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Zunächst ist festzuhalten, dass Willi Verstege eine identische Kopie des ursprünglichen „Jäger-Briefes“ vervielfältigt und im Kommissariat versandt hatte. Der Brief war ihm zusammen mit dem anonymen Anschreiben von Adolf Brockhoff im Februar 1970 übergeben worden.417 Willi Verstege übernahm die Veröffentlichung, weil er einerseits schon mehrere offene Briefe in den vergangenen Monaten verschickt hatte und damit an eine Linie anknüpfen konnte. Andererseits verfolgte er ganz bewusst die Absicht, ein Junktim zwischen der sich zu diesem Zeitpunkt immer stärker abzeichnenden Ernennung Brauns zum neuen Magdeburger Weihbischof und dem „Jäger-Brief“ herzustellen.418 In Versteges offenem Brief an Johannes Braun wurde deshalb die Vermutung geäußert, dass Prälat Jäger den Versuch unternommen habe, einen möglichen Konkurrenten zugunsten seines Protegés aus dem Weg zu räumen. Verstege ging davon aus, dass es sich aufgrund der engen zeitlichen Verbindung zur Wahl des Klerus um eine gezielte Verleumdungsaktion gegen den scheinbar aussichtsreichsten Kandidaten der Abstimmung handelte.419 An die Wahl und ihre Intention anknüpfend wies der offene Brief schließlich darauf hin: „Für mich steht es fest, dass viele Mitbrüder sich an der ‚Wahl‘ des Nachfolgers beteiligt haben, um Sie als möglichen Kandidaten auszuschalten. Niemand wollte und will Ihnen damit Ihre menschlichen und priesterlichen Qualitäten absprechen. Aber Ihre Qualifikation für das Amt des Bischofs wird von vielen ernsthaft bezweifelt.“420 Vikar Verstege war bewusst, dass ein solch öffentlicher Angriff auf Johannes Braun mit keinem demokratischen Anspruch zu legitimieren war.421 Es zeichnet sich ein vielschichtiges Motivationsbündel ab, das ihn derart handeln ließ. Durch die Veröffentlichung der Briefe sollte zunächst eine innerkirchliche Haltung kritisiert und überwunden werden, die um der kirchlichen Einheit willen keinen offenen Meinungsausstauch und Pluralismus meinte zulassen zu können.422 Für Verstege gehört es zur authentischen Verkündigung des Evangeliums, dieses selbst auferlegte Korsett zu überwinden: „Wie ich das sehe - ich bin ein Wald-und-Wiesen-Priester - kann ich ehrlicherweise nicht am Sonntag verkündigen und predigen: ‚Oh Brüder und Schwestern, das Evangelium macht frei von Ängsten und von den Mächten, die uns bedrohen‘ und auf der anderen Seite lass ich mich aber bedrohen und im Leben nach dem Evangelium in Offenheit, Wahrhaftigkeit und Brüderlichkeit einengen.“423 Der „Jäger-Brief“ wurde auch veröffentlicht, weil man Willi Verstege von verschiedenen kirchlichen Stellen in Magdeburg signalisiert hatte, den offensichtlich untragbar gewordenen Prälaten absetzen zu wollen, um damit den Konflikt stillschweigend zu beenden.424 Gegen das Opfern des vermeintlichen „Sündenbocks“ in Gestalt des Prälaten Jäger verwahrte sich Verstege ausdrücklich, weil er darin erneut jene innerkirchlichen Praktiken am Werk sah, die er durch den veröffentlichten Brief kritisieren wollte.425 Schließlich hatte Willi Verstege sowohl schriftlich als auch mündlich erklärt, dass er es für geboten erachte, „unwürdige Geheimnisse zu verraten.“426 Als ein solches betrachtete er die von Prälat Jäger vorgebrachten Anschuldigungen, da von einer „fünften Kolonne“ des Erfurter Bischofs nicht die Rede sein könne.427 Ein ähnlich getrübtes Verhältnis hatte sich zwischen Hugo Aufderbeck und Adolf Brockhoff eingestellt, nachdem Brockhoffs Ausscheiden aus der Leitung des Hallenser Sprachenkurses 1966 von allen Bischöfen unterstützt worden war.428
