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Innerkirchliches „Dissidententum“ und „Nonkonformismus“ waren in der katholischen Kirche in der DDR keine weit verbreiteten Phänomene. Ihre Erforschung ermöglicht daher kaum verallgemeinerbare Aussagen über den DDR-Katholizismus insgesamt, hinterfragt aber das Bild eines „monolithischen Blocks“, für den der ostdeutsche Katholizismus lange Zeit gehalten wurde. Dem Aktionskreis Halle kommt daher unter verschiedenen Blickwinkeln eine Sonderstellung als Kristallisationspunkt für die regionale Kirchen- und Theologiegeschichte Ostdeutschlands zu. Die Erforschung seiner Geschichte liefert daher einen pastoral sowie kirchenpolitisch angelegten Beitrag zu einer noch zu verfassenden Gesamtdarstellung der Kirchengeschichte der DDR.
Die leitenden Thesen dieser Dissertation lauten: Der Aktionskreis Halle hat theologisch legitimiert die Aussagen des II. Vatikanischen Konzils selbstständig und partiell autonom rezipiert und ist aufgrund der hieraus gefolgerten Positionen und Ansprüche in teils massiven Konflikt zum Magdeburger Bischof und der ostdeutschen Ordinarien- und späteren Bischofskonferenz sowie dem SED-Staat geraten. Durch seine Interpretation und Umsetzung von Geist und Buchstabe des Konzils in den 70er Jahren hat er Wege beschritten, die für einzelne Bischöfe Anfang der 80er Jahre anschlussfähig waren. Als wohl einzige öffentlich agierende katholische Vereinigung aus Priestern und Laien in der DDR hat er dazu beigetragen, dass sich kirchliches Leben jenseits von Pfarrgemeindestrukturen entwickeln konnte und hier neue Freiräume entstanden.
2.Forschungsstand
Beim Stand der Forschungen ist hinsichtlich der beiden Themengebiete Aktionskreis Halle und Konzilsrezeption in der DDR zu differenzieren. Zu Geschichte und Entwicklung des AKH liegen bislang eine Monographie9, ein Lexikoneintrag10 sowie verschiedene publizistische und wissenschaftliche Artikel11 vor. Auffallend ist, dass es vor allem Mitglieder des Aktionskreises selbst waren, die über ihn veröffentlichten.12 Darüber hinaus wurden die Gruppe und ihr Engagement in zeitgenössischen Kommentierungen bundesdeutscher Autoren13 ebenso thematisiert wie in jüngeren Beschreibungen zeitgeschichtlicher Sekundärliteratur.14
Der AKH wird dabei sowohl aus historischer, politikwissenschaftlicher, soziologischer und theologischer Perspektive betrachtet und als „innerhalb wie außerhalb der DDR[…]wohl bekannteste innerkirchliche Basisgruppe“15 beschrieben, die sich „kirchenkritisch, nicht kirchenfeindlich“16 „auf den Geist und die Beschlüsse des Zweiten Vatikanischen Konzils“17 berief und durch ihr Wirken ein „prophetisches Wächteramt“18 in der ostdeutschen Kirche wahrnahm sowie aufgrund der Konfrontation mit Staat und Kirche in einer „dreifachen Diaspora“19 existierte. Die bisherigen Publikationen über den Aktionskreis skizzieren zumeist knapp die Entstehung, Struktur und Tätigkeit der Gruppe und weisen in unterschiedlicher Ausführlichkeit auf die Auseinandersetzungen mit dem SED-Staat und den katholischen Bischöfen in einer „unheiligen Allianz“20 hin.21 Nur wenige Beiträge greifen in ihren Darstellungen und Einschätzungen auf Quellen zurück; zumeist handelt es sich um zeitgenössische Beobachtungen oder um Kompilationen bisheriger Darstellungen. Noch immer gibt es zum Teil erhebliche Differenzen darüber, was der Aktionskreis war und welche Ziele er verfolgte bishin, dass es nicht immer gelingt, die Abkürzung AKH exakt aufzuschlüsseln.22
Eine umfassende Analyse der ostdeutschen Konzilsbeteiligung und der anschließenden Konzilsrezeption in der katholischen Kirche in der DDR steht, ebenso wie für den bundesdeutschen Katholizismus23, noch aus. Erste Forschungen für die katholische Kirche in der DDR konnten Entwicklungslinien und zentrale Themen, beteiligte Personen und Institutionen sowie verschiedene Konfliktfelder der Konzilsrezeption herausarbeiten.24 Eine Verknüpfung beider Forschungsansätze in einer Geschichte der Konzilsrezeption durch den AKH ist bislang nur vereinzelt in den Blick gekommen.25
