gehört das Sprachenlernen vor allem? Wissen oder Können?
◽Wissen
◽Können
Der folgende Hinweis wird Ihnen sofort Klarheit verschaffen: Sagen Sie üblicherweise »Ich weiß Englisch« oder doch eher »Ich kann Englisch«?
Sprache wird jedoch häufig so vermittelt und gelernt, als ginge es um das reine Wissen zu einem Thema. Deshalb werden Vokabeln gebüffelt und das Anwenden bestimmter Grammatikregeln für die Prüfung gelernt. Es ist kein Zufall, dass in Internetforen gefragt wird, ob und wie man 1000 Vokabeln in einer Woche lernen kann. Und all die auswendig gelernten Vokabeln landen – bildlich gesprochen – auf dem Dachboden und setzen dort recht schnell Staub an. So wissen wir dann vielleicht gerade noch, dass Tisch »table« heißt. Da wir dieses Wort aber erst bewusst vom Dachboden holen müssen (was hieß noch gleich Dachboden auf Englisch?), ist eine bestimmte und vielleicht sehr wichtige Situation schon längst vorbei, bis wir uns dazu hätten äußern können. Denn wir stehen im Keller bei den unbenutzten Trainingsgeräten – aber da ist nichts. Wir haben alle Wörter einzeln abgepackt und in Schubladen auf dem Dachboden eingelagert. Remo Largo schreibt in seinem Buch »Wie Kinder lernen«:
Kindgerechtes Lernen, das zu nachhaltigem Begreifen führt, wird in der Schule leider zu wenig gefördert. Hier wird viel zu viel auswendig gelernt und innerhalb kürzester Zeit auch wieder entsorgt, wodurch der Unterrichtsstoff nie wirklich als bleibendes Wissen verinnerlicht wird. Viele Eltern und Lehrer glauben irrtümlicherweise, Auswendiglernen führe zu guten Noten und bestandene Prüfungen garantierten Kompetenzen. Nachhaltiges Lernen besteht jedoch darin, dass durch eigenständige Erfahrungen neues Wissen und neue Fähigkeiten mit vorhandenem Wissen und vorhandenen Fähigkeiten verknüpft werden. (Largo 2010, S. 65)

Ich selbst hatte immer gute Noten in Französisch und Englisch. Ich erinnere mich aber auch noch sehr gut an meine Ängste im Schulzimmer. Im Französischunterricht haben wir alle jeweils die Sätze abgezählt, damit wir rechtzeitig wussten, mit welchem Satz der Grammatikübung wir später an der Reihe waren, um bloß keinen Fehler zu machen. Die übrigen Sätze hatten wir in der Anspannung dann vollständig ausgeblendet. Ich konnte sehr gut Vokabeln auswendig lernen und schnitt in Prüfungen auch bei der Anwendung der prüfungsrelevanten Grammatikregeln stets gut ab. Doch die Sprache sprechen konnte ich trotzdem nicht. In meinem Zwischenjahr in Lausanne habe ich wochenlang kaum gesprochen. Ich wusste, dass ich kaum Französisch sprechen konnte und war während der Schulzeit in der Ansicht bestärkt worden, dass ich keine Fehler machen darf. Lag der Fehler bei meinen Lehrern? Als ausgebildete Lehrerin sehe ich dies heute folgendermaßen: Wir Lehrpersonen lehren so, wie wir es selbst in unserer Schulzeit erfahren haben und wie es uns während unserer Ausbildung gezeigt wurde. Wir imitieren das, was wir in unserer eigenen Schulzeit im Klassenzimmer erlebt haben. Und als Lehrpersonen sind wir sogar besonders lange zur Schule gegangen. »Studenten werden später so Schule halten, wie sie unterrichtet worden sind« (Largo 2010, S. 153). Seit Konfuzius wissen wir: »Wer einen Fehler gemacht hat und ihn nicht korrigiert, begeht einen zweiten.« Wer also überzeugt am Irrtum des sinnvollen Paukens festhält, verbreitet ihn weiter. Lassen Sie uns aus diesem Teufelskreis ausbrechen und endlich gehirn-gerecht lernen!

