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ERFURTER THEOLOGISCHE STUDIEN
im Auftrag
der Katholisch-Theologischen Fakultät
der Universität Erfurt
herausgegeben
von Josef Römelt und Josef Pilvousek
BAND 106

Sebastian Holzbrecher
Postkonziliare Konflikte
im Katholizismus der DDR

omnia vincit amor
für meine Familie
INHALTSVERZEICHNIS
Geleitwort Bischof em. Dr. Joachim Wanke
Vorwort
Abkürzungsverzeichnis
Einleitung
1.Forschungsgegenstand
2.Forschungsstand
3.Aufbau und Methodik
4.Quellenlage
5.Abgrenzung der Thematik
I.Der Aktionskreis Halle (AKH)
1.Krisen, Konflikte und Potentiale am Vorabend der Gründung
1.1Krisenhafte Phänomene
1.1.1„Autoritätskrise“
1.1.2„Priesterkrise“
1.2Kirchliche „Vorläufergruppen“ und Institutionen
1.2.1Studentengemeinde Halle
1.2.2„Korrespondenz“- Kreis
1.2.3„Erfurter Gesprächskreis“
1.2.4Bundesdeutsche Solidaritätsgruppen
2.Initialzündung - die Bischofsernennung in Magdeburg
2.1Konfliktreiche Rahmenbedingungen
2.2Gescheiterte Lösungsversuche
2.3Phasen ortskirchlicher Mitbestimmung
2.3.1„Stillhalteabkommen“ und hintergründige Diplomatie
2.3.2Gründungsmythos Bischofswahl
2.3.3Intrigen, Manipulationen und Proteste
3.Konstituierung und Konsolidierung
3.1Selbstverständnis, Ziele, Forderungen
3.2Strukturen, Mitglieder, Verbindungen
3.3Themen, Stellungnahmen, Positionen
3.4Ablehnung, Ignoranz, Sympathie
II.Basiskirchliche Entfaltung konziliarer Aufbrüche
1.Das Zweite Vatikanum und die Konzilsrezeption in der DDR
1.1Zentrale Konzilsaussagen
1.2Rezeptionsverständnis und Konzilshermeneutik
1.3Partielle Nichtrezeption von Konzilsaussagen
2.Brennpunkte der Auseinandersetzung
2.1Dresdner Pastoralsynode
2.1.1Verfrühte Pflichtveranstaltung
2.1.2Themen- und Statutenvorschläge
2.1.3Ausschluss von der Synode
2.1.4Fazit
2.2Katholisches Friedenszeugnis
2.2.1Basiskirchliches Friedensengagement
2.2.2.Kritik am ausbleibenden Friedenszeugnis
2.2.3Kirchenamtliche Friedensdiskussion
2.2.4Fazit
2.3Ökumenische Lernprozesse
2.3.1Interkonfessionelle Situation
2.3.2Dimensionen ökumenischer Annäherung
2.3.3Politische Ökumene
2.3.4Fazit
III.Konflikte mit der SED-Diktatur
1.DDR-Kirchenpolitik als Rahmenbedingung
2.Politische und staatliche Einordnung
2.1Die Arbeitsgruppe Kirchenfragen beim ZK der SED
2.2Die Dienststelle des Staatssekretärs für Kirchenfragen
2.2.1Informationsstand und Einschätzung
2.2.2Instrumentalisierungsversuche
3.Geheimpolizeiliche Repressionen
3.1Ziele, Methoden und Aktionen des MfS
3.2Zum Einsatz inoffizieller Mitarbeiter
3.2.1Informanten im Umfeld
3.2.2Inoffizielle Mitarbeiter in kirchlichen Institutionen
3.2.3Interne „Spitzel“
Exkurs: Interner Umgang des AKH mit Zuarbeiten für das MfS
4.Fallbeispiele staatlicher Zersetzungsmaßnahmen
4.1OV „Tabernakel“
4.2OV „Akademica“
4.3OV „Kanzel“
5.Bilanz des staatlichen Zersetzungswahns
5.1Aufklärung und Unterwanderung
5.2Theologisierung und Steuerung
5.3Differenzierung und Zerschlagung
6.Ein kirchenpolitischer „Störfaktor"
IV.Kirchenpolitische Allianzen gegen den AKH
1.Kirchenamtliche Allianzen?
