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Einmal, während dreiwöchiger Ferien, hatte Vater die Gelegenheit, auf Farm Eirub, der privaten Farm von Herrn Hoerlein, dem Betriebsleiter der Mine, etwas dazuzuverdienen. Er musste die Motoren und Maschinen dort warten und reparieren. Mutter und ich durften mitfahren und so lernten wir das erste Mal ein bisschen Südwester Farmleben kennen. Die Farmen im Süden des Landes waren meist Schaffarmen, die mehrere zehntausend Hektar groß sein konnten. Es regnete hier sehr wenig und die Weide bestand aus recht spärlich bewachsenen, weiten und trockenen Grassavannen. Ideale Bedingungen für die genügsamen Schafe, die zur Fell- und Fleischproduktion gezüchtet wurden. Die Farmer brauchten mitunter mehrere Tage, um ihren Besitz abzufahren und dabei hunderte Schafe zu kontrollieren. Der Absatz ihrer Produkte war zu den meisten Zeiten gut und viele von ihnen waren recht wohlhabend. Allerdings entwickelten sich durch das Einsiedlerdasein auch recht eigensinnige Charaktere unter ihnen. Eirub war eine wunderschöne Farm und ich genoss diese Ferien sehr. Leider ging es viel zu früh wieder ins Schülerheim zurück.
Onkel Pepi zog dann irgendwann auf die Nonidas-Kleinsiedlung in der Nähe von Swakopmund. Als „Kleinsiedlung“ bezeichnet man eine kleine Farm oder Bauernhof. Dort betrieb sein Vater eine Milchwirtschaft und Pepi stieg mit in den väterlichen Betrieb ein. Diese ersten Kleinsiedlungen lagen einige Kilometer vor der Mündung des Swakop Riviers, dieses großen Trockenflusses aus dem zentralen Inland. Trockenflüsse werden, nach dem afrikaansen Wort für Fluss, „Rivier“ genannt. Die fruchtbaren und grünen Uferbereiche am Swakop boten die einzige Möglichkeit, etwas Landwirtschaft in der weiten Umgebung der Wüste um Swakopmund herum zu betreiben.
Die politische Stimmung kippte auch hier plötzlich. 1938 teilte man meinem Vater mit, dass er sich naturalisieren lassen müsse, um ein „british subject“ zu werden, andernfalls würde man ihm die Kündigung nahelegen. Dies bedeutete, dass er seine deutsche Staatsbürgerschaft abgeben und dafür die südafrikanische annehmen sollte. Vater war Reichsdeutscher und sprach weder das landesübliche Afrikaans noch Englisch, auch fühlte er sich nach wie vor der deutschen Kultur eng verbunden, so dass er sich zu diesem einschneidenden Schritt nicht durchringen konnte. Wir verließen also CDM und Oranjemund.
Onkel Hermann hatte sich naturalisieren lassen und blieb bei der Mine angestellt. Trotz der nun folgenden unsicheren Zukunft stand für Mutter eines fest und sie sagte zu Vater: „Alles kann ich mir vorstellen, nur nach Deutschland gehen wir nicht!“ Während des Sanatorium-Aufenthaltes in Berlin war ihr nämlich unmissverständlich klar geworden, dass bald Krieg in Europa kommen würde.
Vater kaufte uns in Keetmanshoop ein Auto, einen Nash Lafayette, der uns noch über viele Jahre gute Dienste leisten sollte. Möbel hatten wir keine, da diese ja der Minengesellschaft gehörten. Ohnehin durfte man als Angestellter bei CDM keine eigenen Möbel besitzen, da man ja sonst darin, bei einem Umzug, gut ein paar Steinchen hätte verstecken können.
Zunächst reparierte mein Vater bei einem Herrn Doktor Mehl auf Farm Guinas bei Maltahöhe Motoren und Pumpen. Dann, obwohl wir Deutsche waren und Vater die Landessprache nicht beherrschte, bekam er eine Anstellung als Reparaturschlosser bei der Eisenbahn in Usakos. Usakos lag an der Bahnstrecke Richtung Swakopmund und ich ging dann dort zur Schule. Wir wohnten in einem schönen, großen Steinhaus, welches meine Eltern von einem Herrn Hoffmann mieteten. Herr Hoffmann war der Tischlermeister von Usakos und fertigte uns endlich eigene Möbel an.