3. Frage:Warum verbietet die Birkenbihl-Methode das Pauken von Vokabeln?Schlagen Sie die Antwort hinten im Buch nach (S. 143)
Modell des Lernpythagoras
Modell des Lernpythagoras

Sie kennen inzwischen die beiden Lernkurven für Wissen und Können sowie die dazugehörigen Metaphern. Vera F. Birkenbihl hat diese Grafiken häufig gezeichnet und immer wieder erklärt, da die Unterscheidung von Wissen und Können für ihre Methoden zentral sind. Der diplomierte Erwachsenenbildner und zertifizierte Birkenbihl-Trainer Stefan Holenstein hat sich mit ihr oft darüber ausgetauscht und sich mit der Frage beschäftigt, wie die beiden Bereiche beim Lernen zusammenspielen. Stellen Sie sich noch einmal das Haus vor, in dem sich auf dem Dachboden Wissen stapelt und im Keller die Trainingsgeräte stehen. Sie bewegen sich in den Räumen dazwischen. Es sind Ihre Kompetenzen, die Sie stetig ausbauen, indem Sie sich unter dem Dach mit dem nötigen Wissen bedienen und im Keller fleißig Ihre Fertigkeiten trainieren. Das Verhältnis von Können und Wissen beeinflusst die Kompetenz. Um dies zu veranschaulichen, entwickelte Stefan Holenstein das Modell des Lernpythagoras. Er präsentierte es im September 2012 im Rahmen eines Birkenbihl-Lehrer-Pilottreffens erstmals einem größeren Publikum. Die Rückmeldungen der Teilnehmenden aus Deutschland, Österreich und der Schweiz waren sehr positiv.

Das Modell[1] basiert auf dem bekannten Satz des Pythagoras: a2 + b2 = c2.
Wissen und Können stellen die beiden Seiten (Katheten) eines rechtwinkligen Dreiecks dar. Die dem rechten Winkel gegenüberliegende Seite ist die Hypotenuse, welche im Modell des Lernpythagoras dem Kompetenzfaktor entspricht. Das Modell des Lernpythagoras sieht also folgendermaßen aus: W2 + K2 = KF2. In der langen Form: Wissen2 + Können2 = Kompetenzfaktor2. Aus dem Resultat die Wurzel zu ziehen, ersparen wir uns, weil das Ergebnis eine hervorragende Metapher für die Kompetenz als Ganzes darstellt.
Die Fläche, die sich je nach Länge der Katheten ergibt, sagt etwas darüber aus, wie kompetent jemand ist. Je länger die zwei Seiten sind, desto größer wird das Quadrat. Oder anders formuliert: »Viel Wissen« und »viel Können« führt zu »viel Kompetenz«.

Betrachten wir das am Beispiel des perfekt ausgebildeten Fahrradtheoretikers, der nahezu alles über das Fahrradfahren weiß – jedoch noch immer nicht Fahrradfahren kann. Sie werden mit mir einig sein: Es braucht Wissen und vor allem auch Können, um schließlich erfolgreich Fahrrad zu fahren. Mit dem Pythagoras lässt sich dies visualisieren, indem die beiden Katheten in die fünf Kategorien Einsteiger (E), Fortgeschrittene 1 (F1), Fortgeschrittene 2 (F2), Profi (P) und Meister (M) eingeteilt werden. So entsteht eine Skala mit Werten von 1 bis 5. Diese können nun in die Formel eingesetzt werden.

Ich lasse meine Schülerinnen und Schüler ab und zu ihre eigene Englischkompetenz einschätzen. Wenn sich eine Lernende beim Wissen (Wissen über themenbezogene Inhalte in der Fremdsprache sowie vorhandenes Regelwissen) 1.8 Punkte und beim Können (Englisch sprechen und schreiben können) 3 Punkte gibt, errechnet sie eine Kompetenz von 12.24 Punkten (1.82 + 32 = 12.24). Dieser Wert lässt sich nun mit jenem von anderen Schülerinnen und Schülern vergleichen. Natürlich beruht das Resultat auf der Basis einer Selbsteinschätzung, bietet aber durchaus einen Anhaltspunkt für die tatsächliche Kompetenz.