Trotz des keineswegs unprofilierten Forschungsstandes ergeben sich verschiedene Desiderate und offene Fragen. Bislang fehlt eine ausführliche Darstellung, Analyse und Einordnung dieser innerkirchlichen Basisgruppe aufgrund von Kategorien und Maßstäben, die sich am Selbstverständnis und dem historischtheologischen Kontext des Forschungsgegenstandes orientieren. Die bisher eher fragmentarische Übersicht zur tatsächlichen Aktivität des Kreises vermag es zudem nicht, die Relevanz seiner Beiträge für die katholische Kirche in der DDR überzeugend darzustellen und kritisch einzuordnen. Dies liegt nicht zuletzt im Mangel eines geeigneten Bezugssystems begründet, anhand dessen sein Wirken verglichen und beurteilt werden könnte. Die zahlreichen Darstellungen konstatieren zwar ausnahmslos die Konfliktsituation des Hallenser Aktionskreises zwischen Staat und Kirche und beschreiben die Auseinandersetzungen mitunter aus Sicht der Betroffenen. Der bisherige Forschungsstand entbehrt aber einer objektiven und umfassenden Darstellung dieser Konfrontationen anhand einer synoptischen Betrachtung unterschiedlicher Quellenüberlieferungen. Auch die Motive und Verantwortlichkeiten kirchlicher und staatlicher Stellen wurden bislang kaum thematisiert bzw. ausreichend zu ergründen und zu analysieren gesucht.26 Schließlich bleibt erläuterungsbedüftig, ob der Aktionskreis Halle nur ein Opfer staatlicher Zersetzungspraktiken war oder ob er nicht durch Unterwanderung und Infiltrierung durch das MfS passiv oder aktiv zum Vollzugsgehilfen staatlicher Interessen wurde.27
3.Aufbau und Methodik
Die vorliegende kirchengeschichtliche Arbeit gliedert sich entsprechend der historischen und theologischen Forschungsmotive in vier Hauptkapitel, denen sich ein resümierender Ausblick anschließt. Ausgehend von einer genetischen Darstellung der Geschichte, Struktur und des Wirkens des Aktionskreises Halle als postkonziliare Reformgruppe im ersten Teil wird im zweiten Kapitel die Konzilsrezeption durch den AKH konkret nachgezeichnet. Anhand dreier Themen von kirchlicher und gesellschaftlicher Relevanz wird die Konzilsrezeption des Aktionskreises exemplarisch analysiert und mit bischöflichen Rezeptionsbemühungen komparativ diskutiert.
Aufgrund der spezifisch ostdeutschen Situation einer Kirche im totalitären Staat ist es in einem dritten Hauptteil notwendig, die rein innerkirchliche Betrachtung des Aktionskreises um die staatliche Perspektive zu ergänzen. Dabei könnte der Eindruck entstehen, dass die Arbeit in zwei Teile - die Geschichte und Konzilsrezeption einerseits und die staatliche Auseinandersetzung andererseits - zerfällt. Um jedoch ein vertieftes Verständnis von dem zu erlangen, was der AKH war, durch sein Tun beabsichtigte und was er für die katholische Kirche in der DDR angestoßen und bedeutet hat, ist die Verschränkung beider Teile unabdingbar. Die Auseinandersetzung der Kirche mit der atheistischen Einparteiendiktatur sozialistischer Prägung ist für die DDR konstitutiv. Nur so kann das tatsächliche Umfeld, in dem sich die Rezeption der konziliaren Reformbemühungen bewähren musste, dargestellt werden. Diese Dimension unterscheidet die Situation des AKH elementar von der bundesdeutscher Priester- und Solidaritätsgruppen. Sie macht deutlich, dass die Verfolgung innerkirchlicher Reformanliegen in der DDR mit Repressionen und zum Teil existentiellen Gefährdungen verbunden sein konnte. Die politische und staatliche Bewertung sowie das daraus resultierende geheimpolizeiliche Vorgehen gegen einzelne Personen und den AKH insgesamt wird detailliert beschrieben, um die Menschenverachtung des SED-Staates herauszustellen und zugleich den Erfolg oder Misserfolg staatlicher Einflussnahme kritisch bilanzieren zu können. Dass eine gezielte staatliche Zersetzungsstrategie gegenüber dem AKH nicht ohne eine partielle Kooperation mit leitenden kirchlichen Stellen stattfinden konnte, wird eigens im vierten Kapitel aufgezeigt und kritisch hinterfragt. Der resümierende Ausblick bündelt die historisch-theologischen Darstellungen und synthetisiert die Ergebnisse in drei Begriffen und Modellen.