2.Staatlich lancierte Klerusdisziplinierungen?
3.Abgestimmte Zersetzungsmaßnamen in den Jahren 1984/85?
3.1Drohungen, Verhöre, Sanktionen
3.2Innerkirchliche Deeskalationsversuche
3.2.1Klarstellungen und basiskirchliche Dialogangebote
3.2.2Kirchenamtliche Planspiele
Exkurs: Rechtsstatus des AKH
1.Kirchenrechtliche Normen
2.Rechtliche Expertisen
3.Konklusionen
4.Staatliche Bewertung kirchlicher Äußerungen
4.1Offizielle Aussagen bischöflicher Gesprächsbeauftragter
4.2Erkenntnisse aus inoffiziellen Quellen
4.3Staatliche Schlussfolgerungen
5.Versuch einer Zusammenfassung
V.Resümierender Ausblick
1.Autonome Konzilsrezeption
2.Disparate Zeugnisgemeinschaft
3.Katholische Zivilgesellschaft
Quellen- und Literaturverzeichnis
Anmerkungen
Personen-, Orts- und Sachregister
GELEITWORT
Der sog. „Aktionskreis Halle“ gehört zur Geschichte der Katholischen Kirche in der DDR. Es handelt sich um eine locker miteinander verbundene Gruppe katholischer Christen, die es wagte, trotz des Repressionsapparates des Ideologie-Staates DDR zu wichtigen Fragen der Zeit eigenständige Meinungen zu haben und diese untereinander und mit anderen zu diskutieren. Das ärgerte die Staatspartei, weil sie mit einem gewissen Recht argwöhnte, dass sich in diesem später so genannten „Aktionskreis Halle“ ein latenter Unruheherd formierte und betätigte, der weiter um sich greifen und so für die DDR destabilisierend wirken könnte.
Dazu kam, dass dieser Kreis auch Themen aufgriff, die besonders durch das 2. Vatikanische Konzil (1962-1965) innerhalb der Katholischen Kirche zunehmend an Bedeutung gewannen. Gerade etwa im 2. Teil des Konzilsdokumentes „Kirche in der Welt von heute“ wurden konkrete Aufgabenbereiche angesprochen, bei denen es um die Mitgestaltung einer gerechten, menschenwürdigen Gesellschaft aus der Kraft des christlichen Glaubens heraus ging – in diesem Text natürlich grundsätzlich und aus einer weltweiten Perspektive heraus formuliert. Auch grundlegende Fragen nach dem Selbstverständnis der Kirche, ihrem Wesen und Auftrag wurden in diesem Konzil thematisiert und überkommene Antworten der Theologie in einen neuen Horizont des Verstehens gestellt.
Es war das Anliegen der Konzilsväter, dass die Texte und die davon ausgehenden Impulse des Konzils weltweit in den Ortskirchen weiter bedacht und vor allem auf mögliche Konsequenzen für die einzelnen Teilkirchen in ihren z.T. ja recht unterschiedlichen Situationen hin geprüft werden sollten. In vielen Ländern fanden in der Folge des Konzils lokale Synoden statt, in der Bundesrepublik Deutschland etwa die Würzburger Synode aller dortigen Bistümer (1971-1975) und (im Beginn leicht zeitversetzt) in der DDR die Pastoralsynode in Dresden (1973-1975). Beide dienten letztlich dem Anliegen der Konzilsrezeption. Man versteht freilich den Verlauf und die Ergebnisse dieser beiden Synoden nur, wenn man bedenkt, in welchem gesellschaftlichen Kontext sie stattfanden.