Vielleicht möchten Sie Ihre eigenen Kompetenzen in einem bestimmten Bereich visualisieren? Hier haben Sie Gelegenheit dazu:

Sprechen wir von Kompetenz, dann meinen wir damit nicht ein einzelnes Element in den Bereichen Wissen und Können, sondern vielmehr das Resultat des Zusammenspiels der beiden Bereiche. Sie werden zu Handlungsfähigkeit verknüpft, die im »wahren Leben« relevant ist. Wie dies im Bereich des Sprachenlernens genau funktioniert, werden Sie am Ende dieser Buchlektüre wissen.
Intelligenz
Intelligenz
Bevor Sie auf den folgenden Seiten weiterlesen, legen Sie nun bitte Notizpapier bereit. Beantworten Sie dann die drei Fragen weiter unten. Sie dürfen als Antwort Ihre Annahmen notieren oder auch einfach mit »k. A.« (keine Ahnung) antworten. Auf die Lösungen stoßen Sie bei der weiteren Lektüre dieses Buches. Sollten Sie die Beantwortung der Fragen auslassen, bringen Sie sich gerade um eine wichtige Lernerfahrung, denn es gibt nur ein erstes Mal.

–Wie intelligent schätzen Sie sich selbst auf einer Skala von 1 bis 10 ein?
(1 = gar nicht intelligent, 10 = sehr intelligent/genial)
–Wann erscheint uns jemand besonders intelligent?
–Wovon hängt es ab, wie schnell jemand etwas ganz Neues lernt?
clear
Bei den Fragen im Vorfeld haben Sie sich dazu Gedanken gemacht, wie intelligent Sie sind. Die meisten Menschen stellen sich hier vor, sie müssten eigentlich erst einen »Intelligenztest« machen, und teilen sich gefühlsmäßig dort ein, wo sie glauben, in etwa hinzugehören. Vera F. Birkenbihl sagte zum Thema Intelligenzquotient: »Der sogenannte IQ gibt nicht an, wie intelligent jemand ist, sondern wie gut er mit unserem Schulsystem klarkommt.« Was macht einen intelligenten Menschen nun aus? Wann erscheint uns jemand besonders intelligent? An unseren Seminaren antworten die Teilnehmenden häufig:
Intelligent erscheint uns beispielsweise jemand, der
–über ein breites Allgemeinwissen verfügt oder
–sich gut und schnell ausdrücken kann oder
–etwas auf verständliche Weise erklären kann oder
–eine Brille trägt.
Und was hatten Sie notiert? Lassen Sie uns im nächsten Schritt einen Blick darauf werfen, was unter Intelligenz verstanden und wie der Begriff definiert werden kann.
Bedeutung des Intelligenzbegriffs nach Perkins
Am meisten beeindruckt hat mich immer die Definition von David Perkins, Professor an der Harvard Graduate School of Education, wonach Intelligenz lernbar ist. Er schlägt vor, dass wir die Intelligenz in drei Faktoren aufteilen.
Teil eins steht für die neuronale Geschwindigkeit. Stellen Sie sich vor, Sie sitzen ohne Vorkenntnisse in einem Vortrag über Astrophysik, in dem Ihnen der Referent etwas völlig Neues erklärt. Wie schnell können Sie das Vorgetragene einordnen? Gehören Sie eher zu den Schnelldenkern oder eher zu den langsamen Denkern? Oder liegen Sie irgendwo in der Mitte? Egal, wo Sie sich aus Ihrer Erfahrung heraus sehen, die Geschwindigkeit, mit welcher die Neuronen im Gehirn feuern, ist erblich bedingt und somit grundsätzlich vorgegeben. Sind Sie also eher ein Schnelldenker, haben Sie einfach Glück gehabt. Sie konnten mit Ihren Turbo-Neuronen in der Schule auch isolierte Lerninhalte schnell einordnen und hatten wahrscheinlich wenig Lernprobleme (waren sogar eher unterfordert). Langsame Lerner brauchen länger, um neue Inhalte zu verarbeiten. Sie sind darauf angewiesen, dass sie genügend Zeit haben, um neues Wissen einzuordnen und zu verankern und neue Tätigkeiten zu trainieren. In unserem Schulsystem fühlen sie sich oft dumm. Dabei sind sie einfach nur langsamer als andere und können die Lerninhalte ebenso gut lernen wie ihre schnellen Mitschülerinnen und Mitschüler – es dauert nur länger. Übrigens kann es auch Vorteile haben, langsamer zu sein. Stellen Sie sich vor, jemand braust mit seinem Sportwagen über die Autobahn. Ein anderer radelt mit dem Fahrrad an sein Ziel. Wer nimmt mehr Details von der Landschaft wahr? Oft haben langsame Denker den Vorteil, dass sie Dinge wahrnehmen, die den Schnelldenkern beim Vorbeibrausen entgehen. Ihre Langsamkeit zwingt sie sozusagen dazu, den Dingen genauer auf den Grund zu gehen, um sie zu verstehen. Neuronal langsam zu sein, hat also auch Vorteile. Sie kennen sicher Menschen in Ihrem Umfeld, welche insbesondere auch diese beiden Extreme belegen.