Das erste Jahr in Usakos ging schnell vorüber. Mitte 1939, während der Ferien, als wir Onkel Pepi auf Nonidas besuchten, kehrte auch endlich mein Bruder Horst wieder heim und wir holten ihn vom Schiff in Walfischbucht ab. Gerade noch rechtzeitig, denn kurz darauf brach der Zweite Weltkrieg in Europa aus, er hätte eine Rückkehr für ihn unmöglich gemacht. Und Vater musste nun schon wieder kündigen, weil er Reichsdeutscher war.
2. Kapitel
Swakopmund und die Kleinsiedlung
Wir zogen erst mal zu Onkel Pepi nach Nonidas, zehn Kilometer außerhalb von Swakopmund, wo heute die gleichnamige Burg steht.
Vater bekam dann eine Anstellung in Swakopmund bei der Firma Woermann & Brock, die zu der Zeit auch das Elektrizitätswerk betrieb. Sie suchten einen Maschinisten, der die Generatoren zur Stromerzeugung wartete. Dies bedeutete wieder Schichtdienst für Vater. Ich wurde nun nach Swakopmund umgeschult, bekam ein Fahrrad und musste von der Kleinsiedlung zur Schule in die Stadt radeln.
Inzwischen schrieben wir das Jahr 1940, ich war neun Jahre alt geworden und täglich fuhr ich mit meinem Rad zehn Kilometer zur Schule hin und auch wieder zurück. Die Fahrstraße nach Swakopmund war eine gehobelte Schotterpiste. Da sie nicht ganz gerade verlief, fuhr ich mir einen eigenen Radweg ein, um so viele Meter wie möglich abzukürzen. Horst bekam eine Klempner-Lehrstelle bei Franz Boost in Swakopmund. Zunächst fuhr auch er noch mit dem Fahrrad, bis er ein Zimmer in der Stadt mieten konnte. Vater kaufte sich ein Miele-Motorrad, um zur Arbeit zu fahren. Seine Schichteinteilung war von morgens um sieben bis um drei Uhr nachmittags, von drei Uhr nachmittags bis um elf Uhr am Abend oder von elf Uhr abends bis um sieben Uhr morgens.
Nachdem wir etwa ein halbes Jahr auf Nonidas gewohnt hatten, wurde westlich davon eine Kleinsiedlung privat zum Kauf angeboten. Es war eine ehemalige Hühnerfarm, die Eier produziert hatte. Der Betrieb war inzwischen stillgelegt worden und so stand dort nur ein kleines Wohnhaus mit nichts weiter, kein Wasser, keine Einzäunung. Die Siedlung war offiziell auf den Namen „Farm Eier“ eingetragen, was natürlich etwas albern klang und als Vater sie dann kaufte, benannte er sie gleich in „Swakopaue“ um, weil das Ufer des Swakop Riviers dort ganz üppig bewachsen war mit Eukalyptusbäumen und Tamarisken-Hainen. Wir hatten zum ersten Mal einen eigenen Besitz in Südwestafrika und zogen ganz stolz in das alte Haus ein.
Zu meiner Freude waren es jetzt „nur“ noch neun Kilometer zur Schule. Was ich nicht ahnen konnte, war, dass Vater mich, neben den täglichen Hausaufgaben und erst recht in den Ferien, auch für den Aufbau der neuen Kleinsiedlung eingeplant hatte.
Zu Anfang der Ferien montierte er immer das hintere Teil unseres Nash Lavayette ab und nietete das Rückfenster und das Dachteil hinter den Vordersitzen fest, so dass wir dann einen sogenannten Bakkie (Pick-up) mit Ladefläche hatten. Seitlich wurden noch Holzplanken zum Runterklappen angebracht. Wir waren ganz stolz auf unser Patent.
Damals war das stehende Wasser im Swakop noch trinkbar und es befand sich ein großer offener Teich in der Mitte des Riviers, wo wir zunächst Wasser schöpfen konnten. Auch unsere Gänse flogen täglich zum Teich zum Baden und dann wieder zurück in den Stall.