Die zweite Frage, weshalb Willi Verstege dem scheinbar designierten Nachfolger die Qualifikation als Bischof öffentlich absprach, beantwortete der Nienburger Priester sowohl mit persönlichen als auch mit theologischen Motiven. Freimütig bekannte er öffentlich: „Für mich ist der Gedanke, dass Herr Prälat Braun Bischof werden könnte, entsetzlich gewesen.“429 Den offenen Brief bezeichnete er deshalb auch als einen „Akt der Verzweiflung“430, da sich immer mehr abzeichnete, dass Braun tatsächlich die Nachfolge von Rintelen antreten könnte. Dieses Entsetzen war nach dem authentischen Zeugnis von Willi Verstege aber nicht von einer persönlichen Abneigung geprägt, sondern von der Sorge um die Gestalt von Kirche unter einem solchen Bischof. Willi Verstege befürchtete, dass Johannes Braun gerade nicht ein Repräsentant einer „Kirche der Armen“ sein könnte, wie von Gaudium et spes formuliert und gefordert wurde, die aufgrund der Situation in der DDR und konkret in Magdeburg drängender denn je gebraucht würde.431 Die Veröffentlichung des Jägerbriefes und die öffentliche Ablehnung der Gestalt Brauns waren daher im Kern die theologisch begründete, vom Zweiten Vatikanischen Konzil ausgehende Ablehnung der Fortführung einer bestimmten kirchlichen Erscheinungsform und eines bestimmten kirchlichen Selbstverständnisses.
So authentisch die Motive Willi Versteges zur Veröffentlichung der Briefe sein mochten, die angesichts der theologischen Begründung im konziliaren Kirchenverständnis sogar teilweise begrüßenswert erscheinen, kann diese „Verzweiflungstat“ doch nicht losgelöst von der fortgesetzten Verletzung des Briefgeheimnisses betrachtet werden. Fest steht, dass das Ministerium für Staatssicherheit den Brief des Prälaten geöffnet und damit das Briefgeheimnis ursprünglich verletzt hat. Unabhängig von der moralischen Qualifizierung des „Jäger-Briefes“ und seines Inhaltes stellt die nicht authorisierte Weitergabe durch Willi Verstege ebenfalls eine Verletzung des Briefgeheimnisses dar. Die persönliche Integrität Willi Versteges lässt eine Interpretation, nach der er der Kirche insgesamt, oder den Personen Heinz Jäger oder Johannes Braun habe Schaden zufügen wollen, in keiner Weise zu.432 Die Veröffentlichungen waren dem authentisch bezeugten Bemühen geschuldet, dem kirchlichen Leben nach dem Evangelium dienen zu wollen. Dass Verstege für seine Ziele dennoch Wege beschritt, die für sich genommen inakzeptabel sind, bleibt eine abschließend nicht aufzulösende Ambivalenz.
Bislang undokumentiert sind die weiteren Entwicklungen sowie verschiedene Reaktionen auf den „Jäger-Brief“ und seine Veröffentlichung. Anfang 1970 hat Heinz Jäger einen zweiten Brief an den Paderborner Kardinal geschrieben. Diesmal fokussierten sich die Angriffe allerdings auf den Berliner Kardinal.433 Lorenz Kardinal Jaeger zeigte sich vom Inhalt des ersten „Jäger-Briefes“ weniger brüskiert434 als von der Tatsache seiner unautorisierten Weitergabe und Veröffentlichung.435 Mehrfach bemühte er sich herauszufinden, wie der Brief in Willi Versteges Besitz geraten konnte, da er ihn in Paderborn absolut vertraulich behandelt hatte.436 Erst durch ein vom Kardinal selbst in Auftrag gegebenes amtliches Gutachten beim bundesdeutschen Posttechnischen Zentralamt wurde für den Paderborner Erzbischof aus einer Vermutung437 Gewissheit: Der Umschlag jenes Briefes war „durch Ablösen der Briefverschlussklappe über Wasserdampf zwischengeöffnet“438 worden, eine durch das MfS täglich eingesetzte Überwachungsmethodik.439