Perkins sagt, dass der zweite Bestandteil der Intelligenz unser bestehendes Wissensnetz ist. Wissen Sie über viele Themen Bescheid und wie groß ist Ihr jeweiliges Wissensnetz innerhalb jedes Themas? Wir könnten den Wissensbereich beinahe endlos erweitern. Sie erinnern sich an unseren Musterschüler, der sich eingangs mit dem Thema »Fahrrad« beschäftigt hat? Unser Gehirn ist, wie die Forschung seit längerem weiß, kein statisches Konstrukt, sondern bis ins hohe Alter sehr plastisch und anpassungsfähig. Es ist das einzige Organ, das wächst, ohne mehr Raum zu benötigen. Wir müssen also nie befürchten, dass es in unserem Schädel keinen Platz mehr hat. Diesen Teil der Intelligenz können wir beeinflussen und weiter ausbauen, indem wir unser Wissen erweitern.
Das Wissen besteht aus unzähligen verschiedenen Bezirken und Arealen, die durch eine Vielzahl von Verbindungen und Verknüpfungen miteinander vernetzt sind. Es gibt dichtere und dünnere Stellen; gewisse Bezirke kann man sich wohl strukturiert denken, einige Areale wiederum eher chaotisch. Das Wissensnetz verändert sich ständig; es wird darin laufend eingebaut, umgebaut und verändert, aber auch abgebaut und vergessen. (Steiner 2001, S. 134)
Der dritte Teil der Intelligenz nach Perkins ist unsere Methoden-Kompetenz. Kennen wir und unsere Lernenden verschiedene Methoden und Strategien zum Lernen oder nur eine einzige (z. B. monotones Auswendiglernen)? Hier liegt meiner Ansicht nach ein sehr großes Potenzial. Als Lehrerin ist es mein Bestreben, meinen Schülerinnen und Schülern möglichst viele verschiedene gehirn-gerechte Lernmethoden mit auf den Weg zu geben. Unsere Lernenden sollten ein großes Repertoire an geeigneten Methoden aufbauen können, indem sie verschiedene Lernmethoden während ihrer eigenen Lernphasen anwenden und ausprobieren dürfen. Schon sehr bald können sie die für sie persönlich passende und auf die jeweiligen Lerninhalte abgestimmte Methode selbstständig auswählen. Aber eben wirklich nur, wenn sie auch eine entsprechende Auswahl haben.
An den Rädchen von Teil zwei (Wissensnetz) und Teil drei (Methoden und Strategien) können wir also drehen. Durch Üben können wir indirekt auch am ersten Rädchen drehen. Denn auch jemand, der neuronal langsam ist, kann durch Training auf der Wirkungsseite so flink werden wie ein neuronal schneller Mensch.