Fünfzig Meter vom Ufer entfernt bauten wir dann zuerst einen Brunnen, von dem aus das Wasser angetragen wurde. Ich bekam ein Joch mit Eimern auf jeder Seite über die Schulter und musste nachmittags jeweils fünf Mal Wasser holen und den Haustank auffüllen. Zugegebenermaßen stank mir diese Arbeit manchmal sehr, was ich auch öfter kundtat, aber jeder hatte seine Aufgabe, die es zu erfüllen galt. Vormittags, wenn ich in der Schule war und Vater bei der Arbeit, trug Mutter oft das Wasser. Sie versuchte, mich zu entlasten und füllte so manches Mal den Tank für mich. Ich schämte mich dann, wenn der Tank mittags bereits voll war. Es ist mir bis heute ein Rätsel, wie sie so viel laufen konnte. Ihre Eimer waren dazu auch noch größer und entsprechend schwerer. In den Ferien machte ich es wieder gut und sorgte dafür, dass der Tank immer voll war.
Vater besorgte eine Flügel-Handpumpe. Auf der Müllkippe holten wir Fünfundzwanzig-Millimeter-Stahlrohre, die die Hansa-Brauerei ausrangiert hatte. Wir bogen die Rohre gerade und so wurde endlich eine Wasserleitung gelegt. Man musste also fortan nur noch zum Brunnen gehen und pumpen. Die lästige Tragerei hatte zum Glück ein Ende. Vater stellte noch einen kleinen Windmotor über der Pumpe auf. Wenn der Wind blies, lief der Tank sogar über. Mutter legte nun einen Garten an und pflanzte Gemüse für den Hausgebrauch.
Mein Schulfreund Kurt war in Otavi zu Hause, im Nordosten des Landes. Seine Eltern hatten dort eine Farm. Kurt war in Swakopmund im Schülerheim, aber auch in den zehntägigen Ferien konnte er aufgrund der Entfernung nicht nach Hause. Er wohnte dann immer, bis zum Ende der Ferienzeit, bei uns. Schnell erledigten wir unsere tägliche Ferienarbeit auf der Kleinsiedlung und dann stromerten wir in der Gegend herum, vor allem gingen wir Onkel Pepi auf die Nerven.
1941, inzwischen herrschte seit fast zwei Jahren Krieg auf der Welt, kam plötzlich die britisch-südafrikanische Polizei und verhaftete Onkel Pepi. Sie nahmen ihn gleich mit, um ihn zu internieren. Später hörten wir dann, dass Pepi und einige seiner Freunde unvorsichtigerweise bei einer Feierlichkeit in Swakopmund nationalsozialistische Lieder gesungen hatten. Er kam, wie viele andere Deutsche aus Südwest, in das Internierungslager Andalusia in Südafrika und wir sahen ihn erst viele Jahre später wieder. Welch ein Schock das für mich und alle anderen aus dem Umfeld war! Sein Vater musste wieder selbst die Milchwirtschaft übernehmen. In dieser Zeit hielten sich meine Eltern auch mit Bekanntschaften in der Nachbarschaft sehr zurück. Es gab damals nur wenige Siedler am Rivier und man musste wirklich sehr vorsichtig sein, was man sagte, um nicht irgendwie angeschwärzt zu werden. Die Zeiten waren schlecht und zwischen den Kleinbauern herrschte große Konkurrenz. So manch einer gönnte dem anderen nicht die Butter auf dem Brot.
Nur ein Nachbar aus der Umgebung östlich von uns kam oft vorbei. Gustav war jedoch bei der „Home Guard“ und man hatte uns ohnehin gewarnt, dass er immer auf seinen Vorteil bedacht war und außerdem eine sehr eigene Rechtsauffassung besaß. Also mussten wir auch ihm gegenüber vorsichtig sein. Später haben wir ihn dann noch viel besser kennengelernt und es hat sich bestätigt, dass „Onkel“ Gustav es nicht immer so genau nahm mit dem Recht und der Wahrheit.
Er baute größere Mengen Gemüse an und schickte diese unter anderem auch nach Oranjemund, per Zugwaggon. Beim Transport ihrer Erzeugnisse von den beiden Eisenbahnstationen Nonidas und Rössing aus mussten die Siedler dann doch zusammenarbeiten, um die hohen Frachtkosten zu teilen.
Ich machte Bekanntschaft mit einem jungen Mann namens Billy King. Er war Mechaniker bei der Eisenbahn und pumpte das Wasser per Zentrifugalpumpe mit einem Petter-Motor nach Nonidas, wo es dann in großen Tanks gechlort und in die Dampflokomotiven gefüllt wurde. Billy war ein Engländer, wie er im Buche stand und sprach auch ausschließlich Englisch. Außerdem war er Junggeselle und fast zwanzig Jahre älter als ich, aber wir wurden die besten Freunde oder „Pellies“, wie man in Südwest sagt.
