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Auch verschiedene Bischöfe erkannten und benannten krisenhafte Phänomene deutlich. Der Paderborner Erzbischof Lorenz Jaeger sah das zentrale Moment dabei in einem übersteigerten Freiheitsbegriff, der die Autonomie des Einzelnen absolut setze.61 Der Kardinal beklagte, dass die Krise „von Monat zu Monat weitere Kreise der Kirche“62 erfasse und das Lehramt der Kirche „unter den Priestern völlig in Vergessenheit“63 geraten sei, ebenfalls „die Kraft der Autorität und die Verpflichtung zum Gehorsam.“64 Zudem sah er ein Gefälle zwischen der Kirche in Ost- und Westdeutschland bei der Ausbreitung dieser Phänomene.65 Weihbischof Rintelen bestätigte seinem Paderborner Vorgesetzten gegenüber, „dass der Virus der Unruhe, der Auflehnung gegen jegliche Autorität, der Anerkennung von Vorgegebenheiten und Bindungen auch [im Kommissariat Magdeburg] die Menschen ergriffen hat.“66 Der Berliner Kardinal Bengsch resümierte hierzu: „Diese Autoritätskrise als ein sich von West nach Ost fortpflanzender Prozess sei eine zum gegenwärtigen Zeitpunkt auch durch eine noch so gute theologische und innerkirchliche Information nicht zu heilende Krankheit der Kirche.“67
Ein zweites Phänomen der kirchlichen Autoritätskrise stellten Gehorsamsverweigerungen gegenüber dem kirchlichen Lehramt dar.68 Kein anderes päpstliches Lehrschreiben steht so deutlich für verweigerten kirchlichen Gehorsam69 wie die Enzyklika „Humanae vitae“ Papst Pauls VI. vom 25. Juli 1968.70 Auch in Ostdeutschland bildete die Veröffentlichung der Enzyklika eine Zäsur im Ringen um die Legitimität kirchlicher Autoritätspraxis.71 Ein Arbeitskreis von Laien aus dem Erzbischöflichen Kommissariat Magdeburg formulierte in einem Brief an Weihbischof Rintelen: „Wir glauben, dass weder Papst noch Bischöfe ahnen, wie fragwürdig uns die Lehrautorität gerade durch diese Enzyklika zu werden droht.“72 Die Königssteiner Erklärung73 der bundesdeutschen Bischöfe wurde weithin als „Gegennorm“74 zur Enzyklika verstanden und auch von ostdeutschen Katholiken rezipiert.75
Neben der Kritik an der Autoritätsausübung und innerkirchlichen Gehorsamsverweigerungen markierten die damals allgegenwärtigen Forderungen nach einer „Demokratisierung“ der Kirche einen dritten Aspekt der Autoritätskrise.76 Ein einheitliches und reflektiertes Konzept zur „Demokratisierung der Kirche“ existierte nicht. Weder wurde eine Übertragung und Anwendung parlamentarischer Herrschaftsformen auf die Kirche gefordert noch war je eine Abstimmung über das Glaubensgut der Kirche intendiert. Vielmehr ging es verschiedenen Theologen und der Majorität basiskirchlicher Gruppierungen um einen legitimen und theologisch gerechtfertigten Prozess zur Implementierung demokratischer Verfahrens- und Verhaltensweisen in die Struktur der Kirche.77 Wenn Kirche derjenige Ort ist, an dem eine universelle Freiheit erfahrbar und nach außen hin wahrnehmbar sein soll, darf sie selbst keine Tendenzen, Strukturen oder Institutionen aufweisen, die einer verantworteten Entfaltung individueller Freiheitsrechte entgegenstehen.78 Deshalb forderte man u.a. Mitwirkung bei der Bestellung kirchlicher Amtsträger, freie Bildung von kirchlichen Gemeinschaften neben der Organisation durch das Territorialprinzip, ungehinderte Meinungsbildung und Transparenz der Entscheidungsmechanismen.79 Zu einem Kristallisationspunkt in der Debatte um eine Demokratisierung der Kirche wurde die Frage nach der Ernennung und Abberufung von kirchlichen Amtsträgern.80 Vor dem Hintergrund der Volk-Gottes-Ekklesiologie des II. Vatikanums schien vielen Katholiken die weltweit