Es ist kein Geheimnis, dass Kardinal Alfred Bengsch als Vorsitzender der Berliner Ordinarienkonferenz hier seine speziellen Sorgen hatte. Er sah die Gefahr einer möglichen Vereinnahmung, ja Gleichschaltung der Katholischen Kirche durch die kommunistische Partei, wie sie ja teilweise in manchen Ländern des damaligen Ostblocks erfolgt war. Sollte das nun mit Hilfe des „trojanischen Pferdes“ falsch verstandener bzw. missbräuchlich benutzter Schlagworte des Konzils (etwa „Friedensdienst“, „politisches Engagement der Christen“, „Dialog mit dem Atheismus“; vgl. schon vorher die politisch von den DDR-Machthabern instrumentalisierte Enzyklika von Johannes XXIII. „Pacem in terris“) weiter vorangetrieben werden? Das erklärt neben anderen Gründen (etwa das angebliche Fehlen einer Kreuzestheologie) seine Ablehnung gerade des genannten Konzilsdokuments „Kirche in der Welt von heute“. Er sah nur im Kurs einer klaren Distanz zwischen Kirche und Partei - sprich: DDR-Staat - die Identität und Eigenständigkeit kirchlich-katholischen Lebens gewahrt. Dafür warb Kardinal Bengsch. Dies hatte auch gerade im Blick auf die Situation der Kirche im Ostblock eine gewisse Evidenz. Aber das war damals schon unter einzelnen Katholiken, darunter auch Priestern, nicht zuletzt auch aus theologischen Gründen umstritten.
In dieser spannungsvollen Situation fanden sich die Protagonisten des Hallenser Gesprächskreises zusammen, um bewusst als gläubige katholische Christen, aber in einer gewissen Distanz zur kirchlichen Hierarchie, eine eigenständige Konzilsrezeption voranzutreiben. Dahinter stand natürlich auch eine Kirchenvision, die weniger „hierarchisch“ dachte als die vom „kirchlichen Berlin“ vorgegebene offizielle Marschroute. Das führte zu nicht unerheblichen Spannungen innerhalb der Katholischen Kirche in der DDR, nicht nur im Magdeburger Jurisdiktionsbezirk, wobei natürlich noch andere Ereignisse und Problemfelder der damaligen Zeit eine Rolle spielten. Nicht zu vergessen sind auch die revolutionären kulturellen Veränderungen der sog. 68er Jahre, deren Nachwirkungen via Fernsehen und Literatur (übrigens auch kirchlicher!) selbst in der DDR zu spüren waren.
Es ist vom Verfasser der vorliegenden Studie verdienstlich und mutig zugleich, sich in einer gründlichen und ausführlichen Untersuchung dieses delikaten Themas anzunehmen, auch angesichts der Tatsache, dass manche der damals handelnden Personen noch leben. Es geht ihm dabei auch um die Klärung der Frage, inwieweit es zu einer unbeabsichtigten oder gar beabsichtigten „Unheiligen Allianz“ zwischen der damaligen Kirchenleitung und dem DDR-Staat bei der „kirchlichen Domestizierung“ des Hallenser Kreises gekommen ist. Sehr präzise und m.E. objektiv werden die vorliegenden Quellen geprüft und in ihrer Eigenart und jeweiligen Tendenz gewürdigt, wie überhaupt dieser Studie zu bescheinigen ist, dass sie viele für das Thema wichtige kirchliche und staatliche Archive gesichtet und die vorliegenden Befunde umfassend und gründlich ausgewertet hat. So ist der Leser in der Lage, zu einer nachprüfbaren und ausgewogenen Beurteilung der damaligen Geschehnisse zu kommen, bei denen sich, das sei durchaus zugegeben, wie meist in der Geschichte, Licht und Schatten gegenseitig durchdringen.