Grundlegend für die historische Arbeit ist das Quellenstudium in Archiven verschiedener Provenienz. Die zu bearbeitenden Quellen werden historisch-kritisch analysiert, eingeordnet und interpretiert sowie mit der Literatur zur zeitgeschichtlichen Katholizismusforschung vernetzt. Methodisch orientiert sich die kirchengeschichtliche Dissertation zunächst an der ereignisgeschichtlichen Darstellung von Vorgängen und Entwicklungen, um dabei nach auslösenden, hemmenden und begleitenden Faktoren zu fragen. Strukturgeschichtlich wird nach den Charakteristika der basiskirchlichen Gemeinschaft in der katholischen Kirche in der DDR gefragt. Theologie- und ideengeschichtlich kommen jene Auffassungen, Einstellungen und Konzepte in den Blick, die Personen und Gruppen wirksam beeinflusst und Handlungen legitimiert und motiviert haben. Als kirchengeschichtliche Arbeit ist die vorliegende Analyse der Hermeneutik theologischer Forschung verpflichtet. Kirchengeschichte wird dabei als theologische Disziplin betrieben, die nicht nur historische Fakten und Entwicklungen festhält, sondern auch zu theologisch relevanten Ergebnissen führt. Ein derartiger Zugang zum AKH legitimiert sich nicht nur a priori durch das fachspezifische Selbstverständnis und die damit verbundene Methodik. Eine theologisch ausgerichtete Heuristik empfiehlt sich auch durch das Forschungsobjekt selbst. Die Konzilsrezeption ist insofern keine bloß von außen an den Hallenser Aktionskreis herangetragene, analytische Matrix. Sie entspringt vielmehr dem Gründungsimpuls und der bleibenden Intention der Gruppe. Der in dieser Studie verfolgte historisch-theologische Ansatz vermag es deshalb, die Entwicklungen gerade nicht losgelöst vom Selbstverständnis des Forschungsobjektes zu deuten und einzuordnen. Ein explizit sozialgeschichtlicher, soziologischer oder politikwissenschaftlicher Zugang zum Thema AKH wird in dieser Untersuchung aufgrund der damit verbundenen Aporien aus Methodologie, Forschungsobjekt und Forschungsfrage nicht verfolgt. Die breite Quellenüberlieferung in den konsultierten Archiven erlaubt nicht zuletzt durch konkrete Überlieferungsvergleiche eine differenzierte Darstellung. Auf qualifizierte Zeitzeugeninterviews wurde nur dort zurückgegriffen, wo die ansonsten umfangreiche Quellenlage widersprüchlich oder inexistent ist oder Zeitzeugen zusätzliche Hintergrundinformationen geben können.28
4.Quellenlage
Die kirchengeschichtliche Bearbeitung des Aktionskreises Halle kann sich auf eine breite Quellenbasis stützen. Sowohl in privaten, kirchlichen als auch staatlichen Archiven und in universitären Forschungseinrichtungen finden sich Nachlässe, Korrespondenzen, amtliche Mitteilungen, Rundschreiben, Protokolle, Tonbandaufzeichnungen und Aktenvermerke des Kreises sowie in unterschiedlicher Ausprägung auch von kirchlichen und staatlichen Antagonisten. Diese Überlieferungsdichte wird durch die bereits edierten Quellenbände ergänzt und erlaubt in weiten Teilen eine detaillierte Darstellung und Erörterung.29
Der primäre Quellenbestand findet sich im Privatarchiv des Aktionskreises Halle, das als Depositum in der Forschungsstelle für kirchliche Zeitgeschichte in Erfurt lagert.30 Hier befinden sich Kopien der Rundbriefe, Protokolle der Vollversammlungen und Sprecherkreissitzungen, Mitgliederlisten, Empfängerlisten der Rundbriefe, Berichte über Aktivitäten, Vorträge sowie ein großer Teil der Korrespondenz des AKH und seiner Mitglieder. Das Archivmaterial ist durch verschiedene Vorarbeiten teilweise erschlossen und verzeichnet.31 Ergänzt wird dieses Privatarchiv, das den materiellen Ausgangspunkt der Forschungen darstellt, durch den Nachlass von Adolf Brockhoff 32 sowie durch private Aktensammlungen von Dr. Claus Herold33, Helmut Langos34, Joachim Garstecki35 und Dr. Peter Willms.36