Die Reaktion des in dem „Jäger-Brief“ direkt angegriffenen Erfurter Weihbischofs war weitaus zurückhaltender. Gegenüber Claus Herold hatte er telefonisch mitgeteilt, dass er von der Hoffnung lebe, es handle sich um eine Fälschung.440 In der Korrespondenz mit Kardinal Jaeger äußerte sich der verleumdete Weihbischof ausführlicher zu den Vorgängen: „Ich gestehe aber, dass ich auf Ihren Brief besonders gewartet habe...So danke ich Ihnen in dieser Situation ganz besonders für Ihren Brief, für Ihr weiteres Wohlwollen und Vertrauen, das Sie mir erneut in Ihrem Brief bekundet haben. Gegen die Unterstellungen, die in dem bekannten Brief ausgesprochen sind, habe ich mich nicht gewehrt. Es gibt Augenblicke, wo man wehrlos ist. Ich kann Ihnen nur sagen, dass die berichteten ‚Fakten’ einfach nicht stimmen oder völlig falsch interpretiert sind. In den 8 Jahren meiner Tätigkeit in Erfurt bin ich dem Kommissariat Magdeburg gegenüber mehr als abstinent gewesen. Ich habe 24 Jahre im Kommissariat Magdeburg gearbeitet. Ich war sehr gern da und denke sehr gern an diese Jahre zurück. Jedoch hielt ich es nach meinem Weggang aus vielerlei Gründen für richtig, mich von dort ganz zurückzuziehen, was mir zwar manche Mitbrüder verübelt haben, was aber sicher im Interesse der ganzen Lage richtig war...Ich war über den Inhalt der Briefe so perplex, dass ich anfänglich alles für Fälschung gehalten habe. Meines Erachtens ist der Weg der Publikation ziemlich eindeutig...Er ist offensichtlich auf dem Postwege abgefangen und dann von interessierten, sicher nicht kirchlichen Stellen, weitergegeben worden.“441 Prälat Jäger und Weihbischof Aufderbeck hatten sich zwischenzeitlich in Nordhausen getroffen und in einem kurzen Komunique erklärt, dass es zu einer klärenden Aussprache gekommen sei.442 Aufderbeck selbst bemerkte hierzu: „Ich habe die Ihnen gewiss bekannte kurze Nordhäuser Erklärung mit Prälat Jäger unterschrieben, weil ich glaubte, sie würde zur Beruhigung beitragen, was allerdings leider nicht der Fall gewesen ist.“443
Der „Jäger-Brief“ war allgemein bekannt und seine Aussagen und Intentionen waren umstritten. Wollte Prälat Jäger tatsächlich nachträglich Einfluss auf das Wahlergebnis nehmen, wie Willi Verstege unterstellt hatte? Da unklar ist, wer mit Friedrich Maria Rintelen zusammen die Wahlzettel des Klerus ausgezählt hat, kann nicht ausgeschlossen werden, dass Prälat Jäger direkt oder indirekt Kenntnis von der Stimmverteilung hatte. Wenn Prälat Braun tatsächlich einen deutlichen Stimmenvorsprung vor Professor Schürmann hatte und Hugo Aufderbeck abgeschlagen auf Platz drei lag, weshalb schrieb dann Brauns Parteigänger einen Brief, der geeignet war, denjenigen zu diskreditieren, der die meiste Aussicht auf Erfolg hatte? Aufschlussreich könnten in diesem Zusammenhang bislang unbekannte Briefe von Friedrich Maria Rintelen sein. Verschiedene Briefe und Manuskripte im Nachlass des Weihbischofs lassen ebenfalls die Tendenz erkennen Hugo Aufderbeck als wohl aussichtsreichen Nachfolger zu kompromittieren. Weihbischof Rintelen hatte bereits wenige Tage nach der Wahl im Dezember einen Brief an den Apostolischen Nuntius Erzbischof Bafile geschrieben.444 Dieses Schriftstück ist nicht mehr erhalten. Die Replik des Nuntius weist jedoch eindeutig auf das von Rintelen behandelte Thema hin: Zur Beruhigung der Gemüter könne Rintelen auf Anfragen hin verwenden, dass „Aufderbeck als möglicher Kandidat für Ihre Nachfolge in Betracht gezogen wurde...