Ich bin gewiss, dass diese Studie viele aufmerksame, vielleicht auch anders als der Verfasser urteilende Leser finden wird. Es wäre mein Wunsch, dass aus dem Rückblick auf einen spannungsvollen Wegabschnitt unserer Kirche damals Licht auf den heutigen Weg der Kirche in einer nicht minder spannungsvollen Zeit fällt. Meine Lernfrucht aus diesem hier vorgelegten Rückblick ist: Es kann in der Kirche nie genug an Transparenz, an gemeinsamem Gespräch und gegenseitigem Austausch geben. Und vor allem: Wir sollen uns innerkirchlich nicht gegenseitig vorschnell etikettieren und durch Feindbilder fixieren, sondern – in aller Unterschiedlichkeit der jeweiligen Prägungen und Denkweisen – uns auf die Hauptaufgabe einlassen, zu der Kirche zu allen Zeiten und unter allen gesellschaftlichen Rahmenbedingungen gerufen ist: auskunftsfähig für das Evangelium zu werden. Ich gebe zu: Nicht jeder ist berufen, Märtyrer zu werden. Aber wir alle sind berufen, Zeugen für den Ostersieg unseres Herrn zu sein.
Erfurt, im Juni 2013
Dr. Joachim Wanke
Bischof emeritus
VORWORT
„Greife niemals in ein Wespennest, doch wenn du greifst, so greife fest.“1 Der verstorbene Berliner Erzbischof Georg Kardinal Sterzinsky2 wies in einem Gespräch auf die Brisanz des Promotionsthemas „Aktionskreis Halle“ hin und fragte auffallend unauffällig, ob mir die Tragweite des Themas und der damit verbundene Griff ins sprichwörtliche „Wespennest“ bewusst sei. Zu jener Zeit war an eine innerkirchliche Aussöhnung oder gar ein bischöfliches Eingeständnis der Anwendung gefährlicher Ausschlussmechanismen nicht zu denken.
Die vorliegende Arbeit wurde an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Erfurt als Promotionsschrift angenommen und für die Drucklegung überarbeitet. Sie zeichnet die Geschichte des Aktionskreises Halle im Rahmen der Konzilsrezeption des II. Vatikanums nach, wohl wissend, dass es sich dabei vor allem um eine kontrastreiche Konfliktgeschichte handelt.
Dieses Thema wäre ohne die Hilfe und Unterstützung von verschiedener Seite nicht umsetzbar gewesen. An erster Stelle möchte ich meinem Doktorvater Prof. Dr. Josef Pilvousek danken, der mich ermuntert und begleitet hat, dieses Thema zu bearbeiten. Ohne seine wegweisende Pionierarbeit für die zeitgeschichtliche Katholizismusforschung, seine Freude und Begeisterung am historischen Arbeiten, seine Fürsprache, sein kluges Urteil sowie seine freundschaftliche Verbundenheit wäre diese Arbeit nicht möglich gewesen. Ebenfalls danken möchte ich Prof. Dr. Klemens Richter, Münster für die Erstellung des Zweitgutachtens.
Historische Quellen sind unverzichtbare Basis jeder historischen Arbeit. Dem Aktionskreis Halle danke ich herzlich für den uneingeschränkten Zugang zum Archiv des Kreises sowie Ursula Broghammer, Marga Schmidt und Elisabeth Brockhoff für den Zugang zu diversen Nachlässen. Explizit möchte ich Herrn Dr. Peter Willms und Herrn Joachim Garstecki für ihre Unterstützung und stete Begleitung meiner Forschungen danken.
Den (Erz-)Bischöfen Georg Kardinal Sterzinsky von Berlin, Hans-Josef Becker von Paderborn, Dr. Gerhard Feige von Magdeburg und Dr. Joachim Wanke von Erfurt danke ich für die Erteilung von Sondergenehmigungen für die Nutzung gesperrten Archivmaterials. Mein Dank gilt ebenfalls den kirchlichen Archivleitern Dr. Michael Matscha in Erfurt, Dr. Arnold Otto in Paderborn, Dr. Gotthart Klein in Berlin und Lic. iur can. Daniel Lorek in Magdeburg. Zugleich danke ich den Archivaren des Bundesarchivs sowie der Außenstelle Erfurt des Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes.