Herr Schieri-Lartz, Pepis Vater, verkaufte meinen Eltern zwei Kühe, Auguste und Louise. So hatten wir nun auch immer eigene Milch, Quark und Butter. Auch Vaters Qualifikationen als Schlosser hatten sich rumgesprochen und nach und nach fingen die Siedler an, ihre kaputten Motoren und Geräte zu ihm zu bringen, damit er diese nach Feierabend reparierte. Bezahlt wurde meist mit Gemüse, Eiern oder anderen nützlichen Dingen.
Ich bekam auch ein neues Fahrrad, ein Phillips, und Vater erwartete, dass dieses bis zum Ende der Schulzeit hielt. Wenn etwas kaputt ging, was aufgrund der strapaziösen Fahrten, die ich machen musste, nicht gerade selten vorkam, musste ich auf irgendeine Art einen Plan machen. Es war sehr schwierig, während des Krieges Ersatzteile zu bekommen. Wann immer ich einen neuen Mantel, Schlauch oder eine Kette für mein Fahrrad brauchte, half mir Herbert, ein Damara, der bei der Woermann & Brock-Handelskette Transportfahrer war. Er war berufsbedingt im ganzen Land unterwegs und konnte mir meistens das Nötigste besorgen. Da Südwest ja unter südafrikanischer Verwaltung stand, Südafrika wiederum britisch war, hatten wir natürlich auch deren Währung. Ich bezahlte Herbert also zehn Schilling für ein Ersatzteil und ein Pfund Kommission ging dann jeweils in seine Tasche. Wie und woher die Teile kamen, wurde lieber nicht gefragt. Auch Benzin war inzwischen rationiert und gab es nur noch über zugeteilte Coupons. Vater war froh, dass er das sparsame Miele-Motorrad hatte. Mit den Benzincoupons und auch mit Öl wurden in der Zeit die schönsten Tauschgeschäfte gemacht.
Im Oktober und November 1941, immer wenn ich von der Schule kam, konnte ich beobachten, wie sich prächtige Kumuluswolken im Inland aufbauten. Riesige Wolkentürme, die sich scharf vom blauen Wüstenhimmel abgrenzten, sah man am fernen Horizont. Dann, Anfang Dezember, kam eines Tages das Swakop Rivier ab. So heisst es, wenn sich die Trockenflüsse mit Wasser füllen, meist in Form von reissenden Fluten. Dass der Fluss wirklich vorstieß bis ins Meer, war ein sehr seltenes Schauspiel und höchstens alle paar Jahre oder sogar Jahrzehnte mal zu beobachten. Meistens war das Spektakel dann auch nach wenigen Tagen wieder vorbei. Das Flussbett des Swakop ist in der Nähe der Mündung sehr breit und das Wasser lief zuerst auf der gegenüberliegenden Seite der Kleinsiedlungen. Wir dachten, dass es eigentlich nichts zu befürchten gab, vor allem was unseren Brunnen, der viel tiefer als das Haus lag, betraf. In diesem Jahr jedoch führte der Fluss schon einige Wochen Wasser und der Pegel stieg langsam höher und höher. Der Strom wurde immer breiter und dann waren es nur noch wenige Meter bis zum Brunnen. Den Windmotor bauten Vater und ich vorsorglich ab und so wurde in den nächsten Wochen wieder mit der Hand gepumpt, Mutter vormittags und ich nachmittags, und auch Vater – je nachdem, wie er Schicht hatte.
Wir hielten den Haustank immer ganz voll und stellten weitere Fässer auf, die wir ebenfalls immer füllten, für den Fall, dass wir auch die Pumpe noch abbauen mussten.
