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Durch mehr als zehn offene Briefe versuchten die zum Teil noch aktiven Mitglieder der Thomas-Morus-Studentengemeinde „ihre Meinung zu verschiedenen Fragen des kirchlichen Lebens, insbesondere zu Problemen des Christen und seiner Kirchen in der DDR, einer größeren Öffentlichkeit vorzutragen.“153 Ausdrücklich wurde in den Briefen um Rückantwort gebeten, um die „Korrespondenz“ zu einer Gesprächs- und Informationsplattform zu entwickeln.154 Dieser Versuch scheiterte an der zu geringen Zahl von schriftlichen Rückmeldungen auf die mit einer Auflage von bis zu 200 Exemplaren an einen weiten Kreis von Empfängern in Ost- und Westdeutschland verschickten Briefsendungen.155 Das mangelnde oder zögerliche Interesse dürfte sich aus verschiedenen Quellen gespeist haben. Dem vielfach konstatierbaren Informationsbedürfnis vieler Katholiken dürften das freimütige Auftreten der Gruppe mit Nennung von Namen und Adressen der jeweiligen Autoren sowie die Intention der Aussagen und die teils radikal formulierten Forderungen entgegengestanden haben. Der latente Verdacht kirchlicher Stellen, dass die „Korrespondenz“ mit staatlichen Stellen kooperiere, und die kirchenamtliche Kritik an den Aussagen des Kreises dürften zur mangelnden Rezeption nicht unwesentlich beigetragen haben.156 Auslöser für das Ende der „Korrespondenz“ war nach der Niederschlagung des Prager Frühlings ein Zerwürfnis über die Opportunität eines Beitrages zur Volksabstimmung über die DDR-Verfassung und das Bekenntnis eines Mitgliedes zu seiner Stasi-Mitarbeit.157 Da die Auffassungen der Korrespondenz-Gruppe der offiziellen Kirchenpolitik diametral widersprachen, zeichneten sich ihre Beiträge durch einen „den Verhältnissen entsprechend, relativ negativ-kritisch[en]“158 Ton aus, verfolgten aber nach eigenem Bekunden im Grunde eine „positive Absicht.“159 Trotz verschiedener Beziehungen zur „Berliner Konferenz“ und den Herausgebern der Zeitschrift „Begegnung“ war die „Korrespondenz“ insgesamt um Distanz zu diesen Organisationen bemüht.160 Die Frustration über die ausbleibende Resonanz dürfte die Auflösungserscheinungen noch begünstigt haben. So stellten die Herausgeber 1968, nach nur zweijähriger Tätigkeit, das Erscheinen auf eigenen Entschluss hin ein. Das Potential der Mitglieder kanalisierte sich teilweise im späteren AKH.
1.2.3„Erfurter Gesprächskreis“
Eine kommunikative Basis für einen Informationsaustausch zwischen Bischöfen, Priestern und Laien in der DDR stellte der 1968 durch den Görlitzer Priester Dr. Paul Schimke initiierte innerkirchliche Dialogkreis dar, der später die Bezeichnung „Erfurter Gesprächskreis“ (EGK) erhielt.161 Unter Zustimmung und Beteiligung der Bischöfe Hugo Aufderbeck162 und Gerhard Schaffran163 kam es im April 1968 zum ersten von insgesamt drei Treffen des im DDR-Katholizismus einzigartigen Gremiums. Ein zweites Treffen fand im Oktober 1968 auf Einladung von Bischof Aufderbeck statt. Im Februar 1969 schaltete sich Kardinal Bengsch in den Diskurs ein und nahm an der letzten Sitzung des Kreises am 15. Februar 1969 teil.164 Unter den 21 Teilnehmern der ersten Sitzung befanden sich unter anderem Dr. Wolfgang Trilling, drei Erfurter Professoren165 und auch Adolf Brockhoff und Winfried Schülke von der „Korrespondenz“ sowie Dr. Peter Willms166 aus Halle; die drei Letztgenannten sollten später dem AKH angehören. Die in diesem Kreis debattierten Themen deuten auf eine offene Gesprächsatmosphäre hin. Während sich Wolfgang Trilling dafür einsetzte, dass der Christ in der DDR ein kritisches Ja zum Sozialismus sagen könne und müsse und damit an Positionen der Korrespondenz oder der Paulus-Gesellschaft anknüpfte, wurde Adolf Brockhoff ganz seiner Rolle als kritischer Querdenker gerecht. Sein Referat mit dem Thema „Die religiöse Substanz in der DDR“ gliederte er anhand dreier markanter Thesen: „1. Die Kirche in der DDR ist geschichtslos; 2. Die Kirche in der DDR ist tatenlos; 3. Die Kirche in der DDR ist einfallslos.