einheitliche Praxis der überwiegenden Nichtbeteiligung von Laien und Priestern bei der Ernennung von Bischöfen anachronistisch.81 An der kirchlichen Basis blieb unverständlich, weshalb es keines transparenten Nachweises zur Befähigung für die Übernahme eines Hirtenamtes in der Kirche bedurfte und all jene, denen ein Bischof oder Priester vorstand, gänzlich unbeteiligt an dessen Auswahl und Benennung blieben. Auch wenn sich die Legitimität des bischöflichen Amtes nicht einer Wahl verdankt, sondern der sakramentalen Weihe sowie der Aufnahme in das Bischofskollegium, haftet der zentralistisch organisierten kirchlichen Personalpolitik das Defizit einer mangelnden ortskirchlichen Beteiligung an.82
Die Demokratisierungsforderungen hatten auf die Autorität in der Kirche insgesamt einen diffusen Einfluss. Vielen Christen verschloss sich die Autorität einer sich selbst einsetzenden und rekrutierenden Hierarchie, die zwar Loyalität und Gehorsam verlangte, sich aber von der Akzeptanz der Christen autark und ihrer Meinung unbeeindruckt zeigte.83 Andererseits offenbarte die Vehemenz der Demokratisierungsforderungen, welchen Wert eine authentische Autorität bei vielen Christen genoss. Das Dilemma bestand letztlich darin, dass die Demokratie sowohl vereinbar als auch unvereinbar mit der katholischen Kirche ist. Das Grundsystem der Demokratie ist mit der Kirche deshalb unvereinbar, weil im Gegensatz zu modernen Staaten nicht die Gläubigen den Souverän der Kirche darstellen, sondern Jesus Christus. Weil das Wesen der Kirche auf den Stiftungswillen Jesu zurückgeführt wird, ist ihre Grundstruktur der Abstimmungsmaterie der Gläubigen entzogen. Zugleich ist die Kirche mit dem System der Demokratie vereinbar. Denn trotz allem gilt, dass die Kirche eine geschichtliche Gemeinschaft von Menschen ist, die sich unter dem Beistand des Heiligen Geistes diejenigen Strukturen und Ämter schafft, derer sie zur Erfüllung ihres Auftrags, Missionarin unter den Völkern zu sein, bedarf. Doch die zuweilen undifferenzierte Anwendung politisch konnotierter Demokratiebegriffe auf die Kirche und unzulässige Verkürzungen konziliarer Aussagen verschärften die fragile Situation oftmals. Zu Recht sahen die Bischöfe in manchen Positionen extreme und zum Teil radikale Tendenzen, die sie in Erfüllung ihrer Aufsichtsfunktion unterbinden mussten.84 Das Gebot der Stunde, autoritäre Maßnahmen und kirchenamtliche Überreaktionen zu vermeiden, um so nicht erneuter Kritik Vorschub zu leisten, fand dabei jedoch nicht immer die notwendige Beachtung. Eng mit der Autoritätskrise verbunden waren krisenhafte Phänomene innerhalb der katholischen Priesterschaft.
1.1.2„Priesterkrise“
Krisenhafte Entwicklungen im Klerus sind für den bundes- und ostdeutschen Katholizismus bereits verschiedentlich untersucht worden.85 Eine zeitliche Einordnung allein auf die 60er und beginnenden 70er Jahre wird allerdings zu beachten haben, dass verschiedene Veränderungen bereits vorher konstatiert werden konnten.86 Von einem Durchbruch dieser Entwicklungen zu einer Krise kann tatsächlich erst in den späten 60er Jahren gesprochen werden.87 Es ließe sich die These vertreten, dass das II. Vatikanische Konzil die schon Ende der 50er Jahre anstehende Debatte über Wesen, Funktion und Aufgabe des Priesters nur verzögerte. Da sich das Konzil ausführlich mit den Bischöfen und Laien beschäftigte, die geweihten Priester aber eher randständig thematisiert wurden, erschienen sie vielfach als die „Verlierer“88 des Konzils, weil die Anfang der 60er Jahre manifest werdenden Probleme unter Priestern keine verbindlichen Antworten der Konzilsväter erhalten hatten.