Insgesamt vier Diözesanarchive in Magdeburg, Paderborn, Berlin und Erfurt beinhalten den kirchlichen Quellenbestand jener Bischöfe, Gremien und Institutionen, die sich offiziell und inoffiziell mit dem AKH befassten.37 Dieser Bestand ist im Vergleich zum Privatarchiv des AKH oder den staatlichen Quellen auffallend gering ausgeprägt und konzentriert sich vor allem auf die Jahre 1969/70 sowie 1984/85. Die Situation eines totalitären Staates und die latente Papierknappheit in der DDR haben die Amtskirche nicht selten von einer schriftlichen Fixierung bestimmter Fragen und Positionen Abstand nehmen lassen. Im Bistumsarchiv Magdeburg (BAM) konnten die Aktensammlungen zum Aktionskreis Halle eingesehen werden, die sich neben der Sammlung der AKH-Rundbriefe vor allem auf Briefe im Zusammenhang mit den „Magdeburger Vorgängen 1969/70“ konzentrieren. Die beiden Teilnachlässe von Weihbischof Friedrich Maria Rintelen38 und Bischof Johannes Braun39 sind hinsichtlich der bischöflichen Bewertung des AKH wenig aussagekräftig.40 Deutlicher tritt allein in der vorwiegend handschriftlich überlieferten Korrespondenz zwischen Weihbischof Friedrich Maria Rintelen und dem Paderborner Erzbischof Lorenz Kardinal Jaeger41 die Einschätzung von bestimmten Personen und Entwicklungen zutage. Eine Vielzahl von Akten des Bistumsarchivs beinhaltet personenbezogene Informationen, die aufgrund des Schutzes von Persönlichkeitsrechten nicht zugänglich sind. Hier erlauben die kirchlichen Akten keinen Vergleich zu privat überlieferten Quellen. Im Erzbischöflichen Archiv Paderborn (EAP) befinden sich Akten der kirchlichen Verwaltung sowie der amtlichen Korrespondenz zwischen Magdeburg und Paderborn. Vor allem bis 1970 ist durch die Akten des Magdeburger Kommissars und des Nachlasses von Lorenz Kardinal Jaeger eine detaillierte Rekonstruktion von Entwicklungen und Entscheidungen des Paderborner Erzbischofs möglich. Die vor allem im Nachlass Jaeger enthaltene Korrespondenz erlaubt einen weitreichenden Einblick in das Handeln des Erzbischofs hinsichtlich der Magdeburger Vorgänge. Der regelmäßige Briefverkehr zwischen Weihbischof Rintelen und Kardinal Jaeger scheint unter Bischof Braun keine Fortsetzung gefunden zu haben. Allerdings hat der Kardinal handschriftliche Aktenvermerke über die weitverzweigten Absetzungsbemühungen von Alfred Bengsch42 gegenüber Friedrich Maria Rintelen hinterlassen, die offensichtlich gezielt ein vom Berliner Kardinal konstruiertes Geschichtsbild korrigieren sollten. Im Berliner Diözesanarchiv (DAB) findet sich ein Teilnachlass des Berliner Erzbischofs Alfred Kardinal Bengsch.43 Dieser Quellenbestand erweist sich im Hinblick auf den AKH als wenig aussagekräftig, da er nur marginale Hinweise auf einzelne Personen des Aktionskreises enthält. Die ebenfalls im Berliner Diözesanarchiv befindliche Quellensammlung von Martin Höllen weist dagegen auch Hinweise und Schriftstücke zum AKH auf, die keinen Eingang in die dreibändige Quellenedition gefunden haben. Die wohl umfangreichste und aussagekräftigste Quellensammlung kirchlicher Provenienz stellen die Akten der Berliner Ordinarien- und späteren Bischofskonferenz dar, die sich im Regionalarchiv der Ordinarien Ost (ROO) im Bistumsarchiv Erfurt befinden. Die amtlichen Protokolle der Ordinarien- und späteren Bischofskonferenz sowie Quellen, Vermerke und Briefe aus dem Bestand der Bischofskonferenz zum AKH selbst erlauben eine Annäherung an die bischöfliche Bewertung der Hallenser Reformbemühungen, obwohl die Quellendichte hierbei auffallend gering ist.