Ob jemand neuronal schnell oder langsam ist, zeigt sich also, wenn auf einen Menschen etwas ganz Neues zukommt. Wenn der Mensch mit einem ganz neuen Thema (Astrophysik) oder einem ganz neuen Bewegungsablauf (Tanzschritt) konfrontiert wird. Um dies aufzuzeigen, machen wir in unseren Seminaren oft folgende Übung: Zuerst lassen wir die Teilnehmenden die Wochentage der Reihe nach aufsagen. Laut sagen sie diese vor sich hin: »Montag, Dienstag, Mittwoch …«. Dies geht erfahrungsgemäß sehr flott, alle Teilnehmenden halten locker mit und rufen laut die Wochentage. Das Aufsagen der Wochentage ist für alle Sprechenden nichts Neues und so gibt es auch keine großen Tempo-Unterschiede. Jeder kennt die Wochentage auswendig und hat für die Nennung dieser bereits eine »Autobahn« im Kopf angelegt. Entsprechend leicht fällt diese Übung – egal ob jemand neuronal schnell oder langsam ist.
Nach diesem Einstieg lassen wir die Teilnehmenden die Wochentage rückwärts aufsagen, mit Dienstag beginnend. Hier merken alle, dass das Tempo automatisch etwas niedriger ist und auch die Lautstärke etwas nachlässt. Das geht nicht mehr so flüssig, denn die Teilnehmenden müssen bei jedem Wochentag kurz überlegen, welcher Tag davor war. Trotzdem geht das noch ziemlich zügig, weil wir im Alltag auch wissen müssen, welcher Tag gestern war. Wir können das also gut re-konstruieren.
Die dritte Übung löst als Erstes immer Gelächter aus. Wir fordern die Teilnehmenden auf: »Sagen Sie nun noch einmal die Wochentage auf, diesmal bitte alphabetisch geordnet!« Versuchen Sie es selbst. Der erste Tag ist übrigens der Dienstag. Dazu hat nun wirklich niemand auch nur einen schmalen »Trampelpfad« im Gehirn. Da ist nichts im Gehirn, was die Wochentage in alphabetischer Form gespeichert hätte. Die Reihenfolge muss erst konstruiert werden. Hier zeigt sich nun, wer eher ein Schnelldenker ist und Neues rasch verarbeiten kann und wer eben einfach mehr Zeit benötigt, um die Wochentage alphabetisch auf die Reihe zu kriegen. Falls diese Reihenfolge in unserem Alltag Sinn machen würde und wir tagtäglich mit der alphabetischen Reihenfolge zu tun hätten, könnten wir diese bald alle genauso schnell aufsagen, wie wir es mit der normalen Reihenfolge Montag, Dienstag, Mittwoch … gewohnt sind.
Wir als Lehrpersonen sollten uns diese Übung immer wieder vor Augen führen und den langsameren Lernern in unserem Schulzimmer einfach mehr Zeit geben. Langsam darf nicht gleichgesetzt werden mit dumm! Im Rahmen unserer Seminare haben wir schon so oft erlebt, dass Erwachsene zu uns kommen und in der Pause erzählen, dass sie ihr ganzes bisheriges Leben lang immer geglaubt hätten, dass sie dumm sind. Eine etwa 45-jährige Frau kam einmal mit Tränen in den Augen zu mir und sagte zu mir: »Wissen Sie, alle habe zu mir immer ›die dumme Manuela‹ gesagt. In der Familie war ich schon immer ›die Dumme‹ und auch in der Schule war das so. Jetzt verstehe ich, dass ich einfach langsamer bin als andere. In meiner ganzen Schul- und Ausbildungszeit war es für mich immer so, als würde ich einem fahrenden Zug hinterherrennen, und ich wusste aber auch, dass, so sehr ich mich auch anstrenge, ich keine Chance haben würde, auf den Zug aufzuspringen!«.
Ich weiß heute, dass diese Geschichte kein Einzelfall ist. In fast jeder Klasse gibt es Schüler, die langsamer lernen. Leider erlebe ich immer wieder, wie schnell diese Kinder für immer als »dumm« abgestempelt werden. Trauen wir den Kindern etwas zu und vor allem: Hinterfragen wir die Methoden und nicht die Kinder. Jede Woche darf ich erfahren, dass sogenannte »dumme« oder »schwache« Schüler aufblühen, wenn sie gehirn-gerecht Lernen dürfen, wenn man ihnen dazu genügend Zeit lässt und sie gleichzeitig mit geeigneten Methoden unterstützt.