“167 Ein für Kardinal Bengsch verfasster Bericht dieser Sitzung hält nicht nur die Breite der kirchenpolitisch zum Teil höchst brisanten Diskussionsthemen - Verselbstständigung der katholischen Kirche in der DDR, Auseinandersetzung mit dem Sozialismus, Einführung einer Synodalverfassung in der Kirche, Verzicht auf Mercedes-Dienstwagen der Bischöfe - kommentierend fest. Er resümiert abschließend die Bedeutung dieser Zusammenkunft und die Rollen zweier unliebsamer Protagonisten: „Es ist sicher gut, dass der Kreis zusammengekommen ist, um sich mal zu artikulieren. Es ist sicher besonders bei den Laien erkennbar geworden, dass die Situation der Kirche nicht in einer Richtung simplifiziert werden kann, wie es von Vertretern wie Pfarrer Brockhoff und Dr. Trilling immer wieder geschieht…“168 Der Bericht notiert zudem eine für die weitere Entwicklung nicht unbedeutende Einschätzung hinsichtlich der progressiv orientierten Priester. Sie seien der Überzeugung, „dass nach dem Beispiel von Westberlin und Westdeutschland eine kleine Gruppe genügt, um das Bewusstsein zu ändern, wenn sie sich nur genügend ‚akzentuiert und artikuliert‘. Was dort im politischen Raum möglich ist, müsste auch für den Raum der Kirche in der DDR gelten, und in der Erfüllung dieses Zieles sei dann auch die geschichtliche Sendung der Kirche in der DDR erkennbar…“169 Der Erfurter Gesprächskreis tagte nochmals im Oktober 1968 und im Februar 1969. Die Themen der beiden ersten Treffen hatten offensichtlich eine gewisse Toleranzgrenze erreicht, wenn nicht überschritten.170 Denn an der dritten Sitzung, die auch die letzte sein sollte, nahm Kardinal Bengsch persönlich teil.171 Gegenüber einem stark erodierten Teilnehmerkreis von nur noch vier Laien erteilte der Kardinal den bisher geäußerten Reformvorschlägen eine klare, vor allem kirchenpolitisch begründete Absage.172 Im Fokus der nunmehr bischöflichen Kritik befanden sich, wie der nachträglich von Bengsch autorisierte Bericht ausweist173, die kritischen Anfragen von Adolf Brockhoff, Wolfgang Trilling und der Korrespondenz hinsichtlich einer stärkeren Beteiligung und Mitverantwortung von Priestern und Laien an Entscheidungen der Berliner Ordinarienkonferenz.174 Zwar hatte die Berliner Ordinarienkonferenz (BOK) auf Anregung des Erfurter Gesprächskreises ein beratendes Priester- und Laiengremium für wenige Jahre berufen.175 Es ist allerdings Forschungskonsens, dass die kurzzeitige Existenz dieser Gremien einen „gewollten Leerlauf seitens der BOK“176 darstellte.177 Offensichtlich war, wie sowohl das Schicksal des Erfurter Gesprächskreises als auch das der beiden bischöflichen Beratungsgremien ausweist, die Halbwertzeit innerkirchlicher Diskussionsforen unter Beteiligung von Bischöfen und Laien äußerst gering. Ob dies mit den debattierten Themen oder der bischöflicherseits präsumierten Gefährdung der innerkirchlichen Einheit durch offenere Kommunikationsformen in Zusammenhang steht, ist bislang noch nicht eindeutig geklärt. Personelle Komponenten, wie etwa das durchaus kritische Verhältnis von Bengsch zu Brockhoff und Herold, dürfen zwar nicht überbewertet werden, haben aber dennoch eine Rolle gespielt. Mit dem Ende des Erfurter Gesprächskreises und der bischöflich verweigerten Besetzung der beiden Beratungsgremien mit einzelnen „oppositionellen Kräften“ sanken die Chancen auf eine konstruktive Einbindung der reformorientierten Ambitionen. Zugleich stieg das Potential, dass sich der aus dem Konzil und der Situation der Kirche in der DDR ergebende Reformdruck neue Wege und Artikulationsformen suchen könnte, die bischöflich dann kaum mehr einzubinden waren. Im Erzbischöflichen Kommissariat Magdeburg fehlten zudem innerkirchliche Katalysatoren für aufkommende Kritik. Während es im Erfurter Jurisdiktionsgebiet vor allem die integrative Persönlichkeit Bischof Aufderbecks war und im Bistum Meißen die Diözesansynode dazu beitrug, durchaus vorhandene Spannungen abzubauen, fehlte eine solche Institution oder Persönlichkeit in Magdeburg.178 Dass es hier derart kontrovers zugehen konnte, dürfte nicht zuletzt an der Person des Weihbischofs sowie an der Zusammensetzung des Klerus gelegen haben, der teilweise aus Westdeutschland kam und die ostdeutsche Diaspora mehrheitlich als Berufung verstanden hatte.