In staatlichen Archiven sind Quellen derjenigen Institutionen und Organe der DDR überliefert, die sich mit dem Hallenser Aktionskreis auseinandergesetzt haben. Dazu zählen die Arbeitsgruppe für Kirchenfragen beim Zentralkomitee (ZK) der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED), der Staatssekretär für Kirchenfragen und dessen Sekretariat im Rang einer Dienststelle sowie das Ministerium für Staatssicherheit. Der mit Abstand umfangreichste Quellenbestand findet sich in den Akten des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS), die durch den Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes in der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik (BStU) zugänglich gemacht werden. Die quellenkritisch äußerst differenziert zu bewertenden Akten, die teilweise unvollständig oder fragmentarisch überliefert und aufgrund des Schutzes von Persönlichkeitsrechten teilweise anonymisiert sind, enthalten personenbezogene Dossiers, operative Vorgänge sowie Personal- und Berichtsakten inoffizieller Mitarbeiter des MfS. Der Staatssekretär für Kirchenfragen und dessen Dienststelle waren für die genuin staatliche Einordnung und Bewertung der katholischen Kirche insgesamt und daher auch für den Aktionskreis Halle verantwortlich. Das im Berliner Bundesarchiv überlieferte Quellendepositum enthält detaillierte Berichte und Einschätzungen über den AKH sowie die bischöfliche Bewertung des Kreises und ist daher, obgleich im Umfang wesentlich geringer als die Akten der Staatssicherheit, nicht minder aussagekräftig. Die politische und damit in der DDR letztlich entscheidende Einordnung des Aktionskreises fand in der Abteilung für Kirchenfragen beim ZK der SED statt. Der äußerst geringe, aber dennoch bedeutende Quellenbestand der Arbeitsgruppe zum AKH ist in der „Stiftung Archiv der Parteien und Massenorganisationen der DDR“ (SAPMO) im Berliner Bundesarchiv überliefert.
Das äußerst umfangreiche Quellenmaterial ist unterschiedlich zu gewichten. Das Privatarchiv des Aktionskreises sowie die kirchlichen Archive beinhalten überwiegend Primärquellen der handelnden Personen. Quellenkritisch sind diese Überlieferungen als besonders authentisch und zuverlässig zu qualifizieren, wenngleich besonders bei eigens für die kirchlichen Akten verfassten Vermerken die Aussageintention und die jeweilige Situation des Verfassers mitbedacht werden müssen, um Tendenzen einer gezielten Geschichtsbildung erkennen zu können. Die staatlichen Quellen sind quellenkritisch mindestens ebenso differenziert zu betrachten. Interne Einschätzungen und Berichte staatlicher und vor allem geheimpolizeilicher Organe verfolgten nicht nur eine Informationsabsicht. Innerhalb des diktatorischen Systems wird man stets mit zusätzlichen Interessen und Aussageabsichten zu rechnen haben, die den Inhalt einer Quelle überlagern und verzerren können. Der Aussagewert und die Verlässlichkeit dieser Sekundärquellen sind deshalb je eigens zu überprüfen. Dies ist im besonderen Maße dort geboten, wo es sich um Informationen und Berichte von inoffiziellen Mitarbeitern des Ministeriums für Staatssicherheit handelt.