Der Berliner Erzbischof und Vorsitzende der Ordinarienkonferenz Kardinal Bengsch stellte in einem streng vertraulichen Bericht an den Apostolischen Nuntius in Bad Godesberg im Jahr 1965 fest, dass trotz staatlicher Infiltrationsversuche die Einheit des ostdeutschen Klerus bislang ungebrochen war.89 Diese äußere Einheit gegenüber dem SED-Staat wies nach innen betrachtet eine größere Pluralität auf. Der in der SBZ und späteren DDR wirkende Klerus war durch Flucht und Vertreibung während und nach dem 2. Weltkrieg äußerst heterogen.90 Unterschiedliche Generationen, Mentalitäten und Traditionen trafen im Chaos der ostdeutschen Flüchtlingskirche aufeinander, und dies nicht selten mit gravierenden Schwierigkeiten.91 In dieser ohnehin konfliktreichen Zeit trat das Problem des abnehmenden Priesternachwuchses immer stärker hervor.92 Zugleich markierten verschiedene Reformbemühungen das Aufbrechen statischer Aufgaben und Rollen.93 Der ostdeutsche Klerus stellte dabei keine Ausnahme dar.94 Den bisherigen Darstellungen der Priesterkrise, die vor allem auf die theologischen Ausbildungsstätten in der DDR fokussiert waren, seien im Folgenden zwei Beispiele aus dem Kommissariat Magdeburg hinzugefügt.
Am 2. Oktober 1968 fand auf Initiative und Einladung von Priesteramtskandidaten des Erfurter Alumnats eine Diskussionsveranstaltung mit ca. 100 Theologen und dem „Korrespondenz“-Kreis95 über das „Bild des zukünftigen katholischen Priesters“96 statt.97 Als Grundlage für das Gespräch hatte die „Korrespondenz“ eine vierseitige Ausarbeitung „Zur Person des Pfarrers“ erstellt und zusammen mit einem Anhang über Veränderungen der Priesterausbildung versendet.98 Die leitende These dieses Aufsatzes lautete: „Unter einem Pfarrer stellen wir uns einen Menschen von großer geistiger Vitalität vor, der imstande ist, Leute dazu zu aktivieren, ‚Kirche’ zu bilden.“99 Ausgehend von diesem Grundverständnis schlug der Korrespondenz-Kreis vor, die Gestalt des Pfarrers100 neu zu konstruieren.101 Seine zahlreichen Funktionen als Sacerdos, Presbyteros, Diakonos, Didaskalos und Prophetos würden eine deutliche Überbeanspruchung darstellen. Sie könnten in zwei zentrale Aufgabenbereiche des Organisatorisch-Ökonomischen und des Spirituellen geteilt und unterschiedlichen Personen in den Gemeinden zugewiesen werden.102 Nach Vorstellung der „Korrespondenz“ sollte der „Pfarrer bewusst in den Hintergrund treten und immer mehr Organisationsfunktionen…abgeben.“103 „Nicht der Manager, der Verwalter, der Liturge soll zum Prototyp des Pfarrers werden, sondern der ‚Spiritual‘, der ‚Intellektuelle‘, der ‚Prophet‘.“104 Die Forderung der „Korrespondenz“ nach einem weltlichen Beruf für die Pfarrer war offensichtlich vom Modell der Arbeiterpriester inspiriert und provozierte die Rückfrage eines Erfurter-Theologen: „Ist unser Beruf kein Beruf?“105 Die Diskussion zeigte darüber hinaus, dass große Verunsicherung über das Verhältnis zwischen Priestern und Laien und die jeweiligen Aufgaben herrschte.106
Aufschlussreich und noch konkreter ist zweitens ein Vortragsmanuskript des Hallenser Studentenpfarrers Adolf Brockhoff107 mit dem Thema: „Freiheit des Weltpriesters in der Kirche“108, das eine persönlich gefärbte Situationsanalyse der Lage der Weltpriester vor und nach dem Konzil gibt. Diese Darstellung ist ein Beleg für eine partielle Parallelität der ost- und westdeutschen Entwicklungen und verweist zugleich auf ostdeutsche Spezifika. Adolf Brockhoff unterstrich, dass sich bereits Ende der 1950er Jahre Resignation unter den Priestern breitzumachen drohte109, und bekräftigte, dass sich eine zunehmende Distanz zwischen Bischöfen, Priestern und Laien etablierte.110 Am Beispiel von Paderborner Priestern, die nach ihrer Weihe