“445 In welcher Richtung Rintelen argumentiert haben könnte, darüber gibt ein Brief vom 5. Januar 1970 an Kardinal Jaeger Aufschluss. Darin stellt Rintelen im Hinblick auf eine mögliche Rückkehr Aufderbecks nach Magdeburg ausdrücklich fest: „Eminenz! In der Frage eines Nachfolgers für mich wird immer wieder erwogen, ob nicht Herr Weihbischof Aufderbeck, der ja bis vor wenigen Jahren Priester des Kommissariates Magdeburg war, nach hier zurückkehren solle. Herr Weihbischof Aufderbeck hat ganz sicher eine hohe Begabung. Auch hat er, wie man hört, eine große Kontaktfähigkeit. Und doch glaube ich, wäre es nicht gut, wenn er als Weihbischof nach Magdeburg käme, und zwar vor allem deshalb, weil er nach dem Erscheinen die Enzyklika ‚Humanae Vitae’ ... durch eine Stellungnahme zu dieser Enzyklika, die auch in meinem Kommissariat verbreitet wurde,...geradezu Ärgernis erregt hat... Exzellenz Aufderbeck hat damals gemeinsam mit ganz wenigen Geistlichen einen Vortrag ‚über katholische Ehelehre nach den Aussagen des Konzils und der neuen Enzyklika Humanae vitae’ erarbeitet und angeordnet, dass dieser Vortrag in allen [Gemeinden, SH] seines Gebietes gehalten würde. Vervielfältigt kam dieser Vortrag auch in meinen Bezirk. Viele meiner Geistlichen waren erschrocken - meinten der Vortrag sei geradezu eine Aufforderung, gegen die Enzyklika zu handeln... Eine Anzahl meiner Geistlichen waren über diese Ausführungen entsetzt und sind es heute noch. Sie würden sicherlich ein wenig erschrocken sein, wenn Herr Weihbischof Aufderbeck jetzt ihr Ordinarius würde. Der Gerechtigkeit halber sei noch gesagt, dass der in Frage stehende Vortrag neben den oben ausgeführten Stellen ganz ausgezeichnete Partien aufweist. Auf Wunsch könnte ich den ganzen Vortrag Euer Eminenz zukommen lassen.“446
Am 9. März 1970 hatte Weihbischof Rintelen vom Apostolischen Nuntius eine Antwort auf seinen Brief vom 15. Dezember 1969 erhalten. Erzbischof Bafile bestätigte darin, dass Hugo Aufderbeck tatsächlich für Rintelens Nachfolge vorgesehen war, dass dieser Gedanke aber aufgrund zweier Erwägungen nicht weiter verfolgt wurde: „1. es wäre unangebracht gewesen, eine Stelle zu berauben, um eine andere Stelle zu besetzen; 2. es schien unzumutbar, Weihbischof Aufderbeck, der seit 1962 segensreich in Erfurt wirkt, im Alter von 61 Jahren wieder nach Magdeburg zu versetzen, wo er einen neuen Anfang machen müsste.“447 Das letzte Schreiben von Weihbischof Rintelen an den Nuntius in dieser Frage datiert auf den 24. März 1970. Darin unterstrich Rintelen nochmals seine Überzeugung und erklärte, dass unabhängig von der möglichen Erfurter Vakanz die Ernennung Brauns „für das Kommissariat Magdeburg ... die bessere Lösung ist.“448
Wie lassen sich nun die zahlreichen Briefe und damit verbundenen Intentionen zusammenfassen? Auffallend ist, dass sowohl Prälat Jäger als auch Weihbischof Rintelen unmittelbar nach der Stimmabgabe des Presbyteriums sich gegenüber den zuständigen kirchlichen Instanzen klar und unmissverständlich gegen eine Ernennung von Hugo Aufderbeck ausgesprochen haben. Von der ebenso eindeutigen Ablehnung dieser Option durch Kardinal Jaeger dürften sie vermutlich nicht unterrichtet gewesen sein. Welches Ziel verfolgten also diese Briefe, wenn Johannes Braun ohnehin die Abstimmung des Klerus gewonnen hatte und zumindest Weihbischof Rintelen das Ergebnis der Stimmauszählung kannte? Für die im Kommissariat durchaus verbreitete Vermutung, es sei bei der Stimmauszählung zu Unregelmäßigkeiten gekommen, gibt es anhand der zur Verfügung stehenden Quellen keine eindeutigen Beweise. Zwar würde die Intention der Briefe an Kardinal Jaeger und Nuntius Bafile verständlicher erscheinen, wenn nicht Braun, sondern Aufderbeck die meisten Stimmen hätte auf sich vereinigen können. Ginge man von Manipulationen aus, wäre auch plausibler zu erklären, weshalb Weihbischof Aufderbeck noch weniger Stimmen als Heinz Schürmann bekommen haben sollte. Es erscheint beachtenswert, dass sich das Presbyterium bei der einmaligen Gelegenheit, indirekt den zukünftigen