5.Abgrenzung der Thematik
Die vorliegende Studie zum Aktionskreis Halle will die Geschichte dieser Gruppe in der spezifischen Situation der katholischen Kirche in der DDR darstellen und untersuchen. Aufgabe einer wissenschaftlichen Untersuchung des AKH kann es nicht sein, persönliche Eindrücke und Verletzungen zu thematisieren. Der Versuch, eine umfassende Geschichte des Aktionskreises zu verfassen und dabei allen unterschiedlichen Wahrnehmungen nachzugehen, sie zu beschreiben und ihnen gerecht werden zu wollen, ist allein schon aufgrund der Vielzahl von Personen im AKH zum Scheitern verurteilt. Die biographischen Annäherungen an einige Protagonisten des Aktionskreises konzentrieren sich vorwiegend auf ihr Wirken in der Gruppe selbst und beanspruchen keine Vollständigkeit. Aufgrund der zu behandelnden kurzen Zeitspanne von knapp 20 Jahren, der Fülle der zu erörternden Themen und des ungeheuren Quellenmaterials und nicht zuletzt, weil der AKH in die zentralen Themen, die Kirche in der DDR betreffend, vernetzt war, könnte der Eindruck entstehen, dass eine Gesamtgeschichte für die 70er und 80er Jahre abgeliefert wird. Diese ist allerdings weder intendiert noch kann sie im Rahmen einer Dissertation geleistet werden. Die Geschichte des Hallenser Aktionskreises ist und bleibt ein Teilaspekt einer noch zu verfassenden „ostdeutschen Kirchengeschichte“. Das Fehlen verschiedener Bischofsbiographien kann durch die in dieser Arbeit unternommenen Sekundärzugänge nicht aufgewogen werden und präsentiert sich in bestimmten Fragen als limitierender Faktor. Im Rahmen dieser Dissertationsschrift kann auch keine abschließende biographische oder theologische Beschreibung und Einordnung der verschiedenen ost- und westdeutschen Bischöfe erfolgen. Dieses Feld bleibt weiteren Forschungen vorbehalten. Weiterer Forschungsbedarf besteht zudem bei anderen innerkirchlichen Gruppierungen in der DDR. Welche Rolle spielten die regionalen Akademikerkreise, das Leipziger Oratorium, die Vielzahl der Priestergruppen, die - auch im Geheimen – existierten, tatsächlich und wie waren sie untereinander vernetzt?
I.DER AKTIONSKREIS HALLE (AKH)
Die Geschichte und Entwicklung des Aktionskreises Halle werden im Folgenden chronologisch dargestellt. Ausgehend von verschiedenen postkonziliaren Krisen und Konflikten stellt der Bischofswechsel im Kommissariat Magdeburg 1969/70 das auslösende Moment für die Gründung der Gruppe im Jahr 1970 dar. Dass es hierbei tatsächlich zu einer Wahl des neuen Bischofs kam, ist als Sonderfall zu charakterisieren und im Licht der Konzilsrezeption zu interpretieren. Die hierbei entstandenen Konflikte sollten die Bewertung des Aktionskreises nachhaltig prägen und werden daher detailliert erörtert. Schließlich wird in einem dritten Punkt der Aktionskreis als Gruppe eingehend dargestellt und analysiert: welche Ziele verfolgte er, wer gehörte zu dem Kreis und wie war die Gruppe vernetzt? Welche kirchlichen und gesellschaftlichen Themen hat die Gruppe bearbeitet und wie wurde der Aktionskreis Halle durch den ostdeutschen Katholizismus eingeordnet und bewertet? Am Gründungsauslöser, der Struktur und Zielsetzung sowie an der thematischen Arbeit des AKH lässt sich die basiskirchlichen Konzilsrezeption ablesen und hinsichtlich der Ausgangsthese analysieren.