freiwillig in die SBZ/DDR übersiedelten oder von ihrem Bischof geschickt wurden, stellte er dar, dass sich ein vorkonziliarer Wandel im priesterlichen Selbst- und Rollenverständnis vollzogen hatte. Aufgrund der chaotischen Situation nach dem 2. Weltkrieg habe der Klerus - Brockhoff zählte selbst zu jenen westfälischen Priestern, die freiwillig in die SBZ gegangen waren - „Pionierdienste leisten“111 müssen. Er rekapitulierte die damaligen Entscheidungen und Motivationen des Paderborner Klerus dabei wie folgt: „In einer Welt von Trümmern sind wir dem Rufe gefolgt, der an uns erging, weil wir im Glauben erfahren hatten, dass es nichts Schlimmeres gibt als eine Welt ohne Gott…Wir sind in die Zone gegangen, weil wir der Präsenz dessen dienen wollten, der immer mit dem geschlagenen Volke ist. Wir haben Kirchen und Kapellen und Häuser gebaut, nicht, wie manche Superklugen meinten, um uns selbst zu bestätigen, sondern um in einem handgreiflichen Sinn Brunnenstuben des Lebens zu schaffen. Wir haben die Türen der Pfarrhäuser aufgemacht, nicht weil – wie wieder die Superklugen meinten – wir mit unserer Einsamkeit nichts anzufangen wüssten, sondern weil wir den blutvollen Kontakt mit den Laien wollten. Weil die Taufe eine größere Nähe stiftet als alles andere, warfen wir den Zopf der Standesvorurteile und –unterschiede ab. Die Weihe gab uns keinen Auftrag über das Volk Gottes hinweg, sondern in seinem Herzen. Wir wollten keine primitiven Funktionäre für heilige Dinge sein, die Messen lesen und nach uralter Gewohnheit Predigten heruntersagen. Wir konnten uns keine Heiligung des Lebens vorstellen, die trennt, statt zu vergegenwärtigen. Weil uns das Verständnis abging, wie man redlicher Weise am sakralen Tisch sitzen kann, ohne ihn zum profanen Tisch hin zu erweitern, machten wir die Türen unserer Häuser auf. So halfen wir mit, den vielen Heimatlosen ein wenig Heimat zu geben.“112 Als ostdeutsches Spezifikum ließe sich das Verständnis der Priester charakterisieren, sich stellvertretend für die Laien gegenüber dem Staat zu artikulieren, weil es ihnen ihre abgesicherte Stellung ermöglichte: „Weil wir aus freiem Entschluss in die Zone kamen und aushielten, sind viele geblieben. Weil wir ohne Vorsicht lebten und redeten, schritten immer mehr den Kreis ihrer Freiheit ab, um ihn zu erweitern…Wir haben nicht geschwiegen zur Mauer, zur Sperrzone, zum Fahneneid, zu Sozialisierung. Vor keinem Funktionär schlugen wir die Tür zu. Er ging nicht von unserem Tisch, ohne dass wir Unrecht Unrecht genannt hätten. Wir haben geredet, weil wir die Vertreter der Macht als Menschen ernst nahmen. Wir haben geredet, damit die vielen Laien, die stumm bleiben mussten, ohne Gewissensbisse schweigen konnten.“113 Brockhoffs Ausführungen deuteten an, dass sich ein Wandel im priesterlichen Selbstverständnis weit vor dem Konzil ereignete, der stark von den pastoralen Bedingungen der ostdeutschen Nachkriegszeit bestimmt war. Hinzu kam, dass im Zuge der Liturgischen Bewegung bereits in den 50er Jahren selbstständige Veränderungen der Liturgie vorgenommen wurden, die von einem ausgeprägten priesterlichen Selbstverständnis Zeugnis geben.114 Geradezu zwangsläufig mussten diesen Priestern die mangelnden Ausführungen des Konzils zum speziellen Priestertum negativ auffallen.115 Nach dem Konzil verbreitete sich auch in Ostdeutschland Unsicherheit über die Aufgaben und Funktionen des geweihten Amtes innerhalb des allgemeinen Priestertums. Doch entgegen der vielfach vertretenen Nivellierung der Unterschiede zwischen Priestern und Laien durch die Teilhabe aller am gemeinsamen Priestertum machte sich Brockhoff für die besondere Stellung und Aufgabe der Priester stark.116 Gleichwohl verkannte er weder die Defizite in der Priesterausbildung117 noch die problematische Situation jener Priester, die durch die alltägliche Arbeit hindurch eine authentische Identität suchten.118