Der Konrad-Adenauer-Stiftung danke ich für die Gewährung eines Promotionsstipendiums sowie für die Aufnahme in das zeitgeschichtliche Promotionskolleg „Die Beziehungen zwischen den beiden deutschen Staaten und Gesellschaften in der Zeit ihrer Teilung (1949 – 1990)“ unter der Leitung von Frau Prof. Dr. Beate Neuss.
Dem Theologischen Forschungskolleg an der Universität Erfurt unter der Leitung von Prof. Dr. Benedikt Kranemann bin ich für die anregende Begleitung meiner Dissertation zu besonderem Dank verpflichtet. Dieser Dank gilt ebenso den Fellows des Theologischen Forschungskollegs, im Besonderen Prof. Dr. Peter Hünermann, Prof. Dr. Josef Wohlmuth, Prof. Dr. Andreas Merkt und Prof. Dr. Urs Altermatt sowie dem Direktor der Kommission für Zeitgeschichte in Bonn, Prof. Dr. Karl-Joseph Hummel.
Für die freundliche Gewährung von Druckkostenzuschüssen danke ich den Diözesen Erfurt, Magdeburg, Berlin und Würzburg.
Den Herausgebern der „Erfurter Theologischen Studien“ Prof. Dr. Josef Pilvousek und Prof. Dr. Josef Römelt bin ich für die Aufnahme meiner Dissertation in diese Reihe zu Dank verpflichtet. Ein besonderer Dank gilt schließlich Dr. Reinhard Krug, der mit großer Sachkenntnis das Lektorat übernommen hat.
Abschließend möchte ich meinen Eltern und Schwiegereltern, meinem Bruder Markus sowie meiner Frau Kim und unseren Kindern Julian, Valentin, Isabelle und Emilia danken, denen dieses Buch gewidmet ist.
Erfurt, Dezember 2013
Sebastian Holzbrecher
EINLEITUNG
Seit 1945 schwebte die Kernfrage – Ist Kirche und Christsein unter dem Kommunismus möglich und wenn ja, wie? – als Damoklesschwert über dem ostdeutschen Katholizismus. Nach einer anfänglich eher skeptischen Haltung, die sich an der Person Kardinal Preysings3 festmachen lässt, wurde diese Frage zunächst durch bischöfliche Metaphern zu beantworten gesucht. Dabei verglich man die Lage der katholischen Kirche in der DDR mit einer „Gärtnerei im Norden“, einem „fremden Haus“ und der Situation von „Daniel in der Löwengrube“, der den Löwen weder streicheln noch am Schwanz ziehen solle.4 Die weltanschauliche Distanz und eine gewisse Resistenz gegenüber der totalitären Diktatur der SED stellte bis 1989 ein zentrales Moment in der Identität katholischer Christen in der DDR dar. Dies führte zum Modus einer politisch abstinenten Kirche, zu der eine denkwürdige Sprachregelung gehörte: Kirchlicherseits vermied man es stets von der „Katholischen Kirche der DDR“ zu sprechen, weil man darin staatstragendes Potential erblickte. Die bleibende Distanz zur SED-Diktatur sollte durch eine Präposition kenntlich gemacht werden: „Katholische Kirche in der DDR“. Mit dieser Distanz zum Staat war jedoch zugleich eine Passivität gegenüber der ideologisch geformten, überwachten und seit 1961 eingemauerten Gesellschaft verbunden.5 Im Laufe der 40jährigen sozialistischen „Wüstenzeit“ der Kirche änderte sich jedoch das Verständnis dafür, welches Verhältnis die Kirche und die Christen gegenüber den hier lebenden Menschen einnehmen sollten. Zu diesem Prozess der kirchlichen Positionsbestimmung traten ab 1965 Aussagen und Anspruch des Zweiten Vatikanischen Konzils. Wie sollte die kleine Zahl von Katholiken in der DDR den geforderten Dialog mit der Welt, in diesem besonderen Fall auch einer atheistischen Einparteiendiktatur führen, wenn das Ziel staatlicher Kirchenpolitik die gesellschaftliche Zurückdrängung und Zersetzung der Kirchen war? Wie sollte die Brüderlichkeit des Gottesvolkes gelebt werden, wenn staatliche Organe und geheimpolizeiliche Spitzel nach Einfallstoren in die kirchliche Phalanx suchten? Wie sollte die missionarische Sendung der Kirche und des Einzelnen gestärkt werden, wenn das christliche Engagement durch die Staatsideologie manipuliert, vereinnahmt und missbraucht wurde?