1.Krisen, Konflikte und Potentiale am Vorabend der Gründung
Das II. Vatikanum stellte in vielerlei Hinsicht einen Antwortversuch auf innerkirchliche Verschiebungen und Krisen dar. Dass die nachkonziliare Zeit von einer offeneren und pluraleren Diskussion um die konkrete Gestalt von Kirche geprägt war, konnte insofern nicht verwundern. Ende der 1960er Jahre zeigte sich nicht nur im westdeutschen Katholizismus, dass sich an die Phase der unmittelbaren Konzilsbegeisterung eine zweite Phase der enttäuschten Hoffnungen und der Resignation anschloss.44 Vielen schritt die Konzilsrezeption nicht schnell genug voran oder wurde nicht weit genug getrieben. Andere erblickten in der vom Konzil autorisierten Hinwendung der Kirche zur Welt den entscheidenden Fehler, der für die postkonziliaren Krisen verantwortlich gemacht wurde. Im Folgenden soll die Gemengelage dargestellt werden, die nach dem Konzil im Kommissariat Magdeburg herrschte und die zur Gründung einer innerkirchlichen Protestgruppe mit beigetragen hat.
1.1Krisenhafte Phänomene
Im 20. und 21. Jahrhundert hat der Begriff der „Krise“ in der katholischen Kirche reüssiert. In der historischen Forschung besteht Konsens, dass man die Entwicklungen seit etwa Mitte des Jahrhunderts als „Krisen“45 oder „krisenhafte Phänomene“46 deklariert und damit ein Konglomerat unterschiedlicher Problemkonstellationen meint.47 Durch verschiedene Komposita - „Glaubenskrise“48, „Gotteskrise“49 und „Kirchenkrise“50 - wurden unterschiedliche phänomenologische Annäherungen unternommen. Der Begriff Krise wird dabei ambivalent als eine Infragestellung und kritische Thematisierung von Ideen und vorgegebenen Mustern verstanden.51 Ziel einer kritischen Auseinandersetzung ist dabei weniger ein radikaler Umbruch als vielmehr eine sukzessive Integration konstruktiver Elemente in bisherige Verständnismuster und Praxen. Der Begriff bleibt letztlich ebenso vage wie die von ihm beschriebenen Phänomene unübersichtlich. Für die Gründung des AKH in den späten 60er Jahren scheinen zwei Explikationen dieser krisenhaften Entwicklungen von besonderer Bedeutung gewesen zu sein.
1.1.1„Autoritätskrise“
Auseinandersetzungen um die Legitimität und Authentizität von Autorität waren in den 1960er Jahren internationale gesellschaftliche Phänomene52, die sich spätestens gegen Ende des Jahrzehnts auch in der katholischen Kirche häuften.53
Bereits zu Beginn der 1960er Jahre konnte in der katholischen Kirche in der DDR verschiedentlich Kritik an der Autoritätsausübung festgestellt werden.54 Im Hinblick auf die kirchenpolitisch notwendige Einheit der Kirche versuchte man derartige Tendenzen weitgehend zu delegitimieren bzw. sie als Quertreiberei zu etikettieren.55 Dennoch blieben kritische Wortmeldungen nicht aus. Im September 1966 beklagte Ulrich Mendes in einem Aufsatz der kurz zuvor gegründeten Halleschen „Korrespondenz“56 die „Hypertrophie des Gehorsams und das völlige Fehlen von Demokratie in kirchlichen Bereichen.“57 Der ehemalige Leiter des Hallenser Sprachenkurses Adolf Brockhoff kritisierte die Autoritätsausübung kirchlicher Würdenträger - „Eine Autorität, die uns Kirchenvolk faktisch für inferior hält, ist nicht mehr glaubwürdig.“58 - und skizzierte in verschiedenen Zusammenhängen sein Verständnis von einer authentischen Autoritätsausübung.59 Dass diese durchaus provokanten Auffassungen keine mit dem Verdikt der Illoyalität oder „Nestbeschmutzung“ zu versehenden Einzelerscheinungen waren, zeigt ein Blick auf die Meißner Diözesansynode von 1969-1970, die ebenfalls von einer Autoritätskrise sprach.60