Dann, am ersten März 1942, Vater hatte Nachtschicht gehabt und schlief, sah ich wieder, während ich von der Schule kam, ganz dicke, bedrohliche Wolkenberge am Horizont. Die Strömung hatte allerdings etwas nachgelassen. Ich ging zur Pumpe, pumpte alles voll und hörte, wie Mutter mich zum Essen rief. Irgendein Gefühl sagte mir: „Nimm die Pumpe mit!“ So schleppte ich sie mit zum Haus, woraufhin Mutter schimpfte: „Was machst du uns für unnötige Arbeit?“ Ich sagte: „Ach, morgen kann ich sie ja wieder mit runternehmen.“
Dann kam Billy mit dem Motorrad und erzählte aufgeregt, dass das Kahn Rivier sehr hoch bei Usakos stand und auch das Swakop Rivier. Der Kahn mündete in den Swakop. Billy hatte, per Telefon der Nonidas-Station, den Auftrag erhalten, die Pumpe der Bahn im Auge zu behalten. Er war noch keine fünf Minuten weg, Mutter und ich standen noch draußen, da kam eine unglaubliche Flutwelle an. Mutter rannte ins Haus, um Vater zu wecken. Ich erschrak ganz fürchterlich, aber der etwas höhergelegte große Garten von Mutter rettete uns. Durch ihn wurde ein Teil der Woge umgeleitet und diese spülte einen Hohlraum davor aus. Ein Teil des Wassers wurde so zurück zur Riviermitte geleitet. Überall um uns war Wasser, Vater wollte das Auto rausfahren – musste zu allem Übel aber erst noch einen Reifen wechseln. Er stand dabei schon bis über die Knöchel im Wasser, schaffte es aber in letzter Minute, das Auto rauszuholen und auf einen nahen Hügel zu fahren. Wir konnten nichts weiter unternehmen, alles, auch unser Haus, stand im Nu unter Wasser. Das Swakop Rivier war weit über die Ufer getreten. Nach nur zwanzig Minuten war der Höchststand erreicht und der Pegel senkte sich wieder.
Später hörten wir, dass zwei Dämme am Oberlauf des Swakop gebrochen waren, daher die große Flutwelle, die uns überrascht hatte. So gegen halb sieben kam mein Bruder mit ein paar Freunden aus Swakopmund angefahren. Wir räumten das Haus fast leer und stellten alles zum Trocknen in die Fläche. Es wurde bereits dunkel, als alles leergeräumt war. Aber nun wurde die Strömung des Swakop wieder stärker, das Rivier fing an, am Ufer zu sägen. Viel Sand wurde weggeschwemmt und wir befürchteten das Schlimmste. Vorsorglich kampierten wir bei unseren Möbeln in einiger Entfernung. Um halb eins in der Nacht war dann das Haus an der Reihe. Das Rivier nahm die Küche, das Wohnzimmer und ein Schlafzimmer mit. Ich werde niemals den nächsten Morgen vergessen, als wir vor einem halben Haus standen. Das Wasser war jedoch dort, wo sich die Reste des Gebäudes befanden, nicht mehr ganz so reißend. Mehr konnte nicht weggespült werden, da sich unterhalb der verbliebenen Mauern Granitklippen befanden.
An dem Tag ging ich natürlich nicht zur Schule und auch mein Freund Kurt sagte zum Klassenlehrer: „Entschuldigen Sie mich, aber ich muss weg, ich muss Bruno helfen.“ Er lieh sich ein Fahrrad und kam um neun Uhr bei uns an. Das, was übrig geblieben war von unserem Haus, wurde saubergemacht. Wir putzten also die Garage und die drei restlichen Zimmer. Komischerweise stand dort, wo mal die Küche gewesen war, noch der Sendling-Holzofen auf drei Beinen. Er wurde zurechtgeschoben und so konnten wir wenigstens kochen.
Billy kam vorbei und bot uns an, erst mal das Eisenbahnhaus zu nutzen. Aber Vater lehnte dankend ab, weil wir ja noch ausreichend Platz übrighatten. Die Garage wurde als Allgemeinzimmer eingerichtet und diente als Küche, Wohn- und Abstellraum und die Eltern und ich hatten noch ein Schlafzimmer. Kurt blieb über Nacht und am nächsten Morgen mussten wir zur Schule. Damals hatten wir auch samstags Schule bis um zwölf Uhr. Wir schwänzten allerdings und ließen den Lehrer glauben, dass wir noch helfen mussten.
Was wir noch besaßen, wurde nach und nach wieder eingeräumt. Vieles war jedoch der Flut zum Opfer gefallen, der Garten und alle Gartengeräte waren weg, Amboss und Schraubstock, Eimer, Wassertank und sogar die Wasserleitung, alles war weg. Später fanden wir lediglich noch eine Harke und einen Spaten. Billy sagte, wir sollten bei ihm auf der Station mal schauen kommen, wie schief der Wasserturm seiner Pumpanlage stand. Die Flut hatte alles auf einer Seite ausgewaschen und nun sackte der Turm stark ab. In ihm befanden sich der Putter-Motor und die Stufenpumpe, zum Glück unversehrt. Herr Utech, der Eisenbahnmechaniker, kam und setzte die Maschinen mit Baken und Eisenbahnschienen gerade, so dass wenigstens Wasser nach Nonidas-Station gepumpt werden konnte. Bis heute steht der schiefe Turm noch an derselben Stelle.