Die innerkirchliche Beantwortung dieser und weitere Fragen führte seit Mitte der 1960er Jahre zu nicht unerheblichen Kontroversen auf verschiedenen Ebenen des kirchlichen Lebens. Vielen schritt die Umsetzung des Konzils nicht schnell genug voran, während anderen die anvisierten „Reformen“ zu weit gingen und eine Schwächung gegenüber der Diktatur zu bedeuten schienen. In dieser angespannten Situation gründete sich 1970 der Aktionskreis Halle, jene Gruppe aus Priestern und Laien, die vielen in der DDR als „Nestbeschmutzer“, den meisten als „entfant terrible“ des ostdeutschen Katholizismus galt und bis heute noch in bestimmten Kreisen gilt.
Die kirchengeschichtliche Arbeit ist darauf angelegt, historische, politische und theologische Dimensionen des Themas zu einer Synthese zusammenzuführen. Der Aktionskreis Halle hat sich in die konkrete geschichtliche Situation der DDR hineinbegeben und dabei dieses Land und seine Menschen als Ort und Ziel der kirchlichen Sendung realisiert und postuliert. Erscheint es nicht gerechtfertigt, aufgrund des Einsatzes all jener, die die DDR als ihre Heimat verstanden und hier Kirche für die Menschen sein wollten, von einem „Katholizismus der DDR“ zu sprechen? Eine solche Perspektive würde auch dafür sensibilisieren, dass sich die Kirche von ihrem Stiftungswillen und Auftrag distanziert, wenn sie sich aufgrund äußerer Einflüsse und Unwägbarkeiten von ihrem missionarischen Einsatz für das Evangelium dispensiert.
1.Forschungsgegenstand
Die zeitgeschichtliche Katholizismusforschung fokussierte in der ersten Dekade nach dem Fall der innerdeutschen Mauer 1989 auf den Ausgleich eines veritablen Informationsdefizites hinsichtlich der katholischen Kirche in der DDR.6 Es galt, die kirchlichen Strukturen und Entwicklungen seit 1945 anhand von Quellen zu erforschen und darzustellen.7 Themenschwerpunkte waren dabei unter anderem das Schicksal von Millionen katholischer Flüchtlinge und Vertriebenen, Biografien der ostdeutschen Bischöfe und bischöflich beauftragten Priester in den Bistümern und Jurisdiktionsgebieten in der SBZ/DDR sowie die Entstehung und das Wirken kirchlicher Institutionen am Beispiel der bischöflichen Caritas und der ostdeutschen Priesterausbildung in Erfurt. Mit der Erforschung des Aktionskreises Halle, für den sich allgemein die Kurzbezeichnung AKH durchgesetzt hat, drücken sich ein neues Forschungsmotiv und eine veränderte Forschungsperspektive aus. Der bisherige Fokus verschiebt sich dabei von den Strukturen und Personen der Institution Kirche zugunsten einer stärkeren Wahrnehmung des kirchlichen Lebens auf der Ebene der Gemeinden und Vereinigungen. Damit wird eine Zwischenebene in den Blick genommen, die einen Beitrag zu leisten vermag für eine zukünftig noch zu verfassende Sozialgeschichte der Kirche in der DDR.