1.2.4Bundesdeutsche Solidaritätsgruppen
Für die Gründung und Organisation des späteren AKH ist schließlich eine weitere Entwicklung bedeutsam geworden. In den späten sechziger Jahren kam es weltweit zur Gründung von sogenannten Priestergruppen bzw. Solidaritätsgruppen (SOG).179 Gerade im Jahr 1968 wird man den Aufbruch einer jungen Generation nicht vernachlässigen dürfen. Doch der entscheidende Impuls für diese Gruppen ist in dem Bemühen zu sehen, die durch das Konzil begonnenen Reformansätze in konkrete Maßnahmen und Institutionen zu überführen, dem Geist der Erneuerung, der allenthalben spür- und greifbar schien, auch tatsächlich Raum in der Kirche zu gewähren.180 In der Bundesrepublik Deutschland waren im Jahr 1969 10% der katholischen Priester in einer Solidaritätsgruppe organisiert.181 Die Mitgliederzahl der einzelnen Gruppen schwankte zwischen 15 und 180, jedoch waren die Gruppen der ersten Stunde zunächst homogen von Priestern besetzt und geprägt. Bei den Gruppen der zweiten Gründungswelle ist der Unterschied zwischen Priestern und Laien schon „unprogrammatisch überspielt worden.“182 Entgegen mancher kirchenamtlicher Einschätzung, begriffen sich die Solidaritätsgruppen als Teil der Lösung und nicht des Problems.183 Eine offizielle Auseinandersetzung mit den Bischöfen hat nicht stattgefunden, vor allem auch deshalb, weil die Solidaritätsgruppen in der äußeren Wahrnehmung ihren Zenit bereits 1970 überschritten hatten und sich zudem die offiziellen Priestergremien zwar nur mühsam entwickelten, aber dennoch sukzessive Gestalt annahmen.184 Schließlich darf nicht vergessen werden, dass es sich bei den Akteuren insgesamt um eine Minorität im bundesdeutschen Katholizismus handelte, die zwar in der öffentlichen Wahrnehmung oftmals das Bild einer „zerstrittenen Kirche“185 hinterließ, das aber „der Wirklichkeit so nicht entsprach.“186 Der Hauptvorwurf gegenüber den Solidaritätsgruppen lautete, dass sie in den Kernfragen erfolglos geblieben seien. Anstatt bei den Themen Zölibat, Mischehe, Priesterbild und Demokratisierung eine Veränderung angestoßen zu haben, habe sich im Gegenteil nur die Haltung der Kirchenleitung restriktiv verfestigt.
Am 27. Mai 1969 hatten sich die zahlreichen Gruppen und Aktionskreise zur „Arbeitsgemeinschaft von Priestergruppen in der Bundesrepublik“187 (AGP) zusammengeschlossen, die sich 1971 in „Priester- und Solidaritätsgruppen in der Bundesrepublik Deutschland“ unbenannte.188 Die AGP hatte eine Hauptversammlung, einen gemeinsamen Sprecherkreis und einen Arbeitsausschuss.189 In der 1969 verabschiedeten Basiserklärung der AGP benannten die Gruppen drei Hauptziele ihrer Arbeit: „Neuinterpretation des Glaubens“, „Humanisierung der Kirche“, „Demokratisierung der Kirche“.190 Struktur und Ziele sollten für den AKH noch von Bedeutung werden.