Weihbischof wählen zu können, auf Experimente eingelassen haben soll und nicht den Kandidaten nominierte, der allen durch seine Arbeit bekannt, von der Mehrzahl geschätzt und mit den Aufgaben eines solchen Amtes bereits vertraut war. Auffallend bleibt schließlich, dass sich der vom Paderborner Erzbischof von Beginn an favorisierte Kandidat, der angesichts von „Unruhe und Verwirrung“ im Kommissariat für „Klarheit, Sicherheit, Ruhe“449 sorgen sollte, sich trotz gegenteiliger Prognosen hatte durchsetzen können. Doch für derartige Hypothesen gibt es keine verlässlichen Hinweise, zumal eine Manipulation das Stillschweigen aller daran Beteiligten vorausgesetzt hätte. Vielmehr scheint sich die fehlende Nominierungsmöglichkeit und der geheime Abstimmungsmodus als Vorteil für Johannes Braun herausgestellt zu haben. Es ist durchaus vorstellbar, dass aufgrund des Wahlmodus sich die Stimmen für Aufderbeck und Schürmann ungünstig verteilt haben. Beide hatten durchaus kompatible theologische Programme, weshalb es Grund zu der Annahme gibt, dass, wenn nur einer von beiden zur Wahl gestanden hätte, sich die insgesamt 104 Stimmen auf ihn konzentriert hätten, die sich so auf beide verteilten. Zwar weisen die 61 Stimmen von Prälat Braun nicht auf eine breite Unterstützung im Magdeburger Presbyterium hin. Dennoch reichte diese Anzahl, um sich gegenüber den sich aufgesplitteten Stimmen für die Linie Aufderbeck/Schürmann durchsetzen zu können. Welche Auswirkungen auf das Wahlergebnis die Andeutungen Kardinal Jaegers in der Korrespondenz mit Magdeburger Priestern hatten, wonach Prälat Braun auch sein Favorit sei, bleibt Spekulation.
Am 9. März 1970 teilte Weihbischof Rintelen zusammen mit Kardinal Bengsch in einer amtlichen Mitteilung allen Geistlichen des Kommissariates Magdeburg mit, dass Papst Paul VI. den langjährigen Rektor des Norbertuswerkes Monsignore Johannes Braun „zum Titularbischof von Puzia di Bizancena und Adjutor-Bischof des Erzbischöflichen Kommissarius für Magdeburg mit dem Recht der Nachfolge ernannt“450 hat. Die Bischofsweihe sollte am 18. April 1970 im Magdeburger Dom stattfinden.451
Die offizielle Ernennung von Rektor Braun löste in der Hallenser Solidaritätsgruppe erneut große Empörung aus. Am 14. März publizierte die Gruppe eine Erklärung, in der sie zur Wahl und der Person des Ernannten Stellung nahm.452 Trotz der stattgefundenen Stimmabgabe im Dezember 1969 sahen sich die Hallenser in ihrem Mitspracherecht beschnitten, da die Wahl unter Ausschluss der Laien und ohne Bekanntgabe von Kandidatenvorschlägen und Wahlergebnissen durchgeführt worden war. Unverständlich war für die Gruppe, wie Prälat Braun die Wahl hatte gewinnen können. Nach ihrer Wahrnehmung war er außerhalb des Norbertinums kaum bekannt, in keiner Gruppe der Priester oder Laien aktiv und hinsichtlich seiner theologischen Einstellung etwa zur Ökumene und der gesellschaftlichen Aufgabe der Kirche sei nichts bekannt gewesen.453 Die Solidaritätsgruppe fühlte sich übervorteilt. Deshalb optierte sie für die letzte verbliebene Alternative und drängte ohne Aussicht auf Erfolg darauf, den gesamten Vorgang der Bischofserhebung zu stoppen.454 Sollte jedoch Prälat Braun zum Bischof geweiht werden, wollte die Gruppe durch ihre Einwände und Bedenken einen positiven Beitrag leisten, um das konstruktive Gespräch im Kommissariat wieder aufzunehmen.455 Am 4. April konstituierte sich der Aktionskreis Halle als kirchliche Basisgruppe, die sich aus Priestern und Laien zusammensetzte und jenseits gemeindlicher Strukturen agierte.456 Der Bischofsweihe von Johannes Braun am 18. April 1970 waren die Priester des wenige Tage zuvor gegründeten Aktionskreises ferngeblieben.457 Am 1. Juni 1970 trat Weihbischof Rintelen in den Ruhestand und Bischof Braun übernahm offiziell die Magdeburger Amtsgeschäfte.458