Kühe, Gänse und Hühner hatten wir, im Gegensatz zu anderen Siedlern zum Glück nicht verloren – es gab aber kein Futter mehr im Rivier und so musste Vater für viel Geld trockene Luzerne bei Woermann & Brock kaufen. Der Swakop floss noch bis Ende April, die letzten zwei Wochen weniger, so dass man vorsichtig darin waten konnte. Man musste nur aufpassen, dass man im schwammigen Sand nicht wegsackte. Viele Kühe und Schweine von Onkel Gustav mussten ausgebuddelt und rausgezogen werden. Einige der Tiere verreckten auch. In der Mitte vom Rivier war eine schmale Insel übrig geblieben. Da entdeckte ich noch viel Schilf, was ich zu meinem eigenen Leid Vater berichtete. Es wurde sofort eine Sichel gekauft und Bruno musste fortan nachmittags Schilf schneiden und nach Hause bringen, da die Kühe zu ihrer eigenen Sicherheit im Stall bleiben mussten. Vater sagte: „Da du ja jetzt nicht mehr pumpen musst, kannst du auch Schilf holen.“ Nun ja, die Kühe waren dankbar, nur ich nicht so sehr.
Unterhalb unserer Wohn-Ruine wurde ein Fass als Brunnen eingebuddelt, die Pumpe aufgestellt und das Wasser unter das verbliebene halbe Dach der nicht mehr existierenden Küche gepumpt. So ging dann alles wieder langsam seinen Gang, Vater musste wieder ins E-Werk, ich zur Schule und Mutter legte einen neuen, allerdings viel kleineren Garten an.
Eines Tages, Anfang 1943, erzählte uns Billy, dass zwischen Schieri/Nonidas und Onkel Gustavs Grundstück Land von der Stadtverwaltung angeboten wurde, welches keiner bewirtschaftete. Mein Vater und ich kannten das Gelände und gingen daraufhin zum Magistrat, um einen Kaufantrag zu stellen. Der Magistrat füllte mit uns alle Formulare aus und schickte den Antrag nach Windhoek zum Tintenpalast, dem Sitz des Parlaments. Die Magistrats-Sekretärin war sehr freundlich und uns Deutschen gut gesinnt. Sie fragte immer wieder nach bei der Obrigkeit und legte ein gutes Wort ein. Die Antwort lautete dann aber doch: Da wir Reichsdeutsche waren, hatten wir nicht das Recht, Land zu erwerben. Man bot uns jedoch an, das Stück über einen Zeitraum von zwanzig Jahren zu pachten und zu bewirtschaften. Meine Eltern stimmten sofort zu und beauftragten einen Landvermesser mit der Vermessung. Wir bezahlten fünf Pfund Pacht im Jahr.
Jetzt ging es erneut an die Arbeit, Vater wünschelte nach Wasser und wir stellten einen Arbeiter vom Owambo-Stamm ein. Der musste zunächst ein großes Loch graben. Ich half nachmittags dabei und nach ungefähr drei Metern Tiefe erreichten wir Wasser. Dieses war süß, gut und trinkbar. In den zehntägigen Ferien kam, wie üblich, Kurt mit auf die Kleinsiedlung und wir schufteten nun zusammen an dem neuen Brunnen. Vater besorgte alte Blechplatten, ein Ring wurde gebaut, Zement und zwei Schubkarren gekauft. Als der erste Ring endlich gegossen war, waren die Ferien schon wieder um. So ging es nun nachmittags weiter – Vater, der Owambo und ich. Ringe wurden gegossen, dann wurde wieder geschaufelt und allmählich sackte der Brunnen in die Tiefe. Eine alte Zentrifugalpumpe wurde bei der Salzkompanie von Herrn Klein abgesahnt und ein alter Schlüter-Motor musste dann die Pumpe antreiben.
Mutter benutzte nun meines Bruders Fahrrad, da dieser es nach seinem Umzug nach Swakopmund nicht mehr brauchte. Sie fuhr jeden Tag von unserer alten Siedlung zur neuen, um Zementsteine zu gießen. Vater hatte dafür eine Form gebaut, so dass man jeweils drei Steine am Stück formen konnte. Mit diesen Steinen sollte ein neues Haus gebaut werden.