Der Hallenser Studentenpfarrer blieb jedoch nicht bei der Kritik stehen, sondern formulierte kontextualisierte Grundelemente eines erneuerten Rollenverständnisses katholischer Priester. Zentral waren dabei die Erfahrungen der Priester im Totalitarismus des SED-Staates und die Rezeption der Aussagen des II. Vatikanischen Konzils. Auf Grund der staatlichen Situation sollte die priesterliche Identitätssuche ihren Ausgangspunkt in einem dualistischen Verständnis von Freiheit nehmen: „Wie können wir uns an der Front der Welt zur Freiheit bekennen, wenn wir sie im Innenraum der Kirche nicht besitzen?“119 Gerade die Liturgiekonstitution Sacrosanctum concilium des II. Vatikanums schien Brockhoff in besonderer Weise geeignet, den Geist der Freiheit in der Kirche und vor allem unter den Priestern zu wecken: „Wer die liturgische Konstitution zu lesen versteht, der weiß, wie hier aller Beckmesserei und allem subalternen, rubrizistischen Geist der Todesstoß versetzt wird. Mit der Konstitution sind wir aus der Fessel juristischer Bevormundung befreit worden. Hier ist der Geist der Freiheit entbunden, den die Kirche bei Priestern und Laien notwendig braucht, um die Fragen der Zeit zu bestehen. Gerade an der Stelle der Liturgie wird deutlich, dass die Kirche uns nicht zu Museumswächtern degradieren will, dass gerade hier die Gabe des Geistes an seine Kirche offengelegt wird, deren sie heute so sehr bedarf: Freiheit.“120 Nach Brockhoff sei das Hören auf diesen lebendigen Geist der Freiheit geeignet, um „alte Rollen abzubauen.“121 Priester seien nicht länger „Zionswächter, die darauf zu achten haben, dass Riten und Gebräuche genau eingehalten werden“122 noch „Wachhunde eines allgegenwärtigen Offiziums, die Häresien wittern“123, und keine „Einpeitscher moralischer Prinzipien, die überall Sünden riechen.“124 Die Priester seien vielmehr berufen, Freiheit erfahrbar zu machen, da die Kirche der Raum sein sollte, in dem „der freie Gott dem freien Menschen begegnet.“125 Trotz latenter Formen der Resignation unter den Priestern warb Adolf Brockhoff für einen Aufbruch: „Wenn wir nur die überkommenen Formeln reproduzieren und wiederkäuen, so machen wir uns selbst untauglich für die große Bewegung der Freiheit. Es kommt auf unsere Initiative an, auf unsere Erfindungsgabe in den Raum der Liturgie hinein…Nur wer die sehr menschliche Freiheit in der Kirche wagt, der wird die geistliche Qualität der evangelischen Freiheit gewinnen“126
Die Diskussionsveranstaltung der Erfurter Priesteramtskandidaten und der Vortrag des Hallenser Studentenpfarrers legten zahlreiche Konfliktfelder offen und deuten auf den damaligen Diskussionsbedarf hin. Es wird aber zugleich deutlich, dass sich die Priester nicht nur als Opfer einer Entwicklung verstanden und ihre Rollenverunsicherung passiv erduldeten. In bestimmten Kreisen begriff man diese Situation durchaus als Kairos. Die Infragestellung der traditionellen Ausrichtung des priesterlichen Lebens auf zeitlose Prinzipien und Forderungen nach Reformen waren in Ost und West ähnlich. Hervorzuheben bleibt allerdings, dass eine Nivellierung des genuin Priesterlichen in der Kirche der DDR trotz mancher Versuche auch deshalb zum Scheitern verurteilt war, weil es den Priestern durch ihre kirchenpolitisch abgesicherte Stellung möglich war, stellvertretend für viele Laien Protest gegenüber dem Staat und seinen Organen zu erheben. In den 60er Jahren organisierten sich verschiedene Gruppen aus Priestern und Laien, die Reformen und Veränderungen in der Kirche und ihrem Verhältnis zum SED-Staat vorbringen wollten.