Überblickt man die als Auslöser für die Gründung des AKH bezeichnete Bischofswahl im Kommissariat Magdeburg vor dem Hintergrund der Konzilsrezeption, so wird deutlich, dass nicht nur die Hallenser Protestgruppe, sondern auch Kardinal Jaeger in Paderborn sowie der Heilige Stuhl in Rom einen konziliar geprägten Geist des Aufbruchs rezipiert haben. Obwohl der gewählte Modus die Stimmabgabe von Laien nicht vorsah und insofern der Volk-Gottes-Ekklesiologie von Lumen gentium nur eingeschränkt Rechnung trug, war es doch innerhalb des kanonisch möglichen Rahmens zu einer Wahl des bischöflichen Nachfolgers gekommen. Dass letztlich alle Beteiligten mehr den Geist als den Buchstaben des Konzils rezipiert haben, ist gerade im Hinblick auf die Rezeptionshermeneutik ein nicht zu vernachlässigender Aspekt. Allerdings stellten die mit dem Ablauf der Wahl verbundenen Spannungen nicht nur für das Kommissariat Magdeburg eine schwere Hypothek dar, welche die gesamte Amtszeit von Bischof Braun prägen sollte. Auch zu der von Rom in Aussicht gestellten Neuregelung der Bischofswahl unter stärkerer Einbeziehung der Ortskirche ist es nicht mehr gekommen. Inwiefern dabei die negativen Erfahrungen aus Magdeburg eine Rolle gespielt haben, bleibt unklar. Sollte Kardinal Jaeger von den kurialen Behörden zu seinen Erfahrungen mit derartigen Bischofswahlen befragt worden sein, dürfte von der anfänglich vorhandenen Unterstützung dieser Reformbestrebungen kaum mehr die Rede gewesen sein.459 Dass an mancher Eskalation während der mehrmonatigen Nachfolgeregelung die inadäquate Implementierung demokratischer Elemente in innerkirchliche Abläufe mitverantwortlich war, wird man kaum bezweifeln. Die im Höchstmaß intransparente Wahl forderte geradewegs dazu heraus, ihre Ergebnisse in Zweifel zu ziehen und dadurch die entstandenen Spannungen nochmals zu vergrößern. In der Bischofswahl in Magdeburg 1969 manifestiert sich der Gründungsmythos des Aktionskreises Halle. Trotz kirchenpolitischer Bedenken, geheimpolizeilicher Manipulationen und innerkirchlicher Intrigen hatten es ein kleiner Teil des Klerus und zahlreiche Laien vermocht, ihren vom Konzil inspirierten Anspruch auf mehr innerkirchliche Mitverantwortung zumindest formal durchzusetzen.
3.Konstituierung und Konsolidierung
Die Bischofsweihe von Johannes Braun hätte das Ende der Hallenser Protestbewegung bedeuten können. Doch die zunächst noch lose assoziierte Gruppe formierte sich kurz vor der Einführung des neuen Magdeburger Weihbischofs und avancierte bis 1989 zu einer festen, aber nicht unumstrittenen Institution im Katholizismus der DDR. Welche Ziele und Forderungen dabei verfolgt wurden, wie sich die Gruppe zusammensetzte, organisierte und welche Themen in den Rundbriefen und Vollversammlungen debattiert wurden, soll im Folgenden dargestellt und auf eine mögliche Konzilsrezeption hin befragt werden.
3.1Selbstverständnis, Ziele, Forderungen
Historisch greifbar äußert sich das Selbstverständnis des AKH in zentralen Erklärungen, die durch Abstimmungsprozesse legitimiert sind. Als Grundlagendokumente des Aktionskreises lassen sich der Protestbrief an den Papst im Juli 1969460, der Nienburger Tagungsbericht aus dem Herbst 1969461, eine Erklärung vom 14. März 1970 zur Bischofswahl462 sowie die verschiedentlich aktualisierte Grundsatzerklärung463 und Ordnung464 des Aktionskreises bestimmen. Das Proprium der Gemeinschaft, ihre Ziele und Forderungen werden darin ebenso fixiert wie die Grundlagen der Zusammenarbeit.