Besonderen Einfluss auf die theologische Bewertung der Legitimität der Priester- und Solidaritätsgruppen hatte Karl Rahner.191 Rahner zeigte, dass es derartige Gruppen im Leben der Kirche geben muss und auch immer gegeben hat. Gerade wenn es in der Kirche notwendig ein charismatisches Moment gibt, das nicht allein durch das kirchliche Amt verwaltet und repräsentiert werden kann und darf, seien diese Gruppen wichtig und nötig.192 Denn sie verleihen dem Charismatischen in der Kirche Konkretheit und Effizienz.193 Weil sich diese Gruppen besonders dadurch auszeichneten, dass sie nicht Ausfluss positiven kirchlichen Rechtes sind und sich von sich aus gründeten, bedürften sie „grundsätzlich auch keiner offiziellen Approbation von oben.“194 Trotz ihres „parakanonischen Charakters“195 dürften sie nicht von vornherein unter dem Verdacht stehen, schismatisch zu sein. Dies sei vor allem dann zu beachten, wenn sich die Priestergruppen „in einem gewissen Gegensatz zu den Bischöfen als Leitern der Kirche“196 befinden. Gerade für die ostdeutsche Situation barg eine solche Feststellung eine nicht zu unterschätzende Brisanz in sich.
Ende 1968 hatten sich das Kommissariat Magdeburg und hier besonders die katholische Kirche in der Stadt Halle zu einem Schmelztiegel von Reformbewegungen entwickelt. Besonders junge Akademiker sahen in den Aussagen des II. Vatikanischen Konzils zum Kirchenverständnis, Laienapostolat und zum Weltdienst der Christen einen Impuls, die Situation der katholischen Kirche in der DDR theologisch neu zu bewerten. Die strikt durchgehaltene Abstinenzpolitik der katholischen Bischöfe gegenüber der sozialistischen Gesellschaft schien ihnen nicht erst seit dem Konzil anachronistisch. Aber durch seine Aussagen sahen sie ihre Position in besonderer Weise legitimiert. Dass sich in Halle ein weitverzweigtes Netzwerk reformorientierter Katholiken etablieren konnte, dürfte sowohl an begünstigenden personellen als auch institutionellen Rahmenbedingungen gelegen haben. Die ausgezeichneten Verbindungen der in Magdeburg eingesetzten Paderborner Priester sowie der Studentengemeinden nach Westdeutschland scheinen nicht unwesentlich dazu beigetragen zu haben, dass das Erzbischöfliche Kommissariat trotz der seit 1961 bestehenden staatlichen Isolation infolge der Errichtung der innerdeutschen Grenze am Pulsschlag des internationalen Katholizismus blieb. Der weitgehend inoffizielle Import westlicher theologischer und soziologischer Literatur stieß zwar bei den ostdeutschen Bischöfen auf Skepsis, verstärkte jedoch nur ein ohnehin existentes Reformbestreben, das aus der Situation der Kirche unter einer sozialistischen Diktatur erwuchs. Die zunehmende Verschärfung der Autoritäts- und Priesterkrise 1968, die zeitgleiche Erlahmung der Konzilsrezeption und das Erstarken restaurativer Kräfte, die Niederschlagung des Prager Frühlings, das Ende des Erfurter Gesprächskreises, das Ende des „Hallenser Experimentes“ mit dem Sprachenkurs und der Studentengemeinde sowie das vielfach ungenutzte Potential und Mitspracherecht der katholischen Akademiker, all das hatte für diejenigen, die im Konzil einen Aufbruch der Kirche erblickt hatten, das Fass der Enttäuschungen randvoll gefüllt. Die Nachfolgeregelung für den Paderborner Weihbischof in Magdeburg im Jahr 1969 stellte insofern den sprichwörtlichen Tropfen dar, der den postkonziliaren Reformelan auf breiter Front entfesselte.