1.2Kirchliche „Vorläufergruppen“ und Institutionen
Es ist eine Reihe von Gruppen, Bewegungen und Institutionen zu nennen, die als Vorläufer oder Impulsgeber für den späteren AKH fungierten. Gerade in der Stadt Halle trafen Reformimpulse auf ein besonders empfängliches kirchliches Klima. Auffallend ist, dass aufgrund der engen personellen Verflechtungen in der DDR vielfach die gleichen Personen in unterschiedlichen Kreisen vertreten waren. Das sich hieraus ergebende Netzwerk sollte für die Gründung und spätere Entwicklung des AKH nicht unbedeutend sein.
1.2.1Studentengemeinde Halle
Die katholische Studentengemeinde (KSG) in Halle bildete das personelle und geistige Umfeld, aus dem sich ein wesentlicher Teil der späteren Mitglieder des Aktionskreises rekrutierte.127 Durch ihre Entwicklung, Struktur und Arbeit war die Hallenser KSG geradezu prädestiniert, demokratieorientierte und kirchenkritische Gruppen wie etwa den „Korrespondenz“ – Kreis und später den Aktionskreis Halle hervorzubringen. Die ostdeutschen Hochschul- und Studentengemeinden sind bereits verschiedentlich untersucht worden.128 In den 60er und 70er Jahren zeigte sich ein enormes Potential reformorientierter Strömungen innerhalb der katholischen Studierendenschaft.129 Dabei lassen sich drei ausschlaggebende Tendenzen beobachten: ein Bildungs-, Demokratisierungsund Oppositionstrend.130 Diese weit verbreiteten Strömungen trafen in Halle auf begünstigende personelle und institutionelle Rahmenbedingungen.
In der Thomas-Morus-Studentengemeinde in Halle war die Bildungsarbeit besonders stark ausgeprägt.131 Aufgrund der ideologischen Prägung der geisteswissenschaftlichen und pädagogischen Studiengänge an staatlichen Universitäten hatte sich die Mehrheit der christlichen Studierenden in naturwissenschaftlich-technische Studiengänge immatrikuliert.132 Dem Defizit an qualifizierter geschichtlicher, ästhetischer und geistlicher Bildung begegnete man durch wöchentlich stattfindende Vortrags- und Veranstaltungsabende in der KSG, an denen bis zu 160 Studentinnen und Studenten teilnahmen.133 Durch persönliche Verbindungen und „verwandtschaftliche“ Kontakte zu den katholischen Hochschulgemeinden in Mainz und Köln wurden die Hallenser Studenten kontinuierlich mit westdeutscher und internationaler Literatur versorgt.134 Schwerpunkte ergaben sich durch die Vorliebe des Kölner Studentenpfarrers auf den Gebieten der Kunst- und Kirchengeschichte.135 Neben den wöchentlichen Veranstaltungen widmete man sich in regelmäßig tagenden Arbeitskreisen den Themen Marxismus, Ostkirche, Sakrament der Ehe, deutsch-polnische und russische Geschichte.136 Bei jährlich stattfindenden Studienwochen wurden unter anderem die Themen: Laie und Kirche (1954); christlich-marxistisches Menschenbild (1957) sowie Autorität und Freiheit (1958) eingehend zwischen externen Referenten und den Studierenden diskutiert.137 Im umfangreichen Kultur- und Theaterprogramm, das von den Studierenden selbst vorbereitet und aufgeführt wurde, fand sich neben klassischem Theater auch die Lesung des nicht unumstrittenen Werkes Rolf Hochhuths „Der Stellvertreter.“138 Insgesamt betrachtet, wirkte die Einheit aus einem breit angelegten Bildungsprogramm und der sich wöchentlich treffenden Gemeinschaft für viele Studenten identitätsstiftend.139 Die KSG wurde so zu einem Ort intellektueller Auseinandersetzung und kameradschaftlicher Verbundenheit. Gezwungen durch die defizitären Strukturen der universitären Allgemeinbildung, wurden die christlichen Hochschulgemeinden zu Orten der außeruniversitären Bildung. Die Auseinandersetzung mit historischen, künstlerischen, theologischen und philosophischen Fragen fand innerhalb der Studentengemeinden großen Zuspruch. Dass sich die Arbeit und Struktur der KSG Halle derart breit gestaltete und regen Zuspruch erfuhr, dürfte nicht unwesentlich in der charismatischen Figur des damaligen Studentenpfarrers begründet gewesen sein. Adolf Brockhoff140 war von 1953 bis 1967 Studentenpfarrer und zugleich Leiter des Sprachenkurses in Halle.141 Pfarrer Brockhoff galt als „ ‚enfant terrible’, knorriger Mann, ‚westfälischer Dickschädel’, profund, tief gläubig, dabei auch kirchenkritisch, charismatisch, mutig, provozierend, kumpelhaft und auch gebildet. Er verstand es, Visionen zu entwickeln; er prägte ganze Studentengenerationen durch seinen Intellekt und seine Persönlichkeit. Er konnte die Studenten zusammenholen und -halten. Er öffnete ihnen im geistigen Bereich Horizonte, die über die Dinge hinausgingen, nicht nur im theologischen, sondern auch im gesellschaftspolitischen Raum.“142 Brockhoffs theologische Einstellungen und seine tief gläubige und zugleich kirchenkritische Art bestimmten den Kreis der Studenten und ihre Auffassung von Glaube und Kirche nachhaltig.