Die Einforderung von mehr innerkirchlicher Mitverantwortung aus dem Geist des Konzils ist das zentrale Motiv der Gründung des AKH und für seine Identität von essentieller Bedeutung. Die Magdeburger Priester und Laien proklamierten mit ihrer Protestnote an den Papst 1969 nicht nur größere Beteiligungsrechte bei der anstehenden Bischofsernennung.465 Mit der Legitimierung des Anspruchs aus der Volk-Gottes-Ekklesiologie heraus ordneten sie sich in eine innerkirchliche „Suchbewegung“466 ein, die nach der authentischen Interpretation und Rezeption von Geist und Buchstabe des Konzils fragte. Von Beginn an verstand sich der Aktionskreis Halle als selbstständige „Impulsgruppe und Arbeitsgemeinschaft von katholischen Christen (Priestern und Laien) im Kommissariat Magdeburg, [die] an der Erneuerung der Kirche im Sinne der beschlossenen Grundsatzerklärung mitwirken [wollte].“467 Obgleich er sich bewusst nicht in die kanonischen Kategorien des kirchlichen Vereinsrechts einordnete, interpretierte die Gruppe ihre Arbeit ausdrücklich „als legitime Form kirchlichen Lebens“468 und insistierte dabei auf den theologisch gerechtfertigten Zusammenschluss getaufter Christen und auf die Notwendigkeit innerkirchlicher Pluralität.469 Dabei rezipierte sie vor allem die zeitgleichen Erklärungen Karl Rahners zu den Möglichkeiten und Chancen von Priestergruppen.470 Sein Selbstverständnis als „Impulsgruppe und Aktionsgemeinschaft“471 bekräftigte der AKH mehrfach, wobei die territoriale Fokussierung auf das Kommissariat Magdeburg ab 1972 zugunsten einer Orientierung auf das Gebiet der gesamten DDR ausgeweitet wurde.472 Eine Reduzierung des AKH auf eine bloß personell aufgestockte „Korrespondenzgruppe“ oder eine über die Studienzeit hinaus erstarkte Hallenser Studentengemeinde wird dem Selbstverständnis der verschiedenen Gruppen kaum gerecht.473 Vielmehr handelt es sich beim Aktionskreis Halle um eine neue Gruppierung, die zwar auf bestehenden Erfahrungen und personellen Netzwerken aufbauen konnte, die sich aber im Mitgliederprofil, ihrer Struktur, Größe, Arbeit und Zielsetzung von den Vorläufern deutlich unterschied. Obgleich der AKH jedwede Exklusivität ablehnte, „weil sie die Einheit der Kirche sprengt und ihre Offenheit zur Welt gefährdet“474, formte die überwiegend akademische Herkunft seiner Mitglieder die Gruppe maßgeblich. Ob er sich selbst als „Avantgarde“475 verstand, ihm dieses Bewusstsein zugeschrieben oder es nur von einzelen Mitgliedern gepflegt wurde, bleibt offen. Von Anfang an verstand sich der Aktionskreis nicht als „unverbindliche Freizeitbeschäftigung, die man betreibt, wenn man gerade Lust dazu hat, wenn man wieder einmal die Nase voll hat von einsamen kirchenamtlichen Entscheidungen.“476 Auch wollte er kein Auffangbecken für frustrierte Katholiken und kirchliche „Revoluzzer“477 sein.478 Obgleich er dies in bestimmter Hinsicht doch auch war, blieb sein programmatisches Interesse und Selbstverständnis auf „Veränderungen in der Kirche der DDR“479 ausgerichtet. Indem sich der Aktionskreis Halle für jene katholischen Priester in der DDR einsetzte, die infolge von Laisierungsverfahren geistlicher und finanzieller Unterstützung bedurften - der AKH richtete ein eigenes Konto ein, von dem die sogenannten „Priester ohne Amt“ (PoA) finanzielle Hilfen bekamen - drückte sich ein diakonaler Aspekt seiner Tätigkeit aus.