Die neun Intelligenzen bei Gardner
Im Rahmen unserer Kinder-Eltern-Seminare lassen wir jeweils die Kinder und ihre Eltern ihre Stärken auf der Basis der von Howard Gardner (Gardner, 2002) beschriebenen Intelligenzen bestimmen. Die Teilnehmenden kreuzen ihre zwei am ausgeprägtesten Intelligenzen an. Was würden Sie ankreuzen?
◽Sprachliche Intelligenz
◽Logisch-mathematische Intelligenz
◽Musikalisch-rhythmische Intelligenz
◽Räumliche Intelligenz
◽Körperlich-kinästhetische Intelligenz
◽Naturalistische Intelligenz
◽Interpersonale, soziale Intelligenz
◽Intrapersonale Intelligenz
◽Existenzielle Intelligenz
Was denken Sie, wie die Verteilung auf diese neun Formen von Intelligenz nach einigen hundert Teilnehmenden aussieht? Es hat sich gezeigt, dass die Stärken ziemlich gleichmäßig auf alle neun Intelligenzen verteilt sind. In unserem Schulsystem liegen die Schwerpunkte aber vor allem bei der sprachlichen und logisch-mathematischen Intelligenz. Wer seine Stärken und Interessen genau hier hat, wird fast automatisch eine gute Schülerin oder ein guter Schüler sein. Wer seine Stärken woanders hat, sollte diese zumindest in seiner Freizeit oder später einmal (nach dem Austritt aus der Schule) ausleben können, da diese Fähigkeiten andernfalls verkümmern könnten. Howard Gardner schreibt dazu:
Die Verbindung von sprachlicher und logisch-mathematischer Intelligenz ist zweifellos ein Segen für Schüler und Studenten wie überhaupt für jeden, der regelmäßig Tests absolvieren muß. Vielleicht hat die Tatsache, daß sich die meisten Psychologen und die Wissenschaftler überhaupt durch ein angemessenes Volumen beider Intelligenzen auszeichnen, zwangsläufig dazu geführt, daß diese Fähigkeiten die Intelligenztests dominieren. (Gardner 2002, S. 56)
Auch wenn die von Gardner beschriebenen Intelligenzen bisweilen kontrovers diskutiert werden, erscheint mir die Idee, dass es nicht nur eine Intelligenz gibt, wesentlich. Howard Gardner hat die Vielfalt des menschlichen Geistes beschrieben und nicht nur die kognitiven, sondern auch andere Intelligenzformen aufgelistet. Er sagt, dass wir Kinder nicht so eindimensional sehen sollten. Wenn wir nur auf die rein kognitiven Fähigkeiten der Lernenden achten, machen wir einen Fehler. Kinder sollten auch miteinander und mit sich selbst klarkommen. Sie sollten sich bewegen und sich mit ihrer natürlichen Umgebung beschäftigen dürfen.
Viele weitere Autoren sehen die Intelligenz schon lange nicht mehr als eine unveränderbare Zahl auf der IQ-Skala. Persönlichkeitstrainer Ken Robinson stellt nicht die Frage: Wie intelligent sind Sie? Sondern: Wie sind Sie intelligent? Er schreibt:
Wenn Sie wissen, dass Intelligenz vielgestaltig, dynamisch und individuell ist, können Sie an diese Frage anders herangehen. Und das gehört unbedingt dazu, wenn Sie Ihr Potenzial entdecken wollen. Denn wenn Sie Ihre Vorurteile über das, was Intelligenz ist, aufgeben, können Sie anfangen, Ihre ganz besondere Intelligenz neu zu sehen. Kein Mensch ist eine Zahl auf einer linearen IQ-Skala und nicht zwei Menschen mit dem gleichen IQ werden das Gleiche tun, die gleichen Passionen verfolgen oder in ihrem Leben gleich viel erreichen. Das Potenzial entdecken zu wollen bedeutet, sich auf alle Möglichkeiten einzulassen, auf die Sie die Welt erleben, und herauszufinden, wo Ihre wahren Stärken liegen. (Robinson 2010, S. 74)