1.2.2„Korrespondenz“- Kreis
Ein weiterer wichtiger Wegbereiter für die spätere Gründung des AKH war die sogenannte „Korrespondenz.“143 Diese Gruppe wurde in der zeitgeschichtlichen Diskussion um postkonziliare Aufbruchsbewegungen in der DDR bislang kaum gewürdigt.144 Dies verwundert angesichts ihrer brisanten und provokativen Forderungen im Hinblick auf eine theologisch-politische Auseinandersetzung der katholischen Kirche mit dem SED-Staat.145
Auf Anregung des Hallenser Studentenpfarrers Adolf Brockhoff bemühten sich seit Anfang des Jahres 1966 etwa zehn Akademiker und Studenten durch Briefsendungen um Möglichkeiten der innerkirchlichen Meinungsbildung.146 Die Korrespondenz-Gruppe, der Name ergab sich aus der angestrebten Aufgabe, war keine geschlossene Gemeinschaft und besaß aufgrund der Vielfalt der Fachrichtungen ihrer Mitglieder ein durchaus heterogenes Meinungsbild.147 Allen gemeinsam war das Bemühen, angesichts einer stagnierenden Situation nach dem Aufbruch des Konzils und der zunehmenden „Ratlosigkeit und Resignation“148 über das Verhältnis zum sozialistischen Staat, Veränderungen in der kirchlichen Situationsbewertung in Gang zu setzen.
Geprägt vom Modell eines innerkirchlichen Pluralismus und der konziliaren Erneuerung verpflichtet, verstand sich die Gruppe als „eine Gemeinde neuen Typs […die] unmittelbar als Sauerteig eines neuen Kirchenbewusstseins wirken“149 wollte. Ihre Intention bestand vor allem darin, „eine Gemeinschaft von kritisch Gesinnten zu stiften, die im offenen Dialog miteinander umgehen. Gemeinsam die Angst vor Repressalien des DDR Staates zu überwinden. Kritische Texte, vor allem zu Fragen des innerkirchlichen Dialoges zu verbreiten und zur Diskussion zu stellen.“150 Doch nicht nur das Versenden von Briefen sollte das Wirken der Korrespondenz bestimmen. Mit der „theoretischen Arbeit müsste in stärkerem Maße eine praktische Einflussnahme verbunden werden“151, zu der es aber letztlich nicht kam. Ihr Credo - „Brecht euren Acker von Grund auf um und sät nicht auf Dornen“ (Jeremias 4,3) - das alle Briefsendungen kennzeichnete, stand paradigmatisch für ihren Anspruch: Kritik zu üben und Anfrage an das kirchliche Selbstverständnis in einem sozialistischen Staat zu sein, um einen Bewusstseinswandel im offiziellen und privaten Verhältnis von Staat und Kirche zu implementieren. Die Korrespondenz kann daher als eine der ersten Gruppierungen im DDR-Katholizismus gelten, die sich für Formen innerkirchlicher Demokratisierung und für die Anerkennung des Sozialismus einsetzte.152