2.Initialzündung - die Bischofsernennung in Magdeburg
Gründungsauslöser und erster öffentlicher Testfall für die Rezeption von Geist und Buchstabe des Konzils war die Nachfolgeregelung für den Magdeburger Weihbischof Friedrich Maria Rintelen im Sommer 1969. Die Entwicklungen im Kommissariat Magdeburg zwischen Juli 1969 und der Bischofsweihe im April 1970 stellen ein Exepmel dafür dar, wie sich innerkirchliche, diplomatische und machtpolitische Aspekte auf die Verwirklichung konziliarer Aufbrüche in der DDR auswirkten. Diese äußerst disparate Gemengelage ist für die Bedingungen konstitutiv, unter denen sich die Konzilsrezeption auch im totalitären SED-Staat vollzog. Dabei zeigt sich, welche Probleme und Konsekutivwirkungen die oft nur unzureichende Implementierung demokratischer Partizipationsmöglichkeiten in sich barg. Das geheime Prozedere der Ablösungsbestrebungen sowie der Versuch einer breiten Beteiligung der Ortskirche bei der Wahl des neuen Weihbischofs führten zu erheblichen und teils öffentlichen Kontroversen. Diese spalteten nicht nur den Magdeburger Klerus, sondern hatten Auswirkungen bis in höchste kirchliche Kreise. Im Folgenden soll das vielfältige Problemfeld aufgezeigt werden, auf dem sich der Aktionskreis Halle als innerkirchliche Protestbewegung konstituierte. Die Entwicklungen werden aufgrund ihrer Brisanz, der umfangreichen und erst jüngst zugänglichen Quellenlage sowie der Bedeutung für spätere öffentliche Wahrnehmung des AKH ausführlich dargelegt.
2.1Konfliktreiche Rahmenbedingungen
Im Erzbischöflichen Kommissariat Magdeburg lassen sich in den Jahren 1969/70 im Wesentlichen drei Aspekt benennen, die auf innerkirchliche Reformambitionen Auswirkungen hatten: innerkirchliche Bestrebungen zur Bischofswahl, kirchenpolitische Emanzipationsbemühungen der DDR sowie persönliche Differenzen einzelner Bischöfe in der DDR.
Die innerkirchlich-theologische Situation war auf und nach dem Konzil unter anderem durch die Frage nach einem möglichen Anteil der Priester und Laien an der Bischofswahl geprägt.197 Durch die Jahrhunderte der Kirchengeschichte hindurch gab es unterschiedliche Formen zur Besetzung eines vakanten Bischofssitzes.198 Eine Beteiligung des Presbyteriums oder der Laien bei der Auswahl und Benennung eines Bischofs wird in der katholischen Kirche spätestens seit dem 13. Jahrhundert nicht mehr praktiziert.199 Im 20. Jahrhundert wurde das freie päpstliche Ernennungsrecht zur gemeinrechtlichen Regel erhoben und die Möglichkeit zur Bischofswahl war fortan nur noch eine Konzession an zumeist deutschsprachige Konkordatspartner des Heiligen Stuhls.200 Von diesen Regelungen ist das Prozedere für die Ernennung eines Auxiliarbischofs zu unterscheiden, da dieser entsprechend einer einzureichenden Vorschlagsliste vom Vatikan ernannt wird.201 Das II. Vatikanum ließ keinen Zweifel daran, dass es am geltenden Modus zur Bestellung der Bischöfe festhalten und staatliche Einflussmöglichkeiten zurückgedrängt wissen wollte.202 Nach 1965 kam es weltweit zu Forderungen von katholischen Priestern und Laien, ihre Ortsbischöfe selbst wählen bzw. ein Mitspracherecht bei der Kandidatenaufstellung wahrnehmen zu dürfen.203 Die Nachfolge der Erzbischöfe in New York, Paris und Köln204, um nur einige Beispiele zu nennen, sollte dementsprechend geregelt werden.205 Aufgrund der exzellenten Verbindungen der Magdeburger Priester und Laien nach Westdeutschland - hier ist besonders der Freckenhorster Kreis206 zu erwähnen207 - waren diese Entwicklungen in der DDR präsent.208 Nicht zuletzt die theologische Diskussion dieser Frage hatte diese Ansprüche auch auf die Agenda einzelner ostdeutscher Priester und Laien gesetzt. Dabei waren es gerade keine theologischen Außenseiter, die auf die mangelnde Beteiligung der Ortskirche bei der Bestellung eines Bischofs hinwiesen und für geeignete Formen der Partizipation eintraten.209 In Ostdeutschland hatte unter anderem die Meißner Diözesansynode eine entsprechende Beteiligungsmöglichkeit der Ortskirche eingefordert.210