Die Darstellung der Geschichte und Entwicklung des Aktionskreises Halle von 1969 bis 1989 ist zuerst im Kontext der Magdeburger Regional- und Bistumsgeschichte anzusiedeln.8 Wie es zur Gründung einer kirchlichen Gruppierung Ende der sechziger Jahre im Kommissariat Magdeburg, dem Ostteil des Erzbistums Paderborn, kam, was ihre pastoralen Ziele und theologischen Intentionen waren und wie sie sich im kirchenpolitischen Spannungsfeld zwischen SED-Staat und katholischer Kirche bewährte, sind entscheidende Eckpunkte bei der historischen Beschreibung und Einordnung dieser postkonziliaren Reformgruppierung. Da es sich beim Aktionskreis Halle um die einzige Gruppe dieser Art in der gesamten ostdeutschen katholischen Kirche handelt, die in alle Bistümer und Jurisdiktionsgebiete sowie in alle relevanten gesellschaftlichen und kirchlichen Themen hinein vernetzt war, avanciert er zu einem bislang einzigartigen Forschungsgegenstand. Die vielfältigen Verbindungen der Hallenser Protagonisten zu bundesdeutschen Priester- und Solidaritätsgruppen werfen natürlich auch die Frage nach grenzüberschreitenden kirchlichen und theologischen Interdependenzen auf.
Über den regionalgeschichtlichen Ansatz hinaus gewinnt die Darstellung des AKH im Hinblick auf die Rezeption des Zweiten Vatikanischen Konzils (1962 – 1965) an Relevanz und Bedeutung. Aus der Art und Weise, wie diese basiskirchliche Gemeinschaft - damit ist eine Gruppe von Priestern und Laien definiert, die sich jenseits territorialer Strukturen zusammenfand - das Recht für sich in Anspruch nahm, eine freie Gemeinschaft zu gründen und dabei bestimmte Konstitutionen, Dekrete und Erklärungen des Konzils ohne bischöfliche Autorisierung, ja oftmals gegen sie zu rezipieren, zu interpretieren und pastoral umzusetzen, ließen sich prototypische Rezeptionsweisen herausarbeiten, deren Legitimität vor dem Hintergrund ekklesiologischer Modelle zu analysieren ist. Darüber hinaus kann anhand exemplarischer Vergleiche mit den Positionen des Aktionskreises nachvollzogen werden, ob, wie und ab wann bestimmte Konzilsaussagen durch die ostdeutschen Bischöfe rezipiert wurden. Die komparative Auseinandersetzung mit dem Hallenser Aktionskreis und bestimmten Positionen der ostdeutschen katholischen Bischöfe ermöglicht die Diskussion verschiedener theologischer Fragen. Wie weit wurde die Geschwisterlichkeit des pilgernden Gottesvolkes umgesetzt und dadurch das bisherige eher klerikal dominierte Kirchenverständnis überwunden? Ist die katholische Kirche in der DDR in einen solidarischen Dialog mit ihrer Umwelt eingetreten und hat sie den von Gaudium et spes eingeforderten theologischen Ortswechsel hin zu einer Kirche in der Welt von heute vollzogen? Wurde das erneuerte Laienapostolat in der DDR wahrgenommen und von den Bischöfen gefördert oder distanzierte man sich von diesen konziliaren Aufbrüchen und verhalf dem Modell der „Katholischen Aktion“ letztlich zur Durchsetzung? Weshalb gab es in der DDR kein kirchliches Vereinswesen? Wie reagierte der totalitäre SED-Staat auf eine fest institutionalisierte katholische Reformgruppe und wie reagierte man schließlich kirchlicherseits unter den Bedingungen einer totalitären Diktatur auf interne Kritik und die zum Teil scharfe Infragestellung pastoraler und kirchenpolitischer Konzepte?