Wie schon erwähnt, wurde Benzin durch die Vergabe von Coupons rationiert. Wir bekamen pro Monat zehn Gallonen Benzin für das Auto und drei für das Motorrad. Da dies sehr wenig war, wurde viel mit Benzincoupons geschmuggelt und gehandelt. Onkel Gustav war hier ganz in seinem Metier. Er hatte sich den Transportauftrag ergattert, Diesel für den Pumpmotor von Nonidas-Station zur Pumpe zu fahren. Für die Fahrten bekam er Diesel-Coupons, nur dass er gar kein Fahrzeug hatte, stattdessen transportierte er die Dieselfässer mit dem Eselskarren. So hatte er die begehrten Coupons zum Handeln zur Verfügung, wovon auch wir profitierten. Und auch die Füllmenge der Dieselfässer, die Onkel Gustav bei der Pumpe ablud, entsprach selten der ursprünglich geladenen Menge. Unterwegs gab es immer Schwund.
Vater kaufte für fünf Pfund einen Eineinhalbtonner-Pick-up der Marke Whippet bei Herrn Wenk, der Maurerarbeiten in Swakopmund verrichtete und einen größeren Laster brauchte. Mit diesem Whippet lernte ich schon mit elf Jahren Auto fahren. Das viele Holz, welches der Swakop vom Inland hergespült hatte, fuhr ich damit zur Siedlung. Wir benutzten das Holz zum Anfeuern des Küchenherdes und zum Bau der Einzäunung der neuen Siedlung.
Mit Mutters Zementsteinen wurden drei Zimmer gebaut, gleich neben dem Brunnen. Später wurde vergrößert und ein Badezimmer angebaut. Ende 1943 konnten wir dann endlich in das neue Haus umziehen. Onkel Gustav, der jetzt unser direkter Nachbar war, kam nun noch öfter zu Besuch, wobei wir beim Abschied immer darauf achteten, dass er nichts mitgehen ließ, da er sich ganz gerne Dinge aneignete, die er selbst gut gebrauchen konnte.
Zu meinem Leidwesen war mein Schulweg jetzt wieder zwei Kilometer weiter. Um sechs Uhr dreißig fuhr ich morgens mit dem Rad los. Meistens war dicker Nebel und so kam ich dann pitschnass in Swakopmund an. Wenn der Ostwind allerdings von hinten blies, raste ich mit dem Wind im schnellen Tempo zur Stadt, aber wehe, wenn er mittags immer noch wehte. Dann musste ich das Fahrrad im Gegenwind schieben und kam halb verdurstet erst um drei oder halb vier zu Hause an.
Die Schule selbst war eigentlich recht vergnüglich. Kurt und ich heckten oft Streiche aus. Einmal fing ich auf dem Schulweg eine große Maus ein, die ich in meine Frühstücksbox sperrte. In der Schule angekommen dachten sich Kurt und ich sofort einen Plan aus. Als dann Fräulein Storm die Lehrstunde führte, ging ich zur Tafel und putzte diese, in meiner Tasche befand sich die Maus. Kurt ging zur Ablenkung mit einem Buch zum Lehrerpult und fragte Fräulein Storm etwas. Ihre Handtasche stand zwischen Pult und Tafel auf dem Boden und schnell landete die Maus darin. Die ganze Klasse wartete nun gespannt auf die weiteren Geschehnisse, aber leider passierte gar nichts. Fräulein Storm nahm nach der Unterrichtsstunde ihre Bücher in den Arm, schloss ihre Handtasche und verließ den Klassenraum. Sie unterrichtete die nächste Stunde nun im Nachbarzimmer. Es verging eine ganze Weile, wir waren bereits in den nächsten Lehrstoff vertieft, da gab es plötzlich einen lauten Schrei nebenan, gefolgt von Gepolter und aufgeregten Rufen. Fräulein Storm hatte ein Taschentuch aus der Handtasche nehmen wollen, als die Maus heraussprang und durch das ganze Klassenzimmer rannte. So war es uns gelungen, nicht nur eine Lehrerin, sondern gleich ein ganzes Klassenzimmer zu erschrecken. Natürlich kam heraus, wer dahintersteckte und ich bekam mal wieder eine Verwarnung.