Die kirchenpolitische Situation in der DDR in den späten 1960er Jahren war wie im gesamten Ostblock äußerst angespannt. Der Grund hierfür lag in einer diffizilen Gemengelage unterschiedlicher außen- und innenpolitischer Interessen der Staaten unter sowjetischer Hegemonie. Umrahmt wurden diese Entwicklungen von der „Vatikanischen Ostpolitik“211 und der Deutschlandpolitik der linksliberalen Bonner Regierung unter Bundeskanzler Willy Brandt.212 Der SED-Staat drängte im Hinblick auf das zwanzigjährige Jubiläum der Staatsgründung auf eine Anerkennung seines völkerrechtlichen Status als zweiter deutscher Staat und übte dafür auch Druck auf die Kirchen aus. Während sich die evangelischen Kirchen in der DDR bereits 1965 von der bundesdeutschen EKD getrennt hatten, galt dies für die katholische Kirche als inopportun. Seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges hatten die katholischen Bischöfe der mitteldeutschen Bistümer alles darangesetzt, die durch die Interzonen- und spätere Staatsgrenze herbeigeführte politische Teilung pastoral abzumildern und die kirchliche Verbindung nicht abreißen zu lassen. Dies zeigte sich besonders deutlich in der Personalpolitik. Friedrich Maria Rintelen, Priester und Generalvikar der Erzdiözese Paderborn, wurde am 12. Dezember 1951 durch Papst Pius XII. zum Titularbischof von Chusira ernannt und am 24. Januar 1952 zum Paderborner Auxiliarbischof geweiht. Kardinal Jaeger entsandte ihn am 1. Januar 1952 als Erzbischöflichen Kommissar nach Magdeburg, wo er den östlichen Diözesanteil im Auftrag von Kardinal Jaeger weitgehend selbstständig leitete.213 Auch in Erfurt, Meiningen und Schwerin waren bischöfliche Kommissare im Amt, die mit delegierten Vollmachten im Auftrag ihrer Ortsordinarien agierten und so die jurisdiktionelle Verbindung über Staatsgrenzen hinweg aufrechterhielten.214 Diese Regelungen waren nötig geworden, da der SED-Staat sukzessive die Kontakte zwischen den ost- und westdeutschen Diözesanteilen einzuschränken versuchte und die westdeutschen Bischöfe schließlich ab 1966 mit einem totalen Einreiseverbot in die DDR belegte.215 Das staatliche Ziel war die Loslösung der katholischen Kirche in der DDR von den bundesdeutschen Diözesen, analog zur Entwicklung in den evangelischen Kirchen.216 Die Kirche musste deshalb fürchten, dass sich der SED-Staat infolgedessen in ihre inneren Angelegenheiten einmischen könnte. Bereits 1962 hatte das Staatssekretariat für Kirchenfragen in der DDR signalisiert, dass es dem Souveränitätsanspruch des SED-Staates zuwiderlaufe, wenn er bei Fragen die Katholiken in der DDR betreffend, mit westdeutschen Bischöfen in Kontakt treten müsse.217 Diesen Entwicklungen folgend hatte sich der Berliner Erzbischof und Vorsitzende der Berliner Ordinarienkonferenz Alfred Kardinal Bengsch 1966 in Rom für eine ernsthafte Erwägung der „Sicherung der kirchlichen Administration und Jurisdiktion im Gebiet der DDR“218 eingesetzt. Um die Jurisdiktion in diesen Gebieten auch weiterhin gewährleisten zu können, schlug Bengsch in Rom vor, im Zusammenhang mit der Ernennung von Apostolischen Administratoren für Westpolen auch in Ostdeutschland derartige Regelungen zu treffen.219 In Vorbereitung auf den zwanzigsten Jahrestag der Gründung der DDR 1969 forcierte der SED-Staat im Rahmen seiner gesteigerten Souveränitätsbestrebungen eine Loslösung und Verselbstständigung der katholischen Kirche in der DDR.220 Höhepunkt dieser Strategie war die am 14. Mai 1969 von Staatssekretär Hans Seigewasser abgegebene Erklärung, dass im Todesfall eines Weihbischofs der von Westdeutschland ernannte Nachfolger von der DDR-Regierung nicht mehr anerkannt werden würde.221 Der Paderborner Erzbischof hatte bereits 1967 Vorkehrungen getroffen, die im Falle einer Paderborner Sedisvakanz die Stabilität und Kontinuität in Magdeburg sichern sollten. Das Amt des Generalvikars würde zwar wie kirchenrechtlich vorgeschrieben mit Erledigung des Paderborner Bischofsstuhls erlöschen, jedoch nicht Rintelens Amt als Erzbischöflicher Kommissar. Dazu hatte ihm Erzbischof Jaeger alle Vollmachten übertragen, die ein Bischof delegieren kann.222 Schwieriger zu beantworten war hingegen die Frage, wie im Falle eines alters- oder gesundheitsbedingten Rücktritts der Kommissare in der DDR zu verfahren sei. Dem kirchenrechtlich vorgesehenen Ablauf folgend, hätte die Ernennung eines Nachfolgers das Eingreifen des zuständigen westdeutschen Bischofs erfordert. Aufgrund von Sondierungsgesprächen mit staatlichen Repräsentanten war Kardinal Bengsch zu der Auffassung gelangt, dass, sollten die Nachfolger zu westdeutschen Weihbischöfen ernannt und anschließend in die DDR geschickt werden, der SED-Staat sie als westliche Beauftragte ansehen und möglicherweise in ihrer Amtsführung behindern würde.223 Gerade im Vorfeld des zwanzigsten Jahrestages der Staatsgründung mussten die ostdeutschen Bischöfe daher besonders darum bemüht sein, „dass den staatlichen Behörden keine Möglichkeit gegeben wird, sich in die kirchliche Verwaltung unter dem Vorwand ihrer Souveränitätspolitik einzuschalten.“224
Die ohnehin konfliktreichen innerkirchlichen und politischen Rahmenbedingungen spitzten sich schließlich drittens durch persönliche Faktoren zu. Weihbischof Rintelen hatte gegenüber der Berliner Ordinarienkonferenz und gegenüber Kardinal Jaeger mehrfach zum Ausdruck gebracht, dass er „mit Erreichen des 70. Lebensjahres die Leitung des Kommissariates niederlegen“225 würde. Dies entsprach den durch das Konzil erneuerten Altersgrenzen zur Emeritierung von Bischöfen.226 Da Friedrich Maria Rintelen 1899 geboren wurde, wurde diese Frage spätestens im Dezember 1969 akut. Darüber hinaus hat es auf verschiedenen kirchlichen Ebenen Kritik an Rintelens Führungsstil im Kommissariat Magdeburg gegeben. Dies dürfte etwaige Nachfolgeplanungen zusätzlich motiviert haben. Klagen über den Führungsstil des Magdeburger Weihbischofs breiteten sich nicht nur innerhalb des Erzbischöflichen Kommissariates aus. Sie gelangten auch nach Paderborn und Berlin. Bereits Anfang der 1960er Jahre hatte sich in bestimmten Magdeburger Kreisen ein „Unbehagen gegen den Weihbischof“227 entwickelt. Ob es sich hierbei nur um eine Minorität im Klerus gehandelt hat, lässt sich nicht zuverlässig eruieren. 1965 berichtete der Hallenser Studentenpfarrer und Leiter des Sprachenkurses Adolf Brockhoff dem Paderborner Erzbischof von der Unzufriedenheit verschiedener Gruppen und Kreise mit der Art und Weise, wie Weihbischof Rintelen das Kommissariat leitete: „Der Weihbischof ist seit langem überfordert. Er ist überfordert sich der politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Situation in der DDR zu stellen. Er ist überfordert, die großen Aufbrüche des Konzils wirklich zu begreifen und sie zum Impuls eines neuen Anfangs zu machen. Er ist überfordert, an den täglichen Nöten und Sorgen von Priestern und Volk zu partizipieren.“228 Trotz dieser Kritik und den unterschiedlichen theologischen und pastoralen Standpunkten, die Rintelen und bestimmte reformorientierte Teile des Magdeburger Klerus vertraten, herrschte ein menschlich ausgewogenes Verhältnis.229 Allerdings gab es einen Priester - er gehörte dem Reformflügel im Klerus offensichtlich nicht an – der, vermutlich persönlich betroffen, für die Situation im Kommissariat Magdeburg in den 60er Jahren, die seiner Meinung nach von „Resignation“ und innerer „Emigration“ der Priester sowie einer grundlegenden Enttäuschung unter den Laien geprägt gewesen sei, vor allem die Person des Magdeburger Weihbischofs verantwortlich machte und ihn gegenüber dem Berliner Erzbischof Bengsch denunzierte.230









